Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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Abgesehen von Parallelen zur Lehre der Mnemotechnik scheint Plinius, wie Chinn (2007) gezeigt hat, mit seinem Text nicht nur ein Beispiel für die antike Kunst literarischer Ekphrasis zu liefern, sondern auch auf theoretische Ausführungen zu dieser Tradition anzuspielen, insbesondere auf Quintilians Kapitel über die rhetorische Technik der sub oculos subiectio sowie der evidentia.42 Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 weist somit einiges an Selbst-Referentialität auf, und oft scheinen die Grenzen zwischen beschreibendem Text und beschriebenem Objekt zu verschwimmen: Einerseits spiegelt der Text durch seinen Umfang die Größe der Villa wider (44) und zieht im Kontext des Briefbuchs selbst als Objekt von ungewöhnlicher räumlicher Ausdehnung die Aufmerksamkeit auf sich. Andererseits kann auch die Villa wie ein Text „gelesen“ werden, etwa wenn Plinius von den Buchsbäumen in seinem Garten berichtet, deren kunstvolles Arrangement die Namen des Besitzers und des Künstlers angeben (35): buxus…in formas mille discripta, litteras interdum, quae modo nomen domini dicunt, modo artificis.43 Für den Entwurf der Anlage und des Gartens hat Plinius offensichtlich einen artifex beauftragt, dessen Namen dann durch die Bepflanzung verewigt wurde, ähnlich einer Künstler-Signatur, wie man sie etwa in der antiken Vasenmalerei und Plastik findet.44 Als Schöpfer der literarischen Villa im Brief darf allerdings Plinius selbst gelten, der hier als dominus und artifex in Personalunion auftritt45 und uns mit dem Hinweis auf den der Villa eingeschriebenen Namen eine Art Binnensphragis liefert, die sich in jenem Buch findet, das die Mitte des Briefkorpus bildet.46

QuintilianQuintilianInst. 8.3.62 thematisiert in seinen Ausführungen zu Ekphrasis und evidentia wiederholt den Unterschied zwischen Sprechen und Hören bzw. Zeigen und Sehen, wenn es um die lebhafte Schilderung von Sachverhalten und ihre Rezeption geht.47 Eine Narration, die bloß usque ad aures vordringt (Inst. 8,3,62), hat nicht dieselbe persuasive Kraft wie wenn die Dinge dem Zuhörer gleichsam vor Augen gestellt werden. Es fällt auf, dass auch Plinius in seinem Brief 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 den Leser mit zwei verschiedenen Modi der Narration konfrontiert: Vor der eigentlichen descriptio und den darauf folgenden Reflexionen (41‒44) erzählt er von den fabulae veteres und sermones maiorum, denen man in der Region zuhören könne (5: audias fabulas veteres sermonesque maiorum), und macht den Leser so indirekt auf den Unterschied zwischen akustischer und visueller Wahrnehmung aufmerksam. Dies lässt sich auch, wie in einem anderen Kapitel noch ausführlicher gezeigt wird, in Epist. 8,20Plinius der JüngereEpist. 8.20 beobachten, wo Plinius vor der Ekphrasis des Vadimoner Sees die unglaublichen Geschichten erwähnt, die man ihm über das Gewässer erzählt habe (8,20,3: simul quaedam incredibilia narrantur).48

Nach der Schilderung des Klimas in Etrurien (4‒6) beginnt Plinius seine Ekphrasis mit einer Beschreibung der Landschaft (7: regionis forma pulcherrima), die einem riesigen Amphitheater gleiche, wie es nur die Natur erschaffen könne (7: imaginare amphitheatrum aliquod immensum et quale sola rerum natura possit effingere). Man mag hier politische Untertöne mithören, steht doch das natürliche Amphitheater in auffälligem Kontrast zu dem von den Flaviern errichteten Gegenstück, das insbesondere von Martial zu Beginn des Liber spectaculorum gepriesen wird (Sp. 1,7‒8MartialSp. 1.7‒8: omnis Caesareo cedit labor Amphitheatro / unum pro cunctis fama loquetur opus).49 In der Raumkonstruktion der Briefe wird dieses künstliche Weltwunder in Rom ersetzt durch eine beeindruckende Naturkulisse außerhalb der Hauptstadt. Von Anfang an bezieht Plinius seinen Adressaten mit ein bei der Visualisierung von Landschaft und Villa, indem er ihn zunächst einlädt, die alten Leute vor dem geistigen Auge zu betrachten (6: videas), ihren Erzählungen zu lauschen (6: audias) und sich das natürliche Amphitheater vorzustellen (7: imaginare). Den Blick auf die Landschaft, in der sich die Villa befindet, lenkt Plinius von oben nach unten, indem er bei den Berggipfeln und ihren Wäldern beginnt und sich dann nach unten über Weinberge, Wiesen und Bäche zum Tiber vorarbeitet, der durch die Felder fließt, sie gleichsam durchschneidet (7‒12). Die Aussicht auf die Landschaft von oben vergleicht der Epistolograph mit dem Blick auf ein Gemälde (13: formam aliquam ad eximiam pulchritudinem pictam videberis cernere)50 und steuert damit zugleich die Lektüre seines Briefes, indem er ihn indirekt als Ekphrasis charakterisiert. Plinius thematisiert in diesem Zusammenhang auch das ästhetische Vergnügen seines Adressaten beim Anblick der Naturkulisse (13: magnam capies voluptatem, si…prospexeris;…tibi…videberis cernere) und weist auf den Abwechslungsreichtum (varietas) und die Gliederung (descriptio) hin, durch die die Augen des Betrachters erfreut werden (13). Die Schönheit dieser gleichsam gemalten Landschaft wird dabei mit Begriffen ausgedrückt, die sich in anderem Zusammenhang auf die Qualität eines literarischen Werks beziehen: So findet sich descriptio als Terminus technicus für eine EkphrasisPlinius der JüngereEpist. 5.6 etwa bei QuintilianQuintilianInst. 9.2.44 (Inst. 9,2,44), und auch Plinius wendet ihn in zwei weiteren Briefen in diesem Sinne an: In Epist. 2,5,5Plinius der JüngereEpist. 2.5.5 geht es um Ortsbeschreibungen (descriptiones locorum) in einer Rede im Stile von Historikern und Dichtern, und Epist. 7,9,8Plinius der JüngereEpist. 7.9.8 handelt ebenfalls vom Einfügen solcher descriptiones in eine Rede.51 Auch den Begriff der varietas verwendet Plinius in stilkritischem Zusammenhang, etwa in Epist. 2,5Plinius der JüngereEpist. 2.5.7 über die Mannigfaltigkeit einer Rede (7: ita videmur posse confidere, ut universitatem omnibus varietas ipsa commendet) oder in Epist. 4,14Plinius der JüngereEpist. 4.14.3 über abwechslungsreiche Poesie (3: ipsa varietate temptamus efficere, ut alia aliis quaedam fortasse omnibus placeant); zudem ist varietas das die Briefbücher prägende Prinzip der Anordnung von Einzeltexten.52

Nach der Schilderung der Landschaft (4‒13) fokussiert Plinius den Blick auf die nähere Umgebung der Villa bzw. ihre Lage am Fuße eines Hügels mit dem Apennin im Rücken und der Ausrichtung einer langen Portikus nach Süden (14‒15). Bevor Plinius näher auf die Innenräume seiner Villa eingeht – er erwähnt kurz das traditionelle Atrium in der Portikus (15: ex more veterum) –, beschreibt er die vor der Säulenhalle liegende Terrasse (16: xystus) und angrenzende Spazierwege (17: ambulatio…gestatio) mit kunstvollen Bepflanzungen sowie Wiesen und Felder (18) und betont das Wechselspiel zwischen Natur und Kunst in diesem Arrangement (18: non minus natura quam…arte visendum). Sodann wird der Blick auf das Innere der VillaPlinius der JüngereEpist. 5.6 gelenkt, wenn die descriptio der Portikus und ihrer Räume erfolgt (19‒24), zu denen mehrere triclinia, diaetae und cubicula gehören sowie ein Innenhof (areola). Detailliert schildert Plinius die Aussicht aus den einzelnen Zimmern, die mal auf die Landschaft, dann wieder auf architektonische Elemente der Villa gerichtet ist.53 Lefèvre (1977) erkennt in diesen Durch- und Fernblicken Parallelen zur römischen Wandmalerei, wo ebenfalls Perspektiven auf Architektur und Natur konstruiert werden. Im Rahmen seiner Ekphrasis spricht der Epistolograph alle Sinne an, indem er nicht nur das geistige Auge bedient, sondern auch die Wärme bzw. Kühle der Räume imaginiert (20: leni adspergine fovet; 21: diem…excludit; 22: umbrosum; 24: cubiculum…hieme tepidissimum) und akustische Elemente einbaut (21: clamorem, sonum; 23: iucundissimum murmur…strepitu iucundam). Nur einmal werden uns Informationen zur Innenausstattung eines Zimmers geliefert, wenn Plinius ein mit Marmor ausgekleidetes cubiculum beschreibt (22: marmore excultum podio tenus), in dem sich ein Gemälde von Vögeln, die auf Zweigen sitzen, befindet (22: ramos insidentesque ramis aves imitata pictura). Es handelt sich hier um die einzigen Lebewesen, die der Epistolograph im Rahmen seiner Villen-Führung erwähnt, wohlgemerkt um eine Nachahmung (imitata) der Natur; dieses Bild korrespondiert mit der am Anfang der Ekphrasis gepriesenen Landschaft, die ihrerseits als die Imitation eines Gemäldes bezeichnet wird (13: formam…pictam).

Nach der Portikus und ihren Räumlichkeiten folgt eine Ekphrasis der angrenzenden Bade-Anlage mit ihrem hypocauston, apodyterium und verschiedenen Wasserbecken sowie einem sphaeristerium (25‒27). Von dieser Badeanlage zweigt dann eine Kryptoportikus mit weiteren Zimmern ab (27‒28), von denen eines die Villa mit dem Hippodrom verbindet (28). Zwei weitere Kryptoportiken (29‒30) sowie eine Portikus (31) vollenden die Beschreibung der Gebäude, auf die Plinius seine Ausführungen zum Hippodrom folgen lässt (32‒40). Eine Besonderheit dieser Anlage sind die oben schon erwähnten „Inschriften“ aus Buchsbaum, die den Namen des Eigentümers und Gartenkünstlers wiedergeben (35). Zudem verdient eine paradoxe Aussage des Plinius über die kunstvolle Gestaltung des Hippodroms und seine Bepflanzung Aufmerksamkeit (35): et in opere urbanissimo subita velut inlati ruris imitatio. Wenngleich sich die Villa auf dem Land befindet, gilt sie Plinius als opus urbanissimum – die Stadt wird sozusagen aufs Land verpflanzt, das Motiv des rus in urbe54 in sein Gegenteil verkehrt. Die Natur wiederum findet sich keineswegs „ungefiltert“ in diese urbane Anlage integriert, sondern nur in Form einer Nachahmung (ruris imitatio). Überdies lässt sich die Junktur opus urbanissimum – ähnlich wie im Fall der oben diskutierten Begriffe descriptio und varietas – nicht nur auf die Villa, sondern auch auf den von Plinius verfassten Text beziehen, dem hier indirekt die rhetorische Qualität der urbanitas attestiert wird.55 Ähnliches gilt für den Begriff der imitatio, mit dem Plinius nicht nur die Nachahmung der Natur in seinem Garten, sondern auch seine epistolare Ekphrasis meinen dürfte, die – einem Gemälde vergleichbar – die Villenanlage nicht mit Farben, sondern Worten nachzeichnet und sich darüber hinaus mit den Ekphraseis kanonischer Autoren misst.56Plinius der JüngereEpist. 5.6

 

Hat uns Plinius in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 geistig nach Etrurien versetzt und durch die Räumlichkeiten seines Anwesens schreiten lassen, führt er uns in Epist. 5,7Plinius der JüngereEpist. 5.7 wieder in seine Heimat Comum, allerdings in einer weitaus weniger anschaulichen Weise als im Brief zuvor. Epist. 5,7 diskutiert die Frage, ob eine Gemeinde – in diesem Fall die Heimatstadt des Plinius – als Erbe eingesetzt werden kann, wie es der verstorbene Saturninus in seinem Testament verfügt hat, und ob die Rechtslage oder der Wille des Verstorbenen höher gewichtet werden soll.57 Der Epistolograph bittet seinen Adressaten Calvisius Rufus, das Problem bei der nächsten Versammlung der Dekurionen in Comum zu erörtern (4).58 Während wir in diesem Brief erfahren, dass sich der Adressat in Comum aufhält, bleibt der Aufenthaltsort des Plinius unerwähnt. Epist. 5,7Plinius der JüngereEpist. 5.7 endet mit einer Rechtfertigung, warum Plinius keinen offiziellen Brief an Calvisius in seiner Funktion als Dekurio schreiben wollte, sondern lieber einen inoffiziellen, in dem er seinen Landsmann dazu zu bewegen versucht, seine Argumente vor der Versammlung vorzutragen (6): nam sermonem vultus, gestus, vox ipsa moderatur; epistula omnibus commendationibus destituta malignitati interpretantium exponitur. Neben Comum als gemeinsamer Heimat von Adressant und Adressat thematisiert der Brief das Problem von Nähe und Distanz: Anders als eine mündliche Rede (sermo), die durch Mimik, Gestik und Stimme begleitet werden könne, entbehre ein Brief dieser Mittel und sei der böswilligen Deutung der Leser ausgeliefert.59 Wird ein Brief ansonsten oft als halber Dialog oder Gespräch auf Distanz charakterisiert,60 führt uns Plinius in diesem Fall die Defizite schriftlicher Kommunikation gegenüber mündlicher vor Augen.

Abgesehen von den Strategien der Raumkonstruktion sind die bisher betrachteten Briefe auch insofern bemerkenswert, als sie mehrere literarische Gattungen „durchdeklinieren“: In Epist. 5,2Plinius der JüngereEpist. 5.2 sind es die epistulae steriles, in 5,3Plinius der JüngereEpist. 5.3 die versiculi parum severi, in 5,5Plinius der JüngereEpist. 5.5 die Historiographie bzw. exitus-Literatur, in 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 die Tradition der Ekphrasis und in 5,7 der Unterschied zwischen Brief und Gespräch bzw. Rede. In Epist. 5,8Plinius der JüngereEpist. 5.8 schließlich erklärt Plinius seinem Adressaten Titinius Capito, warum er sich trotz mehrfacher Aufforderung noch nicht bereit fühle, eine Historie zu schreiben, und vergleicht in diesem Zusammenhang die Historiographie mit der Redekunst.61 Anders als Epist. 5,7 gibt Epist. 5,8 überhaupt keine Hinweise darauf, wo sich die Briefpartner während der Korrespondenz gerade befinden. Auch sonst enthält der Brief kaum räumliche Elemente und konzentriert sich eher auf unterschiedliche Aspekte der Zeit, etwa wenn Plinius auf die häufigen Aufforderungen zur Komposition verweist (1: saepe), die Unsterblichkeit sowohl des Verfassers als auch der im Werk dargestellten Personen vor Augen hält (1: aeternitas; 2: diurnitatis amor…posteritatis memoriam; 7: rationem posteritatis; 11: κτῆμα), vom ständigen Nachdenken über literarischen Ruhm spricht (3: diebus ac noctibus), den älteren Plinius als Vorbild auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung anführt (5: avunculus meus…historias…scripsit), auf seine eigenen Anfänge als Redner im Alter von neunzehn Jahren zurückblickt (8: unodevicensimo aetatis anno), über seine gegenwärtige Rolle als Redner reflektiert (8: nunc demum) und schließlich seinen Adressaten bittet, jetzt schon zu überlegen, mit welcher Epoche sich Plinius in einer Historie befassen könnte (12: iam nunc cogita, quae potissimum tempora adgrediar), damit er keine weiteren Gründe zum Zögern finde (14: cunctationis et morae iusta ratio). Während in diesem BriefPlinius der JüngereEpist. 5.8 also verschiedene Facetten der Zeit dominieren, weist lediglich die Junktur in foro (8) auf einen Raum hin, wobei mit dem Begriff forum wohl eher die Tätigkeit als Redner vor Gericht als das Forum als konkreter Ort gemeint sein dürfte.62 Durch Zitate aus VergilVergilAen. 5.195, wie insbesondere die Aposiopese quamquam o (3),63 evoziert Plinius die Schiffsregatta im fünften Aeneis-Buch und assoziiert dadurch literarisches Streben mit einem sportlichen Agon.64 Die Charakterisierung der Gattung Historiographie in Epist. 5,8 dürfte zudem einen Bezug zu Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 enthalten: Plinius zufolge zeichnet sich die Historiographie gegenüber der Dichtung und Redekunst durch Beliebtheit aus, die unabhängig ist von der literarische Qualität des Werks; dies liege daran, dass die Menschen von Natur aus neugierig seien (4): sunt enim homines natura curiosi et quamlibet nuda rerum cognitione capiuntur, ut qui sermunculis etiam fabellisque ducantur. Derartigen sermunculi und fabellae kann man auch in der Gegend um das tuskische Landgut lauschen, wie Plinius seinem Freund Apollinaris schildert (5,6,6Plinius der JüngereEpist. 5.6: fabulas…sermonesque); die in den beiden Briefen thematisierten kunstlosen Formen mündlichen Erzählens stehen in Kontrast zur eloquentia summa von Rede und Gedicht (5,8,4) und zur Ekphrasis in der Tradition Homers, Vergils und Arats, wie sie in Epist. 5,6 geboten wird.

Wenngleich die räumlichen Aspekte, die im Zentrum des vorliegenden Kapitels stehen sollen, in Epist. 5,8 in den Hintergrund treten, ist der Brief aus narratologischer Sicht dennoch aufschlussreich, da er eine Synkrisis der narrativen Techniken in Rede und Historiographie liefert. Der Text sei hier vollständig zitiert (9‒11):

habet quidem oratio et historia multa communia, sed plura diversa in his ipsis, quae communia videntur. narrat illa, narrat haec, sed aliter: huic pleraque humilia et sordida et ex medio petita, illi omnia recondita, splendida, excelsa conveniunt; hanc saepius ossa, musculi, nervi, illam tori quidam et quasi iubae decent; haec vel maxime vi, amaritudine, instantia, illa tractu et suavitate atque etiam dulcedine placet; postremo alia verba, alius sonus, alia constructio. nam plurimum refert, ut Thucydides ait, κτῆμα sit an ἀγώνισμα: quorum alterum oratio, alterum historia est.

Trotz ihrer vielen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich Gerichtsrede und Historiographie im Hinblick auf ihre Erzähltechnik. Über diese Passage hat man in der Forschung viel diskutiert, da nicht ganz klar ist, auf welche der beiden Gattungen die Pronomen haec und illa verweisen. Der Ansatz, haec auf die Rede und illa auf die Historiographie zu beziehen, wurde in jüngerer Zeit von Woodman (2012) mit plausiblen Argumenten gestützt.65 Im Rahmen von drei Kontrastpaaren erläutert Plinius drei Aspekte, in denen sich die beiden Gattungen unterscheiden, wobei es sich hier um die im Fazit (10: postremo) aufgelisteten Kategorien verba, sonus und constructio handeln dürfte. Während sich die Rede durch humilia, sordida und ex medio petita auszeichnet, sind für die HistoriographiePlinius der JüngereEpist. 5.8 recondita, splendita und excelsa angemessen (9) – die hier aufgezählten Adjektive scheinen das jeweilige Vokabular (verba) zu betreffen.66 Beim zweiten Kontrastpaar – ossa, munusculi, nervi auf Seiten der Redekunst, tori und iubae auf Seiten der Historiographie (10) – ist auf den ersten Blick nicht so eindeutig, worin die Antithese besteht, da ja munusculi und tori mehr oder weniger dasselbe bezeichnen. Woodman hat vorgeschlagen, dass hier das Bild zweier Pferdearten im Hintergrund steht, da Pferde oft als Metaphern für Literatur auftreten; im Fall der Rede sei ein „Schlachtpferd“, bei der Historiographie ein „Paradepferd“ imaginiert, und mit diesem Gegensatz werde die Kategorie sonus abgedeckt, da man sich hier die verschiedenen von Pferden verursachten Geräusche im Kampf oder bei einer Parade vorstellen könne.67 Mann muss sich hier m.E. nicht unbedingt zwei Pferdearten vorstellen, sondern kann auch an einen Krieger denken, dessen Körper bzw. Erscheinungsbild in einer Rede mit Begriffen der Alltagssprache, in der Historiographie hingegen mit hochtrabendem Vokabular geschildert wird. Im Hintergrund dürfte eine Passage bei QuintilianQuintilianInst. 10.1.33 stehen, in der Anleihen an der Historiographie in einer Gerichtsrede diskutiert werden (Inst. 10,1,33):

licet tamen nobis in digressionibus uti vel historico nonnunquam nitore, dum in his, de quibus erit quaestio, meminerimus, non athletarum toris, sed militum lacertis opus esse.68

Während der Redner in Digressionen bisweilen vom nitor historicus Gebrauch machen dürfe, sei dies für die eigentliche Argumentation unpassend. Dem historischen Stil entspricht hier das Bild eines muskulösen Athleten (athletarum toris), während Quintilian für den kämpferischen Ton der Rede das Bild der Soldatenarme wählt (militum lacertis). Bei Plinius verkörpert der zähe Soldat (ossa, musculi, nervi) die Gerichtsrede, der Athlet mit ausgeprägten Muskeln (tori)69 oder der Krieger mit dem Helmbusch (iubae)70 hingegen die Geschichtsschreibung.

Als drittes Kontrastpaar stellt Plinius die für die Rede typische vis, amaritudo und instantia den für die HistoriographiePlinius der JüngereEpist. 5.8 angemessenen Elementen tractus, suavitas und dulcedo gegenüber (10), was sich Woodman zufolge auf die constructio, d.h. Wortfolge und Periodenbau, bezieht.71 Es wäre m.E. auch denkbar, das letzte Kontrastpaar mit dem Bereich des sonus in Verbindung zu bringen – der bittere Ton einer Rede stünde dann im Gegensatz zum angenehmen Klang einer Historie72 – und das vorletzte, in dem von Muskeln, Sehnen und Knochen die Rede ist, mit der constructio im Sinne von „Körperbau“ zu assoziieren.73 Mit den aus ThukydidesThukydides1.22.4’ Methodenkapitel entnommenen Begriffen κτῆμα und ἀγώνισμα, die beim griechischen Historiker zwei verschiedene Formen der Geschichtsschreibung (beständiger Nutzen vs. kurzzeitige Unterhaltung) charakterisieren,74 stellt Plinius Historiographie und Gerichtsrede gegenüber und bezieht κτῆμα auf die Geschichtsschreibung und ἀγώνισμα auf die oratio. Wie es scheint, überspitzt Plinius einerseits im Rahmen seiner Antithese bewusst die Merkmale der jeweiligen Gattung und ignoriert die in der antiken Redekunst und Historiographie zu beobachtende stilistische Bandbreite.75 Andererseits ist in diesem Zusammenhang auffällig, wie unklar sich Plinius bei der Gegenüberstellung der beiden Gattungen ausdrückt und wie viel Raum er für unterschiedliche Interpretationen lässt. Man hat bei der Lektüre das Gefühl, dass der Epistolograph die Grenzen zwischen den beiden Genres absichtlich verschwimmen lässt, zumal er ja auch mit seinen Reden etwas Dauerhaftes zu schaffen beabsichtigt, indem er sie überarbeitet und damit von einem ἀγώνισμα in ein κτῆμα zu verwandeln sucht (6: egi magnas et graves causas; has…destino retractare, ne tantus ille labor meus…mecum pariter intercidat). Auch sei auf Epist. 5,5Plinius der JüngereEpist. 5.5 verwiesen, wo Plinius die von Fannius komponierten Bücher über Neros Opfer als inter sermonem historiamque medios charakterisiert (3). Überhaupt stellt sich die Frage, ob Plinius jemals ernsthaft eine Historie schreiben wollte oder nicht vielmehr mit seiner Briefsammlung bereits ein alternatives Projekt liefert.76Plinius der JüngereEpist. 5.8

Mehrere der Aspekte, über die PliniusPlinius der JüngereEpist. 5.8 in Epist. 5,8 theoretisch reflektiert, finden sich in der narrativen Epist. 5,9Plinius der JüngereEpist. 5.9 wieder. Schauplatz der Handlung ist die Basilika Julia in Rom, wohin Plinius gegangen war, um sich die Reden seiner Gegner anzuhören, denen er beim nächsten Gerichtstermin (1: proxima comperendinatione) antworten sollte. Der Brief bildet somit eine kleine „Gerichts-Historie“ und ist zudem, wie in einem anderen Kapitel noch genauer ausgeführt werden soll, Teil eines juristischen „Briefromans“, der sich um den strengen Prätor Licinius Nepos dreht.77 Plinius beschreibt in Epist. 5,9 das Warten der Richter, decemviri und Advokaten in der Basilika Julia, bis ein Bote vom Prätor kommt und verkündet, dass der Prozess aufgeschoben wird (2). Das Motiv des Aufschubs bzw. der Verzögerung verbindet Epist. 5,9 mit 5,8, denn im vorherigen Brief warnt Plinius seinen Adressaten, dass er mit der Komposition einer Historie abermals zögern könnte (5,8,14: cunctationis et morae iusta ratio), und in Epist. 5,9 freut er sich als handelnde Figur über die Vertagung des Prozesses (2: numquam ita paratus…ut non mora laeter). Wie Plinius in Epist. 5,9 weiter berichtet, war ein Edikt des Prätors Nepos Grund für die Verschiebung (3‒5), und in der ganzen Stadt (6: tota civitate) sei daraufhin eifrig über dieses Edikt kontrovers diskutiert worden (6: carpitur, laudatur; 7: tales ubique sermones). Mit diesen sermones, die Plinius teilweise in direkter Rede wiedergibt,78 wird das in den vorhergehenden Briefen variierte Motiv der mündlichen Gespräche (Epist. 5,8,4: sermunculis…fabellisque; 5,7,6: sermonem; 5,6,6: fabulas…sermonesque; 5,5,3: inter sermonem historiamque und 5,3,1: multum copiosumque sermonem) aufgegriffen und weitergeführt.

 

Über das Motiv des Aufschubs wiederum sind Epist. 5,8‒10 miteinander verkettet, denn in 5,10Plinius der JüngereEpist. 5.10 fordert Plinius Sueton dazu auf, endlich seine scripta zu veröffentlichen (2: tu tamen meam quoque cunctationem tarditatemque vicisti).79 Weder der Adressant noch der Adressat werden in diesem Brief räumlich näher verortet, lediglich der Wunsch des Plinius, dass Suetons Schriften verbreitet werden mögen, impliziert eine räumliche Dimension (3: audire describi legi venire volumina). Im Unterschied dazu imaginiert Epist. 5,11Plinius der JüngereEpist. 5.11 wieder einen konkreten Raum, wenn Plinius seinen Schwiegergroßvater Calpurnius Fabatus dafür preist, dass er in Comum (2: patria nostra) in seinem Namen und in dem seines verstorbenen Sohnes eine Säulenhalle eingeweiht und Geld für die Verschönerung der Stadtportale80 versprochen habe (1: te porticum…dedicasse…in portarum ornatum pecuniam promisisse).81 Während der Raum des Adressaten und der Erzählung konkretisiert wird, bleibt der Aufenthaltsort des Briefschreibers unerwähnt. Ziel der Stiftung in Comum ist nicht nur, den Euergetismus des Fabatus öffentlich zur Schau zu stellen – die porticus und portae dienen demnach der Charakterisierung des Stifters – sondern auch das Andenken an den verstorbenen Sohn bzw. Schwiegervater des Plinius zu festigen (2: memoriam soceri mei…proferri). Epist. 5,11 ist sowohl über den Ort Comum als auch das Motiv der liberalitas mit Epist. 5,7 verknüpft, wo Plinius – allerdings eher beiläufig – seine eigene Großzügigkeit gegenüber der Heimat erwähnt, dieses Selbstlob jedoch versteckt, indem er ein juristisches Problem zum zentralen Thema des Briefes macht. So erfahren wir mehr oder weniger nebenher, dass Plinius seiner Heimatstadt bereits 1600000 Sesterze habe zukommen lassen (5,7,3: sestertium sedeciens).82

Anders als Epist. 5,11 ist der folgende Brief 5,12Plinius der JüngereEpist. 5.12 nahezu „raumlos“: Plinius berichtet hier von einer Rezitation, zu der er einige Freunde eingeladen hat – diesmal sind es nicht Gedichte, wie in Epist. 5,3Plinius der JüngereEpist. 5.3, sondern eine nicht näher identifizierte oratiuncula (1).83 Weder erfahren wir, wo sich die beiden Briefpartner gerade befinden, noch, wo diese Rezitation stattgefunden hat – möglicherweise soll man sich wie in Epist. 5,3,11 das private cubiculum als Schauplatz vorstellen. Im Gegensatz zu Epist. 5,12 ist die Handlung des nächsten BriefesPlinius der JüngereEpist. 5.13 wieder eindeutig im römischen Senat (2: in senatu) verortet, wenn Plinius eine Fortsetzung von Epist. 5,4Plinius der JüngereEpist. 5.4 liefert und vom Fall der Vicetiner und ihrem Anwalt Nominatus erzählt.84 Nominatus, der von seinen Klienten Geld für den Rechtsbeistand angenommen, sie dann aber im Stich gelassen hatte, wurde auf Befehl des Prätors Nepos in den Senat geführt (1: inductus) und hielt dort eine Verteidigungsrede, in der er sein Verhalten rechtfertigte – insbesondere die sermones amicorum hätten ihn davor abgeschreckt, weiter gegen einen Senator vorzugehen, dem es nicht nur um die Abhaltung eines Wochenmarktes in Vicetia, sondern um Einfluss, Ruf und Ansehen ging (2). Wie auch aus dieser Stelle deutlich wird, bietet Buch 5 eine Palette an sermones unterschiedlicher Ausprägung (Gespräche, Erzählungen, Reden, Gerede), die verschiedene Reaktionen nach sich ziehen. Ähnlich einer Bühnenfigur verließ Nominatus nach seiner Rede den Saal unter mäßigem Beifall und weiteren Bitten und Tränen (3: erat sane prius, a paucis tamen, acclamatum exeunti. subiunxit preces multumque lacrimarum), woraufhin es im Senat zur Abstimmung und zum Freispruch kam (4‒7).

Nachdem in Epist. 5,13 Rom als Ort des Erzählers und der Erzählung im Zentrum stand, führt uns Epist. 5,14Plinius der JüngereEpist. 5.14 wieder nach Comum, wo sich Plinius für einen kurzen Urlaub im secessus befindet (1: secesseram in municipium; 9: includor angustiis commeatus) und von der Ernennung des Cornutus Tertullus zum curator Aemiliae viae erfahren hat.85 Den Hauptteil des Briefes bildet ein Lob auf Tertullus, mit dem Plinius eine lange Freundschaft verbindet (2‒6). Der Epistolograph ruft sich nach dieser laudatio selbst zur Ordnung, um seinen Brief nicht übermäßig auszudehnen (7: in infinitum epistulam extendam, si gaudio meo indulgeam), und kommt wieder auf die Einleitung zurück, indem er die Situation näher schildert, in der er von Tertullus’ Beförderung erfahren hat: In Begleitung seines Schwiegergroßvaters, der Tante seiner Frau und einigen Freunden habe er sich der Inspektion der Ländereien gewidmet (8: circumibam agellos), sich die Klagen der Bauern angehört, Rechnungen durchgesehen und schon seine Rückreise vorbereitet (8: coeperam etiam itineri me praeparare). Am Ende des Briefs erfahren wir, dass sich der Adressat Pontius Allifanus86 gerade in Kampanien befindet, wenn sich Plinius wünscht, dass die beiden zur gleichen Zeit in Rom eintreffen mögen (9: cupio te quoque sub idem tempus Campania tua remittat…cum in urbem rediero).

Im Gegensatz zu anderen secessus ist der in Epist. 5,14Plinius der JüngereEpist. 5.14 geschilderte nicht von literarischen Aktivitäten geprägt, sondern der Lektüre von pragmatischen Schriftstücken wie Rechnungsbüchern gewidmet (8: rationes legebam invitus et cursim – aliis enim chartis, aliis sum litteris initiatus). Einen auffälligen Kontrast zu dieser Tätigkeit bildet der Brief 5,15Plinius der JüngereEpist. 5.15, in dem sich Plinius zu seiner aemulatio mit den griechischen Epigrammen des Arrius Antoninus bekennt.87 Seinen Wetteifer mit diesen Gedichten vergleicht Plinius mit dem erfolglosen Versuch eines Malers, ein schönes und perfektes Gesicht angemessen wiederzugeben und verweist so auf die Kunst des Porträtierens (1: ut enim pictores pulchram absolutamque faciem raro nisi in peius effingunt). Da in Buch 5 ansonsten nur in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 die Rede von Malerei ist – dort ahmt die Landschaft ein schönes Gemälde nach (13) und ein Wandgemälde imitiert die Natur (22) –, wird dem Leser nahegelegt, einen Zusammenhang zwischen künstlerischer, ekphrastischer und poetischer imitatio herzustellen. Eine Verbindung besteht auch zu Epist. 5,16Plinius der JüngereEpist. 5.16, wo es um eine andere Form der Nachahmung geht: Plinius betrauert in diesem Brief die mors immatura der Tochter des Minicius Fundanus88 und bedient hier den Topos der Hochzeit, die sich in ein Begräbnis umwandelt.89 Im Rahmen seiner laudatio auf das Mädchen (2‒5) bietet Plinius eine bewegte descriptio des Charakters, in dem sich die Würde einer reifen Frau mit mädchenhafter Anmut vereinigten (3): ut illa patris cervicibus inhaerebat! ut nos amicos paternos amanter et modeste complectebatur!…quam studiose, quam intellegenter lectitabat! ut parce custoditeque ludebat! Es wurde bereits beobachtet, dass diese Schilderung CatullsCatullc. 3 passer-Gedicht c. 3 evoziert, bei dem es sich ebenfalls um eine Art Nachruf handelt.90 Der Tod ereilte die Tochter des Fundanus offenbar im Haus ihres Vaters, wo sie bis zuletzt tapfer gegen eine Krankheit ankämpfte, den Anweisungen der Ärzte folgte und sogar noch den Vater und die Schwester ermutigte (3‒5). Am Ende des Briefes bemerkt Plinius, dass das Mädchen seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war (9): non minus mores eius quam os vultumque referebat totumque patrem mira similitudine exscripserat. Während ein Künstler beim Abzeichnen oder Abmalen eines Gesichts die angestrebte Ähnlichkeit oft nicht zustande bringt, wird mira similitudo durch natürliche Reproduktion und moralisches Bemühen geschaffen.91