Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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Plinius’ Freunde und Mentoren, von denen einige als Heroen der stoischen Opposition gegen Domitian dargestellt werden, äußern sich ebenfalls in direkter Rede, etwa wenn Corellius Rufus in Epist. 1,12Plinius der JüngereEpist. 1.12 das lange Erdulden seiner Krankheit kommentiert mit den Worten cur…me putas hos tantos dolores tam diu sustinere? ut scilicet isti latroni vel uno die supersim (8) und dann seinen Selbstmord mit dem Ausspruch κέκρικα besiegelt.35 Auch der von Domitian verbannte Iunius Mauricus wird u.a. durch direkte Rede charakterisiert, wenn er sich in Epist. 4,22Plinius der JüngereEpist. 4.22 gegen Sportwettkämpfe in Vienne und Rom (3) oder Domitians gefürchteten Denunzianten Catullus Messalinus äußert (6).36 Ein weiterer Protagonist, den Plinius in oratio recta zu Wort kommen lässt, ist Quintilian in Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14.10‒11, wo es um das Aufkommen des Claqueur-Wesens geht und Quintilian eine Anekdote über Domitius Afer erzählt (10‒11), der seinerseits in direkter Rede spricht (11).37 Auch Tacitus tritt in Epist. 9,23Plinius der JüngereEpist. 9.23 sowohl als Erzähler einer Anekdote als auch handelnde Figur derselben in einem Dialog mit einem Zuseher im Zirkus auf, der ihn nach seiner Identität fragt (2: Tacitus es an Plinius?).38 Schließlich sei noch der ältere Plinius erwähnt, der sich sowohl in Epist. 3,5Plinius der JüngereEpist. 3.5 (12; 16) als auch 6,16 (11)Plinius der JüngereEpist. 6.16.11 in direkter Rede äußert.39

Aussprüche und Dialoge handelnder Figuren in den Briefen verleihen den jeweiligen Narrationen eine stärkere Lebendigkeit und dramatischeren Charakter. Doppelzitate wie in Epist. 2,14 (Quintilian zitiert Domitius Afer) und 3,16 (Fannia zitiert Arria), wo Plinius erzählte Reden wiedergibt, dienen aufgrund der Charakterisierung der Erzählinstanzen zweiten Grades als Zeitzeugen zur Beglaubigung der Ereignisse. Generell stellt sich bei den in die Briefe eingelegten Reden, ähnlich wie im Fall literarischer Dialoge wie etwa derjenigen Ciceros, die Frage nach der Historizität solcher Gespräche und Äußerungen.40 Cicero selbst erörtert den mos dialogorum in einem Brief an Varro, der als Begleitschreiben zu den vier Büchern Academica, in denen Varro selbst als Gesprächsteilnehmer auftritt, charakterisiert ist (Fam. 9,8,1CiceroFam. 9.8.1 = 254 SB): puto fore ut, cum legeris, mirere nos id locutos esse inter nos, quod numquam locuti sumus; sed nosti morem dialogorum.41 Auch mehrere Briefe an Atticus thematisieren die Fiktionalität der Dialoge.42 Es ist anzunehmen, dass auch Plinius sich der von Cicero diskutierten Konventionen der Gattung Dialog bewusst war und die in die Briefe eingelegten Gespräche handelnder Figuren nach dem Prinzip des veri simile gestaltet hat. Dies dürfte auch für die Dialoge auf einer anderen Ebene der Kommunikation gelten, und zwar die Konversation des Briefschreibers mit seinen Adressaten, die ja der antiken Theorie zufolge als „halbierter Dialog“ auf Distanz betrachtet wurde.43 Epistolographen wie Plinius kreieren die Fiktion vom Brief als Gespräch etwa dadurch, dass sie in ihren Texten den Adressaten als epistolaren Interlokutor auftreten und verschiedene Bemerkungen, Einwände oder Fragen artikulieren lassen bzw. diese zumindest antizipieren.44 Häufig weisen Verben wie dices oder inquis auf eine solche imaginäre Wortmeldung hin, bisweilen können sie jedoch auch wegbleiben. In seinen Reaktionen auf diese Einwände wiederholt Plinius in der Regel einzelne Wörter oder Wortfolgen, wie etwa in Epist. 1,6Plinius der JüngereEpist. 1.6, wo uns Tacitus, der in Epist. 9,23 sowohl als interner Erzähler als auch handelnde Figur in der Arena auftaucht, als Adressat begegnet und Plinius ihn auch in dieser Funktion zu Wort kommen lässt (1): ego ille, quem nosti, apros tres et quidem pulcherrimos cepi. ‘ipse?’ inquis. ipse.45 Fabius Iustus, der Empfänger der Epist. 1,11Plinius der JüngereEpist. 1.11.1, entschuldigt sich für das Ausbleiben seiner Briefe mit den Worten nihil est…quod scribam (1), was Plinius zu einer Diskussion der Konventionen epistolarer Korrespondenz veranlasst (1: at hoc ipsum scribe, nihil esse, quod scribas…).46 Der Aufforderung, nach Rom zu kommen und den Redner Isaeus zu hören, lässt Plinius in Epist. 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3.9 seinen Adressaten Nepos entgegenhalten habeo hic, quos legam, non minus disertos, woraufhin er selbst wiederum erwidert etiam, sed legendi semper occasio est, audiendi non semper (9).47 Es ist durchaus denkbar, dass zu den diserti, deren Reden Nepos auch bei sich zuhause lesen kann, Plinius selbst gehört, wie die ebenfalls an Nepos gerichtete Epist. 4,26Plinius der JüngereEpist. 4.26 suggeriert: Dort erfahren wir, dass Nepos die Schriften des Plinius angeschafft hat (1: libellos meos, quos studiosissime comparasti) und sie überall mit sich herumträgt (2–3: tanti putes scripta nostra circumferre tecum…comites istos).48 Das Lob auf Isaeus in Epist. 2,3 weitet sich somit zum (Selbst-)Lob auf Plinius durch Nepos aus, den der Epistolograph in Epist. 4,26 als einen Bewunderer seiner Werke charakterisiert. In Epist. 2,5Plinius der JüngereEpist. 2.5.10 nimmt Plinius einen möglichen Einwand seines Adressaten Lupercus vorweg, der lieber eine vollständige Rede als nur deren Einzelteile lesen möchte (10: dices te non posse satis diligenter id facere, nisi prius totam actionem cognoveris).49 Dass ein langer Brief über einen Prozess wie denjenigen gegen Caecilius Classicus den Adressaten ermüden kann, geht aus der imaginierten Bemerkung des Cornelius Minicianus in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9.27 hervor (27: dices: ‘non fuit tanti; quid enim mihi cum tam longa epistula?’).50 In Epist. 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9.16 über das Gerichtsverfahren des Iulius Bassus kommt die Verwunderung des Adressaten Cornelius Ursus darüber zum Ausdruck, dass zwei Meinungen, auch wenn sie einander widersprechen, richtig sein können (16: ‘qui fieri potest’, inquis, ‘cum tam diversa censuerint?’).51

Auch in Briefen mit literarkritischem Inhalt hören wir häufig die Stimme des Adressaten: Octavius Rufus, den Plinius in Epist. 2,10Plinius der JüngereEpist. 2.10.5 zur Publikation seiner Werke auffordert, entgegnet, dass sich seine Freunde darum kümmern sollen (5: dices, ut soles: ‘amici mei viderint!’), woraufhin ihm Plinius derartig zuverlässige und eifrige Freunde wünscht (5: opto equidem amicos tibi tam fideles…tam laboriosos…).52 Im Nachruf auf den Dichter Martial (Epist. 3,21)Plinius der JüngereEpist. 3.21.6, der ein Epigramm auf Plinius verfasst hat (Mart. 10,20[19]Martial10.20[19]), fragt sich der Epistolograph quid homini potest dari maius quam gloria et laus et aeternitas? (6), wird jedoch vom Adressaten mit den Worten at non sunt aeterna, quae scripsit (6) unterbrochen.53 Das Urteil seines Adressaten Paternus auf die Lektüre der Hendecasyllabi antizipiert Plinius am Ende der Epist. 4,14Plinius der JüngereEpist. 4.14.10 (10: fortasse posset durum videri dicere ‘quaere, quod agas’; molle et humanum est: ‘habes, quod agas’).54 Gegen die Gründe des Plinius, auf das Verfassen einer Historie zu verzichten, wendet der Adressat der Epist. 5,8Plinius der JüngereEpist. 5.8.7 ein: potes simul rescribere actiones et componere historiam (7).55 Im Rahmen des Rückblicks, den Plinius in 7,4Plinius der JüngereEpist. 7.4.2 über seine Biographie als Dichter bietet, will der Adressat Pontius mehr über die griechische Tragödie wissen, die Plinius als Vierzehnjähriger verfasst haben will (2: ‘qualem?’ inquis). Gleich zweimal kommt der Adressat Lupercus in Epist. 9,26Plinius der JüngereEpist. 9.26 zu Wort, wo Plinius ausführlich über rhetorische sublimitas reflektiert: Zunächst hören wir ihn in direkter Rede (8: at enim alia condicio oratorum, alia poetarum), danach in oratio obliqua (10: dices hunc quoque ob ista culpari).56

Die Fiktion vom Dialog zwischen Briefschreiber und Empfänger über verschiedene Ereignisse, Zustände, Pläne oder Probleme wird auch in vielen weiteren Briefen hergestellt: Auf die Nachricht über das triste Dasein des nach Sizilien verbannten Rhetoriklehrers Valerius Licinianus lässt Plinius seinen Adressaten Cornelius Minicianus in indirekter Rede reagieren (4,11,4Plinius der JüngereEpist. 4.11.4: dices tristia et miseranda, dignum tamen illum, qui haec ipsa studia incesti scelere macularit).57 In Epist. 4,22Plinius der JüngereEpist. 4.22.4 wiederum hören wir den Adressaten Sempronius Rufus in direkter Rede sprechen, wenn er die Haltung des Iunius Mauricus gegen ein Sportfest in Vienna lobt (4: ‘Constanter’, inquis, ‘et fortiter’). Der Warnung vor dem strengen Prätor Licinius Nepos wird der Adressat der Epist. 4,29Plinius der JüngereEpist. 4.29.3 entgegnen non omnes praetores tam severi, wie Plinius vermutet (3: dices).58 Mit der Frage quorsus haec? reagiert der Adressat Priscus in Epist. 6,8Plinius der JüngereEpist. 6.8.3‒4 zweimal (3‒4) auf Plinius’ Ausführungen über seine Unterstützung für Atilius Crescens.59 Der Ankündigung des Plinius in 6,23Plinius der JüngereEpist. 6.23.1, dass er einen Prozess nicht umsonst führen wolle, hält der Adressat Triarius entgegen qui fieri potest…ut non gratis tu? (1).60 Auf die Bitte des Plinius um juristischen Rat antwortet Titius Aristo, der Empfänger der Epist. 8,14Plinius der JüngereEpist. 8.14.2, mit den Worten cur quaeris, quod nosse debebas? (2).61 In Epist. 6,28Plinius der JüngereEpist. 6.28.3 äußert sich Plinius über die allzu üppige Verpflegung auf dem Landgut des Pontius und nimmt dessen Einwand vorweg (3: dices oportere me tuis rebus ut meis uti).62 Zur Unterbrechung seines ausgedehnten otium in Lukanien und Kampanien fordert der Epistolograph in 7,3Plinius der JüngereEpist. 7.3.1 wiederum seinen Freund Praesens auf, der seine Abwesenheit mit den Worten ipse enim…Lucanus, uxor Campana (1) rechtfertigt.63 Seinem Adressaten Calvisius schreibt Plinius in Epist. 9,6Plinius der JüngereEpist. 9.6.1, dass er gerade in Rom seine Zeit in Muße mit literarischen Studien verbringe, woraufhin dieser verwundert fragt quemadmodum…in urbe potuisti? (1).64

 

Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein sollte, finden sich im Briefkorpus der Bücher 1‒9 neben der Stimme des Epistolographen noch viele weitere Stimmen, die sozusagen zu einer gewissen Polyphonie der Sammlung beitragen: Die Worte der verschiedenen Adressaten vernehmen wir entweder, wenn Plinius den Inhalt ihrer vorausgehenden Briefe referiert, oder wenn er sie als interlocutores auftreten und an der jeweiligen Diskussion teilhaben lässt. Einen Sonderfall bildet freilich Buch 10Plinius der JüngereEpist. 10, das im Unterschied zu den vorausgehenden Büchern die Antwortschreiben des Kaisers Trajan enthält, dem als Adressaten dadurch eine besondere Bedeutung zuteil wird.65 Neben Plinius als Briefschreiber und seinen Adressaten begegnet man sowohl Plinius selbst als auch anderen Individuen häufig als handelnden Figuren in einer Narration und hört bzw. liest ihre Wortmeldungen in direkter oder indirekter Rede. Was die Inklusion anderer Stimmen sowie das Verhältnis von „eigener Rede“ zu „fremder Rede“ in der Briefsammlung betrifft, seien schließlich auch noch literarische Zitate aus anderen Autoren betrachtet, die Plinius als „fremde Texte“ zahlreich in seine Prosabriefe einstreut.66 Eine umfassende Analyse dieses Phänomens würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit freilich sprengen und wurde ja auch schon von anderen verschiedentlich umfangreich unternommen,67 doch sollen die wichtigsten Aspekte der durch Zitate hergestellten Polyphonie kurz diskutiert werden. Damit der Leser das Einsetzen einer „fremden Stimme“ bzw. eines „fremden Texts“ erkennen kann, muss das Zitat auch deutlich als solches markiert sein – indirekte Anspielungen bzw. implizite Zitate, die sich auf den ersten Blick nicht klar vom Kontext abheben, sollen in diesem Rahmen daher zunächst ausgeklammert bleiben.68 Eine explizite Markierung kann entweder erfolgen, indem die Quelle eindeutig identifiziert wird, wie etwa in Epist. 4,14Plinius der JüngereEpist. 4.14.5 (5: …illam esse verissimam legem, quam Catullus expressit: ‘Nam castum esse decet pium poetam…’)69 oder 1,20Plinius der JüngereEpist. 1.20.22 (22: nec vero cum haec dico illum Homericum ἀμετροεπῆ probo),70 oder zumindest irgendein Signal gesetzt wird, dass es sich um die Worte eines anderen handelt (vgl. 4,11,12Plinius der JüngereEpist. 4.11.12: quale est illud: κεῖται Πάτροκλος).71 Auch kann sich ein Zitat allein durch seinen Versrhythmus deutlich vom prosaischen Kontext des Briefes absetzen, wie z. B. in Epist. 6,33Plinius der JüngereEpist. 6.33.1 (1: ‘Tollite cuncta’, inquit, ‘coeptosque auferte labores!’).72 Insbesondere griechische Zitate, ob sie nun aus Dichtung oder Prosa stammen, sind im Kontext der lateinischen Sprache der Briefe relativ einfach zu erkennen,73 wie etwa in Epist. 1,18Plinius der JüngereEpist. 1.18 (1: καὶ γάρ τ᾽ ὄναρ ἐκ Διός ἐστιν; 4: egi tamen λογισάμενος illud εἷς οἰωνὸς ἄριστος ἀμύνεσθαι περὶ πάτρης)74 oder in Epist. 9,26Plinius der JüngereEpist. 9.26, wo Plinius neben Homer ausgiebig aus Demosthenes und Aischines zitiert.75 Zählt man alle Stellen, die als explizite Zitate gelten können, zusammen, so fällt auf, dass Plinius deutlich öfter griechische als lateinische Autoren zitiert, wobei Homer, Demosthenes und Aischines als Spitzenreiter gelten dürfen, während aus den lateinischen Quellen Vergil am häufigsten herangezogen wird.76 Auch ist die Frequenz von Zitaten in den einzelnen Büchern unterschiedlich hoch – besonders viele Zitate finden sich in Buch 1, 4 und 9, während Buch 2 arm an Zitaten ist.77 Dies gilt, wohlgemerkt, nur für explizite und gekennzeichnete Zitationen, wohingegen eine Auswertung indirekter Anspielungen ein anderes Bild ergeben dürfte.

Abgesehen von literarischen Zitaten seien am Schluss noch solche Beispiele betrachtet, wo Plinius aus nichtliterarischen Quellen zitiert und auf diesem Weg „fremde“ Stimmen bzw. Texte in sein Briefkorpus integriert. Es wurden in anderem Zusammenhang schon solche Fälle betrachtet, wo sich Plinius auf Briefe anderer bezieht.78 Neben Briefen zitiert Plinius auch Inschriften in Versen oder Prosa, wie etwa das elegische Selbstepitaph seines Mentors Verginius Rufus (6,10; 9,19Plinius der JüngereEpist. 6.10/9.19)79 oder die Grabinschrift des berüchtigten libertus a rationibus unter Kaiser Claudius, M. Antonius Pallas (7,29; 8,6Plinius der JüngereEpist. 7.29/8.6).80 Der Brief 8,6 sticht hier außerdem dadurch heraus, dass Plinius nicht nur die Grabinschrift, sondern auch Passagen aus dem Senatsbeschluss des Jahres 52 v. Chr. zitiert, demzufolge Pallas mit einer Summe von 15 Millionen Sesterzen und der Prätorwürde geehrt werden sollte.

2.2 Zeit in den Briefen

Konstitutiv für die Korrespondenz durch Briefe und somit auch für die literarische Gattung der Epistolographie ist die räumliche Trennung von Adressant und Adressat, womit auch eine zeitliche Verschiebung zwischen dem Abfassen bzw. Senden eines Briefes und dessen Empfang und Lektüre einhergeht. Das in der antiken Epistolographie häufig anzutreffende Brieftempus, wo der Standpunkt des Empfängers vorherrscht und eine Handlung, die in die Gegenwart des Schreibens fällt, in die Vergangenheit gesetzt wird, wendet Plinius allerdings nicht konsequent an.1 Durch das Medium Brief kann diese Distanz überwunden werden, indem Epistolographen die Vorstellung vom absens generieren, der durch die Lektüre zum praesens wird: Literarische Strategien wie die besondere Anschaulichkeit (enárgeia) der Schilderung von Objekten oder Ereignissen oder aber die Fiktion vom mündlichen Gespräch der Briefpartner, die, wie vorhin betrachtet, durch die Figur des Interlokutors hergestellt wird, vermitteln den Eindruck, dass sich die Briefpartner im selben Gefüge von Raum und Zeit befinden.2 So zielt etwa die Ekphrasis von Plinius’ Villa in Etrurien in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6.41 an Domitius Apollinaris darauf ab, einen gemeinsamen Spaziergang von Briefschreiber und Empfänger durch das Anwesen zu ersetzen (41: nisi proposuissem omnes angulos tecum epistula circumire), die Lektüre entspricht gleichsam einem Besuch (41: legenti…visenti).3 Mit der Schilderung des Prozesses der Attia Viriola in 6,33Plinius der JüngereEpist. 6.33.7 will Plinius seinen Adressaten in die Rolle des Zusehers versetzen (7: si…interesse iudicio videreris).4

Jeder Brief friert sozusagen einen Moment innerhalb der Korrespondenz zwischen den Briefpartnern ein und kann, wie bereits in anderem Zusammenhang diskutiert wurde, als Fragment einer Narration der sozialen Interaktion zwischen Plinius und seinen Adressaten gelesen werden.5 Auf eine explizite Datierung seiner Briefe verzichtet Plinius,6 in vielen Fällen sind weder Zeit noch Ort der Abfassung klar angeführt und können bestenfalls implizit erschlossen werden,7 etwa wenn von einem bestimmten Ereignis die Rede ist, das nicht weit von der Gegenwart des Briefes entfernt liegt. Dies ist etwa der Fall in Epist. 1,5 und 2,1, die beide an Voconius Romanus gerichtet sind.8 Der Brief 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 beginnt mit der Frage vidistine quemquam M. Regulo timidiorem, humiliorem post Domitiani mortem? (1), wodurch suggeriert wird, dass Plinius ein relativ aktuelles Ereignis thematisiert, und verweist später auf ein Treffen mit Regulus bei der Amtseinführung des Prätors (11: ipse me Regulus convenit in praetoris officio), die sich auf den 1. Januar des Jahres 97 n. Chr. datieren lässt.9 Man gewinnt als Leser den Eindruck, dass Plinius seinem Freund nicht allzu lange danach über Regulus berichtet. Ähnlich verhält es sich in Brief 2,1Plinius der JüngereEpist. 2.1, für den das Staatsbegräbnis für Verginius Rufus den Anlass bildet (1: publicum funus Vergini Rufi); durch die Erwähnung des Konsuls Tacitus als Lobredner (6: laudatus est a consule Tacito) lässt sich das Begräbnis auf das Ende des Jahres 97 n. Chr. datieren,10 und auch hier scheint es so, als würde Plinius seinem Freund nicht allzu lange danach davon erzählen (10: quibus ex causis necesse est tamquam immaturam mortem eius in sino tuo defleam). Zudem lässt der Bericht über politisch bedeutsame Ereignisse in Epist. 1,5 und 2,1 darauf schließen, dass sich Plinius in Rom befindet, wohingegen der Aufenthaltsort des Voconius Romanus unbekannt bleibt. Auch gehen beide Briefe gleich medias in res und geben keinen Hinweis auf ein vorausgehendes Schreiben des Adressaten.

Von der Gegenwart eines Briefes, die freilich nicht gleichzusetzen ist mit dem Publikationsdatum,11 ist das dramatische Datum der Erzählungen zu unterscheiden, die Plinius in den jeweiligen Brief integriert. In Epist. 1,5 spielt die Handlung, wie schon erwähnt, teilweise nicht allzu lange vor der Abfassung des Briefes (1; 8‒16), teilweise jedoch im Rahmen einer Analepse mehrere Jahre zuvor während der Schreckensherrschaft Domitians (2‒7). Auch Epist. 3,16Plinius der JüngereEpist. 3.16 erzählt von mehreren Zeitebenen: Der Brief an Nepos wurde offenbar einen Tag nach einem Gespräch des Plinius mit Fannia abgefasst (2: hesterno Fanniae sermone),12 die einiges über das Schicksal ihrer Großmutter Arria während der Zeit des Claudius zu erzählen wußte (3‒12).13 Die im gesamten Briefkorpus erzählte Zeit umfasst größtenteils das Leben des Plinius als Erwachsener unter den Kaisern Trajan, Nerva und Domitian,14 wobei der Tod Domitians den ersten im Briefkorpus explizit erwähnten zeitlichen Marker bildet, der die Sammlung der Bücher 1–9 gleichsam einklammert (1,5,1Plinius der JüngereEpist. 1.5.1: post Domitiani mortem; 9,13,2Plinius der JüngereEpist. 9.13.2: occiso Domitiano).15 Einzelne Briefe gehen weiter zurück als die Regierung des letzten Flaviers, etwa wenn in den Vesuv-BriefenPlinius der JüngereEpist. 6.16/20 das Jahr 79 n. Chr. das dramatische Datum bildet,16 das in Epist. 9,33Plinius der JüngereEpist. 9.33 geschilderte Delphin-Wunder in die Regierungszeit Vespasians fallen dürfte,17 in Epist. 7,19,4‒10Plinius der JüngereEpist. 7.19.4‒10 vom Schicksal der Fannia und des älteren Helvidius unter Nero, Vespasian und Domitian erzählt18 oder in Epist. 7,29 und 8,6Plinius der JüngereEpist. 7.29/8.6 das Verhalten des Senats unter Claudius im Jahre 52 n. Chr. kritisiert wird.19 Die Regierungszeit des Claudius bildet außerdem den Hintergrund einer Anekdote in Epist. 1,13,3Plinius der JüngereEpist. 1.13.3 sowie in der Erzählung über die ältere Arria in 3,16Plinius der JüngereEpist. 3.16 und in der Geschichte über Curtius Rufus in 7,27,2‒3. Einen zeitlosen Charakter hingegen hat die in Epist. 7,27Plinius der JüngereEpist. 7.27 eingelegte Anekdote über den Philosophen Athenodorus und das Gespenst in Athen (5‒11).20 Außerdem bezieht sich Plinius mehrmals im Kontext der Kritik an zeitgenössischen Mißständen auf eine nicht näher definierte „gute alte Zeit“, die zur Gegenwart in Kontrast gesetzt wird und teilweise noch die Zeit der römischen Republik mit einschließt.21

 

Neben der Frage nach der Gegenwart des Briefes und ihrem Verhältnis zur erzählten Zeit bzw. zum dramatischen Datum, an dem eine Handlung spielt, lassen sich noch weitere Formen der Zeit im Briefkorpus bestimmen:22 So kann man etwa von der natürlichen Zeit – Tag, Nacht, Jahreszeiten –, auf die in einzelnen Briefen hingewiesen wird, die kulturelle oder offizielle Zeit unterscheiden, die sich etwa in der Angabe von Stunden, Kalender-, Fest- und Gerichtstagen sowie Jahren oder sonstigen offiziellen Daten ausdrückt und auch gesellschaftliche Konventionen wie Tagesmahlzeiten einschließt, von denen bei den Römern der cena als sozialer „Event“ sicherlich die wichtigste Bedeutung zukam.23 Dann gibt es noch die persönliche Zeit, die bei Plinius eine besonders wichtige Rolle spielt in Form von individuellen Tagesabläufen und in der Dichotomie zwischen otium und negotium, die eine unterschiedliche Zeitordnung in der Stadt bzw. auf dem Forum und in den Villen mit sich bringt.24 Auch die Lebenszeit an sich in Gegensatz zu Tod und Nachleben spielt bei Plinius in mehreren Briefen eine wichtige Rolle. Konkrete Datumsangaben sind selten in den Briefen und finden sich außerhalb von Buch 10 nur in Epist. 1,7,4Plinius der JüngereEpist. 1.7.4 (idus Octobris), 6,16,4Plinius der JüngereEpist. 6.16.4 (nonum Kal. Septembres hora fere septima), 8,6,13Plinius der JüngereEpist. 8.6.13 (X Kal. Februarias) und 9,39,2Plinius der JüngereEpist. 9.39.2 (idibus Septembribus).25

Als BeispielPlinius der JüngereEpist. 3.5 für eine Narration, in der nahezu all die genannten Formen von Zeit wichtige Strukturelemente bilden, sei Epist. 3,5 betrachtet, wo Plinius die Tagesroutine seines Onkels schildert (7‒16).26 Während das Datum der Gegenwart des Briefes unklar bleibt,27 fällt das dramatische Datum der Handlung in die Lebenszeit des älteren Plinius als Erwachsener. Die Beschreibung beginnt mit dem unbestimmten Zeitadverb aliquamdiu, das sich auf die Tätigkeit des älteren Plinius als Advokat bezieht (7), und geht über zur Lebenszeit bzw. dem Lebensende des Onkels (7: decessisse anno sexto et quinquagesimo), der in der Zeit dazwischen (7: medium tempus) durch wichtige Verpflichtungen und die amicitia principum in Anspruch genommen worden sei.28 Auch ein offizielles Datum findet sich in der Beschreibung, wenn der jüngere Plinius erzählt, dass sein OnkelPlinius der JüngereEpist. 3.5 an den Vulkanalien (8: Vulcanalibus)29 schon mitten in der Nacht (8: statim a nocte multa) mit seinen literarischen Studien begonnen habe, im Winter hingegen um die siebte, achte oder auch sechste Stunde (8).30 Das Imperfekt (8: lucubrare…incipiebat) drückt hier den iterativen Aspekt aus, ebenso wie der Satz ante lucem ibat ad Vespasianum imperatorem (nam ille quoque noctibus utebatur) (9), der von der bereits in der Nacht einsetzenden Arbeitsroutine von Kaiser und Plinius maior berichtet. Auch die weitere Narration ist im Imperfekt gehalten,31 wenn erzählt wird, dass der Onkel nach seinen negotia die restliche Zeit zuhause den Studien gewidmet habe (9: quod reliquum temporis studiis reddebat). Nach ante lucem (9) ist mit post cibum (10) ein weiterer temporaler Marker gesetzt,32 durch den der Tagesablauf des Plinius maior gegliedert wird, wobei hier eine Differenzierung der Gewohnheiten im Sommer (10: aestate) gegenüber dem Rest des Jahres erfolgt. Mit si quid otii (10) wird auf die Qualität der Zeit nach dem Essen verwiesen, denn das otium als freie Zeit ermöglichte ein Sonnenbad sowie weitere literarische Studien. Die Junktur post solem (11) leitet den nächsten Abschnitt der Tagesroutine ein, den der ältere Plinius zum kalten Bad, Imbiss und kurzen Schlaf nutzte, wobei für ihn nach diesem Nickerchen gleichsam ein neuer Tag einsetzte (11: mox quasi alio die), den der Onkel erneut bis zum Abendessen den Studien widmete (11: in cenae tempus). Die im Imperfekt gehaltene Narration über den Tagesablauf unterbricht der Epistolograph durch eine kurze Anekdote über einen Vorfall bei einer cena, der ein punktuelles Ereignis darstellt, durch memini (12) eingeleitet und somit als vom Briefschreiber selbst Erlebtes charakterisiert wird. Der ältere Plinius, der einen seiner Freunde für die Unterbrechung des Vorlesers tadelte, äußert sich hier gar in direkter Rede, was die Szene lebendiger macht und vom Rest der Narration abhebt.33 Die Schilderung der täglichen Routine setzt daraufhin wieder ein mit der Bemerkung, dass der Onkel sich im Sommer noch bei Tageslicht von der cena erhoben habe, im Winter während der ersten Nachtstunde (13).

Erst nach diesen Ausführungen erfahren wir, dass es sich bei den bisher erzählten Gewohnheiten um die Zeitordnung handelt, die der ältere Plinius während seiner Aufenthalte in der Stadt Rom befolgte (14: haec inter medios labores urbisque fremitum). In einem deutlich gesteigerten Erzähltempo berichtet der jüngere Plinius im Anschluss von der Routine seines Onkels in secessu (14) und in itinere (15). Auch hier ist die Narration wieder vom Imperfekt geprägt, wird jedoch abermals durch eine kurze Anekdote abgerundet, die uns ebenfalls als persönliche Erinnerung des jüngeren Plinius präsentiert wird (16: repeto) und eine direkte Rede des Onkels enthält, der seinem Neffen die Vergeudung wertvoller Studienzeit durch Spazieren vorwirft.Plinius der JüngereEpist. 3.5

Die an Epist. 3,5Plinius der JüngereEpist. 3.5 beobachteten Kategorien der Zeit spielen natürlich auch in anderen Briefen eine wichtige Rolle bei der Strukturierung der Narration, wie anhand der Interpretation einzelner Briefe noch deutlicher gezeigt werden soll. Zunächst sei jedoch noch die Chronologie des Briefkorpus betrachtet: Wie schon in anderem Zusammenhang erläutert wurde, verzichtet Plinius in seiner ersten Epistel programmatisch auf eine chronologische Anordnung seiner Briefe, um sich einerseits von der Historiographie abzugrenzen, diese jedoch gleichzeitig als Folie zu nutzen, vor deren Hintergrund das eigene literarische Projekt steht.34 Wenngleich die Briefe in den einzelnen Büchern nicht in einer chronologischen Reihenfolge organisiert, sondern dem Prinzip der variatio verpflichtet sind, finden sich in den Büchern dennoch „Zeitcluster“, die ein temporales Voranschreiten der Sammlung suggerieren.35 Es handelt sich hier somit um immanente Buchdaten, die nicht notwendigerweise mit dem tatsächlichen Publikationsdatum der einzelnen Bücher bzw. des Korpus gleichzusetzen sind. Den Eindruck einer temporalen Progression seiner Sammlung vermittelt Plinius auch durch die Wahl der Adressaten in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 und 9,40Plinius der JüngereEpist. 9.40: Mit dem Namen Septicius Clarus („der Helle“) wird die Vorstellung vom Sonnenaufgang evoziert, während der letzte Brief an Pedanius Fuscus („der Dunkle“) an den Sonnenuntergang denken lässt und außerdem den Winter als Jahreszeit thematisiert.36

Ein temporales Fortschreiten wird auch durch Briefzyklen suggeriert, die sich über einzelne oder mehrere Bücher erstrecken und die Entwicklung einer Handlung nachzeichnen, wobei sich in diesem Rahmen natürlich auch narrative Analepsen und Prolepsen finden können. So enthält etwa Buch 7 drei Briefe an Calpurnius Fabatus,37 in denen der Besuch des Calestrius Tiro38 bei Fabatus in Comum thematisiert wird (7,16, 7,23 und 7,32): In Epist. 7,16Plinius der JüngereEpist. 7.16 berichtet Plinius zunächst von seiner Freundschaft mit Calestrius Tiro, mit dem er zusammen Militärdienst leistete, Quästor war und nahezu gleichzeitig Tribun und Praetor (1‒2). Tiro, der auf dem Weg als Prokonsul nach Baetica ist, will über Ticinum reisen und macht, wie Plinius hofft, bei Fabatus in Comum Halt, um bei einer manumissio zugegen zu sein (3‒5). Aus dem kurzen Brief 7,23Plinius der JüngereEpist. 7.23 geht hervor, dass Fabatus Calestrius Tiro nach Mediolanum entgegenreisen will, doch Plinius rät ihm, den Freund in Comum zu empfangen. In Epist. 7,32Plinius der JüngereEpist. 7.32 ist der Aufenthalt des Tiro bei Fabatus in Comum bereits vergangen und die Freilassung mehrerer Sklaven vollzogen (1: delector iucundum tibi fuisse Tironis mei adventum). Einen Briefzyklus bzw. juristischen Briefroman, der sich über die Bücher 4‒7 erstreckt, bildet die Verteidigung des Iulius Bassus (4,9)Plinius der JüngereEpist. 4.9 und Rufus Varenus (5,20; 6,5; 6,13; 7,6; 7,10;Plinius der JüngereEpist. 5.20/6.5/6.13/7.6/7.10 vgl. 6,29), wobei wir als Leser den Verlauf der Handlung gleichsam „live“ mitzuverfolgen glauben, da die Gegenwart der betreffenden Briefe sich eng mit dem dramatischen Datum der Narration berührt.39 Während die einzelnen Briefe in diesem Zyklus von Ereignissen aus der jüngsten Vergangenheit berichten, bildet der gesamte Zyklus eine simultane Narration.40 Auch der Briefzyklus über Plinius als Dichter, der von Buch 4 bis Buch 9 reicht, vermittelt uns in Buch 4 und 5 zunächst den Eindruck, dass wir zu Zeugen der ersten Versuche des Plinius auf dem Gebiet der Kleinpoesie werden, während Epist. 7,4Plinius der JüngereEpist. 7.4 im Rahmen einer Analepse die Vorgeschichte zur Produktion der Hendecasyllabi präsentiert.41