Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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Die conclusio dieser Digression knüpft verbal und gedanklich an den Beginn an, wenn Plinius resümiert, er könne sich nicht erinnern, für eine Rede so viel Beifall erhalten zu haben wie damals für sein Schweigen (13: non facile me repeto tantum adsensum agendo consecutum, quantum tunc non agendo).111 Auf das Ende dieser eingelegten Erzählung folgt sodann die conclusio der rahmenden Narration, in der Plinius ebenfalls von den Reaktionen auf seine Schweigetaktik berichtet (14: similiter nunc probatum et exceptum est, quod pro Vareno hactenus tacui).

Trotz dieses Erfolges bleibt der weitere Verlauf der causa Vareni offen, wie es am Schluss heißt: PliniusPlinius der JüngereEpist. 7.6 wartet nun auf das Untersuchungsergebnis durch den Kaiser (cognitionem…exspecto), das ihm entweder securitas und otium oder neue Mühen und Sorgen bereiten werde (14).Plinius der JüngereEpist. 7.6 Auch im ebenfalls an Macrinus gerichteten Brief 7,10, dem Epilog zum Varenus-Zyklus, erfahren wir kaum etwas Konkretes über den Ausgang der Verhandlungen.112 Plinius leitet diese Epistel zunächst mit einem Gedanken über die Geschlossenheit seines Berichts ein (1): quia ipse, cum prima cognovi, iungere extrema quasi avulsa cupio, te quoque existimo velle de Vareno et Bithynis reliqua cognoscere. Diese Überlegungen zu Anfang (prima) und Ende (extrema) einer Geschichte lassen sich natürlich auf den gesamten Varenus-Zyklus beziehen, zu dem die Briefe 5,20, 6,5, 6,13, 6,29,11, 7,6 und 7,10Plinius der JüngereEpist. 5.20/6.5/6.13/7.6/7.10 gehören; allerdings sind an Macrinus nur die letzten beiden Briefe dieser Serie gerichtet, sodass er den Anfang der Varenus-Narration eigentlich gar nicht kennen kann – es sei denn, wir sollen ihn hier bereits als Modell-Leser der an andere Empfänger gerichteten und in Buch 5 und 6 publizierten Briefe imaginieren.113

Plinius bezeichnet das Ende des „Varenus-Romans“ als etwas gleichsam vom Rest Abgetrenntes (quasi avulsa) und greift damit eine Metaphorik auf, die er im Zusammenhang mit der Komposition und Lektüre von Texten schon mehrmals gebraucht hatte: So wurden etwa in Epist. 2,5Plinius der JüngereEpist. 2.5 einzelne Teile einer Rede, wie z. B. der Anfang, mit dem abgetrennten Kopf bzw. den Gliedmaßen einer Statue verglichen (11: avolsum statuae caput aut membrum aliquod).114 Die in Epist. 2,5 behandelte Thematik der Fragmentierung sowie des Verhältnisses eines Teils zum Gesamtkunstwerk lässt sich neben Reden auch auf die Briefsammlung beziehen, und so interpretiert Whitton (2015a: 131‒8) diesen Text plausibel als zweites Proömium zum Gesamtkorpus. In Epist. 7,10Plinius der JüngereEpist. 7.10 bezieht sich das Motiv der Fragmentierung auf den sich über mehrere Bücher erstreckenden Briefzyklus, dessen offenes Ende den Leser erwarten lässt, dass noch weitere Episoden der Varenus-Geschichte folgen werden. Denn Plinius berichtet in diesem Epilog nur kurz von der Auseinandersetzung der beiden Bithynier Polyaenus und Magnus (1) und dem Versprechen Trajans, den eigentlichen Willen der Provinz bezüglich einer Anklage zu eruieren (2: explorare provinciae voluntatem). Ob es zu einer Anklage kommt, bleibt ungewiss (3: dubium est…incertum est), und Plinius schließt den BriefPlinius der JüngereEpist. 7.10 stilistisch effektvoll mit der Befürchtung, dass die Bithynier ihre Reue wieder bereuen könnten (3: superest, ne rursus provinciae, quod damnasse dicitur, placeat, agatque paenitentiam paenitentiae suae).Plinius der JüngereEpist. 7.10

1.5 Plinius und Baebius Massa (Epist. 7,33)

Nachdem die Erzählung von der noch schwebenden Verhandlung des Varenus die erste Hälfte von Buch 7 geprägt und ein aktuelles Ereignis beleuchtet hat, endet das Buch mit einem weiteren Prozessbericht, der jedoch eine narrative Analepse darstellt, da das Geschehen mehr als ein Jahrzehnt vor der Verhandlung des Varenus stattfand;1 zudem stand Plinius damals zusammen mit Herennius Senecio auf der Seite der klagenden Provinz. Auf diese Konfrontation mit Baebius Massa hatte Plinius in früheren Briefen schon mehrmals hingewiesen,2 und in der an Tacitus gerichteten Epist. 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 rühmt er sie als seine größte Heldentat. Die Position dieses Briefes im Buch bzw. Gesamtkorpus ist in mehrfacher Hinsicht auffällig: Zunächst korrespondiert Epist. 7,33 thematisch mit Epist. 6,33Plinius der JüngereEpist. 6.33, wo sich Plinius seiner Rede für Attia Viriola rühmt.3 Auch wird der Leser sukkzessive auf das Thema der Epist. 7,33 – Plinius als Freund der Opposition gegen Domitian – eingestimmt. Die Briefe 7,11Plinius der JüngereEpist. 7.11 und 7,14Plinius der JüngereEpist. 7.14 stellen Plinius als Freund der Familie des mittlerweile verstorbenen Domitiangegners Corellius Rufus dar,4 und in 7,19Plinius der JüngereEpist. 7.19 hebte er seine enge Verbindung zu Fannia, der Frau des Helvidius Priscus, hervor; Anlass für diesen Brief ist der schlechte Gesundheitszustand Fannias, doch Plinius kommt auch auf die Tugenden der Frau zu sprechen: Fannia hatte, wie Plinius bewundernd schildert, beim Prozess des Herennius Senecio ‒ dieser war aufgrund seiner Biographie des Helvidius Priscus angeklagt5 ‒ dem Verhör durch den Ankläger Mettius Carus tapfer standgehalten.6 Schließlich porträtiert die wie beiläufig erzählte Anekdote vom „Friseurgespenst“ in Epist. 7,27Plinius der JüngereEpist. 7.277 Plinius als jemanden, der durch denselben Mettius Carus beinahe zu einem weiteren Opfer des Domitian-Regimes geworden wäre.8 Zwischen 7,19 und 7,27 wiederum steht ein Brief an Tacitus (7,20)Plinius der JüngereEpist. 7.20, der uns den Eindruck einer sehr engen Freundschaft zwischen diesem und Plinius vermitteln soll.9 Während Epist. 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 mit ihrer Rückschau in die Vergangenheit, dem Adressaten Tacitus und der Hoffnung auf Rühmung in dessen historiographischem Werk einen markanten Buchschluss bildet, enthält Epist. 8,1Plinius der JüngereEpist. 8.1 deutliche Anfangsmotive: Dieser Brief ist wieder an Septicius Clarus, den Adressaten der Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1, gerichtet10 und thematisiert u.a. eine Reise auf ein Landgut (1: iter commode explicui).

Wie schon in den an Tacitus gerichteten Vesuv-Briefen (6,16 und 6,20Plinius der JüngereEpist. 6.16/20)11 sowie dem Delphin-Brief 9,33Plinius der JüngereEpist. 9.33 an Caninius Rufus12 gibt Plinius vor, dem Adressaten mit seinen Ausführungen Rohmaterial für eine literarisch kunstvollere Darstellung liefern zu wollen. Doch wie in den drei genannten Briefen wird auch im Fall von 7,33 eine Ausschmückung durch Tacitus eigentlich obsolet, da Plinius’ eigene Version weit mehr als eine bloße Vorlage für die Historien bietet.13 Der Epistolograph eröffnet den Brief mit einer Lobeshymne auf Tacitus und dessen Historien, denen er Unsterblichkeit verheißt (1: immortales futuras)14 und in die er gerne aufgenommen werden möchte (illis – ingenue fatebor – inseri cupio).15 Gleichzeitig nimmt Plinius die Historien des Tacitus in seine Briefsammlung auf und macht sie ihrerseits unsterblich. Die captatio benevolentiae wird weitergeführt durch einen Vergleich zwischen Tacitus’ Qualitäten als Schriftsteller und hervorragenden Künstlern, denen man die Erschaffung eines Porträts anvertraut.16 Mit den optimi artifices, bei denen man wohl an Künstler wie Lysipp und Apelles denken soll,17 kann sich Tacitus als scriptor praedicatorque von Plinius’ Ruhmestaten messen.18 Indem er TacitusPlinius der JüngereEpist. 7.33 als praedicator preist, schlägt Plinius einen Bogen zurück zu Epist. 2,1Plinius der JüngereEpist. 2.1, wo uns Tacitus als Lobredner des Verginius Rufus bei dessen Staatsbegräbnis begegnet war (6: laudatus est a consule Cornelio Tacito; nam hic supremus felicitati eius cumulus accessit, laudator eloquentissimus).19 Verginius Rufus genoss angeblich schon zu Lebzeiten die Verherrlichung durch andere (2: triginta annis gloriae suae supervixit: legit scripta de se carmina, legit historias…) und wurde von Tacitus nicht nur beim Begräbnis gelobt, sondern auch in die Historien aufgenommen.20 Ähnliches erhofft sich nun auch Plinius etwa zehn Jahre nach dem Tod des Verginius für sich selbst.21

Obwohl Tacitus die Heldentat des Plinius aus den amtlichen Nachrichten (3: cum sit in publicis actis)22 kennen dürfte, weist Plinius nochmals nachdrücklich darauf hin (3: demonstro ergo…demonstro tamen), damit Tacitus der Angelegenheit durch seine Darstellung Auszeichnung verleiht (3: si factum meum…tuo ingenio, tuo testimonio ornaveris). Es gibt also Plinius zufolge drei Stufen der schriftlichen Dissemination seiner Tat: Die nichtliterarischen acta publica, die eigene Darstellung im Brief sowie – als literarisch anspruchvollste Form – die Historien des Tacitus, wobei die Erwähnung der acta publica nicht zuletzt der Authentifizierung des Erzählten dienen dürfte.23 Bevor wir überhaupt etwas Konkretes über die Tat erfahren, auf die Plinius so stolz ist, lesen wir von der mit ihr einhergehenden Gefahr (3: factum meum, cuius gratia periculo crevit). Auf narrativer Ebene handelt es sich dabei um eine Prolepse, durch die die Lektüre der folgenden Erzählung gesteuert und die Spannung gesteigert wird.24

Die narratio der Ereignisse (4‒9) setzt ein mit dem Ende des Prozesses gegen Baebius MassaPlinius der JüngereEpist. 7.33 und beginnt mit einer Schilderung der Ausgangslage: Plinius und Herennius Senecio waren im Auftrag des Senats als Vertreter der Provinz Baetica zusammen gegen Baebius Massa aufgetreten25 und hatten dessen Verurteilung bewirkt; ein Senatsbeschluss unterstellte daraufhin Massas Vermögen staatlichen Treuhändern (4). Das folgende Geschehen beschreibt Plinius stark mimetisch durch den Einbau mehrerer direkter Reden. Als Senecio in Erfahrung gebracht hatte, dass die Konsuln Bittstellern Audienz gewährten, sagte er zu Plinius (4): qua concordia…iniunctam nobis accusationem exsecuti sumus, hac adeamus consules petamusque, ne bona dissipari sinant, quorum esse in custodia debent. Senecio selbst ist es hier, der die concordia zwischen ihm selbst und Plinius betont, wenn er diesen auffordert, sein Ansuchen bei den Konsuln zu unterstützen. Über die eigentliche Anklage hinaus will Senecio sich noch dafür einsetzen, dass das unter staatlichen Schutz gestellte Vermögen Massas nicht von den Verantwortlichen missbraucht wird.26 Plinius reagiert zunächst vorsichtig (5): respondi: ‘cum simus advocati a senatu dati, dispice, num peractas putes partes nostras senatus cognitione finita’. Mit seinem Hinweis auf die bereits erfüllte Pflicht deutet Plinius an, dass es möglicherweise zu Schwierigkeiten kommen könnte, sollte Senecio vor die Konsuln treten.27 Dieser jedoch beharrt und stellt Plinius frei, an diesem Punkt aufzuhören (5): et ille: ‘tu, quem voles, tibi terminum statues, cui nulla cum provincia necessitudo nisi ex beneficio tuo, et hoc recenti; ipse et natus ibi et quaestor in ea fui’. Das ist für den loyalen Plinius keine Option, und so antwortet er (6): si fixum tibi istud ac deliberatum, sequar te, ut, si qua ex hoc invidia, non tantum tua. Mit dem Stichwort invidia ist schon angedeutet, was auf Senecio und Plinius noch zukommen wird. Da Plinius den Leser schon in Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5, 3,11Plinius der JüngereEpist. 3.11 und 7,19Plinius der JüngereEpist. 7.19 von der Anklage und Verurteilung Senecios unter Domitian im selben Jahr informiert hat, erscheint sein eigenes Verhalten in Epist. 7,33 noch mutiger; der Rezipient dieses Briefes verfügt ja nicht zuletzt dank der Anordnung der Briefe bereits über ein Mehrwissen über das, was Senecio nach der Auseinandersetzung mit Baebius Massa noch bevorsteht.28

 

Nach diesem von direkten Reden geprägten, mimetischen Abschnitt wird die folgende Handlung wieder stärker gerafft erzählt: Im historischen Präsens berichtet Plinius von der Audienz bei den Konsuln, denen Senecio und er selbst ihr Anliegen vorbringen (7: venimus ad consules; dicit Senecio…aliqua subiungo). Die Reaktion MassasPlinius der JüngereEpist. 7.33 wird sodann in indirekter Rede vermittelt: Senecio habe sich nicht als pflichtbewusster Anwalt, sondern bösartiger Feind erwiesen (7: Senecionem non advocati fidem, sed inimici amaritudinem implesse), den Massa nun seinerseits wegen impietas, d.h. Majestätsbeleidigung,29 belangen möchte. Diese Forderung bewirkt kollektives Erschrecken: Das elliptische horror omnium (8), mit dem die Angst der Umstehenden geschildert wird, hat theatralen Charakter und erinnert an ähnliche Szenen bei Tacitus – man denke etwa an die Reaktionen auf die Ermordung des BritannicusTacitusAnn. 13.16 in den Annalen.30 Die Atmosphäre des Schreckens durchbricht nun Plinius mit seiner schlagfertigen Antwort (8): vereor…clarissimi consules, ne mihi Massa silentio suo praevaricationem obiecerit, quod non et me reum postulavit. Nachdem Massa Senecio lauthals der impietas beschuldigt hatte, lässt sein Schweigen über Plinius vermuten, dass er diesem ebenfalls Pflichtverletzung (praevaricatio) vorwirft – allerdings im Sinne von Handeln im Interesse der Gegenpartei, d.h. im Interesse Massas.31 Der couragierte Ausspruch des Plinius – hier wieder in direkter Rede wiedergegeben – ist zweifellos die Klimax der narratio, Plinius ist nun der einzige Sprecher in dieser Szene.32

Mit diesem bon mot bricht die Erzählung der Haupthandlung auch schon ab, denn wir erfahren keine weiteren Details mehr über Massa und Senecio. Stattdessen schildert Plinius, wie viel Lob ihm seine Schlagfertigkeit eingebracht habe (8): quae vox et statim excepta et postea multo sermone celebrata est. Plinius’ Bravourstück war nicht nur Thema vieler Gespräche, sondern auch der spätere Kaiser Nerva drückte seine Anerkennung in einem Brief aus (9): Divus quidem Nerva…missis ad me gravissimis litteris non mihi solum, verum etiam saeculo est gratulatus. Aus diesem Brief zitiert Plinius sogar wörtlich (sic enim scripsit), dass Nerva ihn als exemplum simile antiquis gerühmt habe.33 Nach den acta publica (3) bringt Plinius somit noch einen zweiten Beleg zur Authentifizierung seiner Heldentat ins Spiel – eine Heldentat, bei der es sich, wie wir gesehen haben, weniger um facta als um dicta memorabilia handelt.

Der letzte Abschnitt der Epist. 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 kehrt aus der Zeit Domitians wieder in die Gegenwart des Schreibens zurück und greift den Beginn des Briefes und die Anrede an Tacitus auf (10): haec, utcumque se habent, notiora, clariora, maiora tu facies. Dabei fordert Plinius nicht, dass Tacitus etwas dazu erfinden soll (non exigo, ut excedas actae rei modum), da eine historia an die veritas gebunden sei34 und diese allein für ehrbare Taten ausreiche (honeste factis veritas sufficit). Wie wir gesehen haben, liefert Plinius selbst verschiedene Belege, die diese veritas untermauern sollen: der Verweis auf die acta publica, das Zitat aus Nervas Brief sowie nicht zuletzt die vielen direkten Reden, die den Leser gleichsam zum Zeugen des Geschehens werden lassen. Man hat bereits mehrfach beobachtet, dass Plinius am Ende der Epist. 7,33 auf Ciceros Brief an Lucceius (Fam. 5,12)CiceroFam. 5.12 anspielt.35 Nachdem Cicero den Historiker darum gebeten hat, seine Taten in einer eigenen Monographie zu würdigen, versucht er ihn auch dazu zu bringen, es mit der historischen Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen (3: ut et ornes ea vehementius etiam, quam fortasse sentis, et in eo leges historiae neglegas…plusculum etiam, quam concedet veritas). Plinius scheint Cicero mehr oder weniger zu korrigieren, und auf den ersten Blick mutet Ciceros Bitte um Beschönigung anmaßender an als die Forderung des Plinius, Tacitus möge bei der Wahrheit bleiben; auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich Plinius als der Selbstbewusstere, dessen Tat angeblich keiner weiteren Ausschmückung mehr bedarf. Zudem stellt sich überhaupt die Frage, ob eine Darstellung in Tacitus’ Historien jemals ernsthaft avisiert wurde – durch die Publikation dieser narrativ ausgefeilten EpistelPlinius der JüngereEpist. 7.33 in seiner Sammlung hat Plinius bereits selbst für die Verbreitung seines Ruhmes gesorgt.36Plinius der JüngereEpist. 7.33

1.6 De Helvidi ultione (Epist. 9,13)

Die Darstellung der Umstände, unter denen Plinius kurze Zeit nach Domitians Tod seine Rede De Helvidi ultione gehalten hat, ist die letzte Erzählung von einem Prozess bzw. einer Verhandlung im Senat innerhalb des Korpus der Bücher 1‒9.1 Helvidius Priscus war zusammen mit Herennius Senecio und Arulenus Rusticus im Jahr 93/94 n. Chr. unter Domitian verurteilt und hingerichtet worden,2 der Brief bildet somit den Abschluss und Höhepunkt des Zyklus, in dem Plinius sich als Freund der stoischen Opposition präsentiert.3 Im letzten Buch, das im Vergleich zu den vorhergehenden acht libri eher kurze Briefe enthält, sticht Epist. 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 deutlich durch ihren Umfang hervor, der Plinius zufolge beinahe der Länge der Rede4 selbst entspricht (26: modum epistulae…libris, quos legisti, non minorem). Zudem wird über das Thema Länge in diesem Buch mehrmals reflektiert: In Epist. 9,2Plinius der JüngereEpist. 9.2 etwa rechtfertigt sich Plinius seinem Adressaten Sabinus5 gegenüber, warum er seiner Bitte, sehr lange Briefe zu schreiben (1: non solum plurimas epistulas meas, verum etiam longissimas flagitas),6 nicht nachkommen könne (1‒2): praeterea nec materia plura scribendi dabatur. neque enim eadem nostra condicio quae M. Tulli, ad cuius exemplum nos vocas. Für längere Briefe existiere, so Plinius, kein geeigneter Stoff mehr, anders als es zu Ciceros Zeiten der Fall gewesen sei.7 Dieser habe nicht nur eine überdurchschnittliche Begabung besessen (2: copiosissimum ingenium), sondern sein Talent auch an bedeutenden Ereignissen beweisen können (2: qua varietas rerum qua magnitudo largissime suppetebat). Plinius selbst hingegen seien enge Grenzen gesetzt (3: nos quam angustis terminis claudamur…). Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen in Epist. 9,2 müssen dem Rezipienten, sofern er das Buch linear weiterliest, die im langen Brief 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 geschilderten Ereignisse umso denkwürdiger, ja geradezu mit der Epoche Ciceros vergleichbar erscheinen. Wieder einmal wird deutlich, wie Plinius die Lektüre seiner Briefe durch ihre Anordnung steuert. Was das Verfassen langer Briefe betrifft, fällt auf, dass es in der zweiten Hälfte von Buch 9 vor allem Plinius’ Briefpartner sind, die ihm umfangreichere Episteln senden: In 9,20Plinius der JüngereEpist. 9.20.1 erfahren wir, dass Plinius von Venator8 einen Brief erhalten hat, in dem dieser auf Plinius’ Schriften einging (1: epistula…longior…cum de libellis meis tota loqueretur), und in 9,32Plinius der JüngereEpist. 9.32.1 verkündet Plinius gegenüber Titianus, dass er lange Briefe zwar lesen, aber nicht mehr schreiben wolle (1: quo fit, ut scribere longiores epistulas nolim, velim legere).9 Es ist vermutlich nicht unbeabsichtigt, dass wir genau zwischen den Briefen 9,20 und 9,32 mit Epist. 9,26Plinius der JüngereEpist. 9.26 den zweitlängsten Text in Buch 9 vorfinden; auch hier geht es, wie in 9,13, um Beredsamkeit, jedoch aus theoretischer Perspektive, insofern als das Thema rhetorischer sublimitas diskutiert wird. Dieser Text korrespondiert sowohl thematisch als auch durch seine Position mit Epist. 9,13: Diese beiden von Buchanfang und -ende etwa gleich weit entfernten Briefe bilden sozusagen „rhetorische Säulen“ im letzen Buch der Privatkorrespondenz.10

Das Thema Beredsamkeit findet sich auch an prominenter Stelle zu Beginn von Buch 9: Plinius fordert in 9,1Plinius der JüngereEpist. 9.1 den Adressaten Maximus11 dazu auf, seine Rede in Plantam endlich zu veröffentlichen (1): Saepe te monui, ut libros, quos vel pro te vel in Plantam…composuisti, quam maturissime emitteres. Der verbale Anklang an Epist. 1,1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1.1 frequenter hortatus es, ut epistulas…colligerem publicaremque ist deutlich,12 Buch 1 und 9 sind über das Thema der Publikation miteinander verklammert. Während es in Epist. 1,1 um die Briefsammlung ging, wird dem Leser nun suggeriert, dass in Buch 9 die Publikation von Reden eine wichtige Rolle spielt.13 Über die Umstände dieser oratio in Plantam wissen wir leider kaum etwas,14 doch ihre Erwähnung am BeginnPlinius der JüngereEpist. 9.1 des neunten Buches dürfte einem programmatischen Zweck dienen und auch für die Lektüre von Epist. 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 von Bedeutung sein. Plinius mahnt seinen Adressaten Maximus deshalb zur raschen Herausgabe der Rede, weil Planta kürzlich gestorben ist und niemand den Eindruck bekommen soll, Maximus habe seine Schrift erst nach Plantas Tod begonnen (2: nolo tamen quemquam opinari defuncto demum incohatos, quos incolumi eo peregisti). Maximus dient offenbar als Kontrastfolie für Plinius selbst, denn wie wir sehen werden, geht es auch im Zusammenhang mit Plinius’ eigener Rede De Helvidi ultione um den Tod des Attackierten: In Epist. 9,13 stirbt der Betroffene, Publicius Certus, jedoch erst nachdem (oder gar weil?) Plinius ihn angeklagt hat.

Noch bevor wir in Epist. 9,13 über die Entstehungsumstände der oratio de Helvidi ultione aufgeklärt werden, erfahren wir in Buch 7 schon vom positiven Anklang dieser Rede bei zeitgenössischen Spezialisten – unsere Neugierde ist also geweckt:15 Epist. 7,30Plinius der JüngereEpist. 7.30 ist an Julius Genitor gerichtet, den Plinius bereits in Epist. 3,3Plinius der JüngereEpist. 3.3 in sein „Figurenarsenal“ eingeführt hatte, indem er ihn der Corellia als überaus kompetenten Redelehrer für ihren Sohn empfahl (3,3,6: dicendi facultas aperta et exposita statim cernitur).16 Wenn nun dieser Genitor Plinius mit einer Größe wie Demosthenes vergleicht, erfolgt das ‒ so sollen wir wohl annehmen ‒ aus berufenem Munde (7,30,4)Plinius der JüngereEpist. 7.30: licet tu mihi bonum animum facias, qui libellos meos de ultione Helvidi orationi Demosthenis κατὰ Μειδίου confers. Wie Plinius hinzufügt, habe er die betreffende Demosthenes-Rede bei der Komposition von De Helvidi ultione tatsächlich in Händen gehabt, jedoch nicht, um mit dem attischen Redner zu wetteifern (5: non ut aemularer ‒ improbum enim ac paene furiosum), sondern um ihn nachzuahmen (sed tamen imitarer). Durch die Wiedergabe eines iudicium alienum sowie den Zusatz, eine aemulatio mit Demosthenes gar nicht anzustreben, ja überhaupt kein vergleichbares Talent zu besitzen (5: diversitas ingeniorum, maximi et minimi) vermeidet Plinius, allzu prahlerisch zu wirken. Dennoch hat sich beim Leser dieser Korrespondenz der Eindruck festgesetzt, dass Plinius’ Zeitgenossen ihn auf eine Stufe mit kanonischen Größen der Beredsamkeit stellten.

 

Auch der Brief 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 liefert ein gutes Beispiel dafür, wie Plinius narrative Strategien dazu einsetzt, ein möglichst positives Licht auf sich zu werfen.17 Abermals begegnen wir einem begeisterten Leser von Plinius’ Rede – diesmal ist es der junge Ummidius Quadratus, den Plinius in Buch 6 als aufstrebenden und hochtalentierten Redner präsentiert hatte, dem er selbst als Mentor und Vorbild gilt (6,11,1‒2Plinius der JüngereEpist. 6.11.1‒2: summae spei, summae indolis iuvenes, Fuscum Salinatorem et Ummidium Quadratum…litteris ipsis ornamento futurum…me ut rectorem, ut magistrum intuebantur…me aemulari, meis instare vestigiis videbantur).18 Wie aus dem Beginn von Epist. 9,13 hervorgeht, hatte dieser junge Mann Plinius’ Schrift De Helvidi ultione gewissenhaft studiert und eindringlich um eine Beschreibung der Hintergründe dieser Rede gebeten, der er aufgrund seines Alters noch nicht persönlich beiwohnen konnte (1):

Quanto studiosius intentiusque legisti libros, quos de Helvidi ultione composui, tanto impensius postulas, ut perscribam tibi, quaeque extra libros quaeque circa libros, totum denique ordinem rei, cui per aetatem non interfuisti.

Die Zeit, zu der Plinius diesen Brief verfasste, wird von Sherwin-White auf etwa 106‒08 n. Chr. datiert, und der Adressat Quadratus dürfte da etwa Mitte zwanzig gewesen sein.19 Im Unterschied zur Gegenwart der Briefkommunikation ist das dramatische Datum der erzählten Ereignisse zehn Jahre früher anzusetzen: Die narratio beginnt mit der präzisen Zeitangabe occiso Domitiano (2) und schildert die ersten Tage und Wochen nach der Ermordung des letzten Flaviers (4: primis…diebus redditae libertatis…in dies).20 Mit seinem Inhalt würde der Brief somit eigentlich in den Kontext von Buch 1 gehören, wo der betreffende Fall allerdings unerwähnt bleibt – die Erzählung wurde offenbar bewußt für Buch 9 aufgespart.21 Der Hinweis auf Domitians Tod stellt einen Bezug zu Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 her (1: post Domitiani mortem), wo Plinius von seiner ira gegenüber Regulus erzählt hatte22 ‒ man kann die beiden Briefe somit als companion pieces lesen, die von Plinius’ „Abrechnung“ mit Domitians Günstlingen handeln, sodass das Motiv des gerechten Zorns die Briefsammlung sozusagen umrahmt.23

Der narrative Teil des Briefes 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 lässt sich in folgende Abschnitte gliedern: Zunächst schildert Plinius seine Beweggründe und Vorbereitungen für die Attacke gegen Publicius Certus (2‒5), der allerdings erst in der Mitte des Briefes namentlich erwähnt wird (13),24 während im deutlich längeren Teil (6‒23) die betreffende Senatssitzung im Zentrum der Ausführungen steht; am Schluss (24‒25) erfahren wir von der späteren Publikation der Rede sowie vom Tod des Certus, bevor Plinius wieder in die Gegenwart der Briefkommunikation zurückkehrt (26).

Zu Beginn der narratio ist Plinius bemüht, sein Verhalten während der ersten Tage der wiedergewonnenen Freiheit möglichst heroisch darzustellen: insectandi nocentes, miseros vindicandi, se proferendi (2) ‒ durch Antithesen, Chiasmus und Homoioteleuta werden Plinius’ Beweggründe, sich hervorzutun,25 untermalt. Düstere Begriffe prägen zudem diesen Abschnitt über Domitian und seine Sympathisanten (2: occiso…nocentes, miseros…multa scelera multorum…nullum atrocius), durch Polyptoton, Parallelismus, Chiasmus und Klimax werden die Untaten der Zeitgenossen unterstrichen: quod in senatu senator senatori, praetorius consulari, reo iudex manus intulisset. Die Schilderung der Zustände unter Domitian erinnert an Anfang und Schluss des taciteischen AgricolaTacitusAgr. 2 (2; 45)TacitusAgr. 45, doch wir erfahren an keiner Stelle etwas Konkretes darüber, was Publicius Certus vorgeworfen wurde26 und wie sich Plinius selbst zur Zeit der Verurteilung des Helvidius im Jahr 93/94 n. Chr. verhielt.27 Stattdessen geht Plinius auf seine Freundschaft mit Helvidius und dessen Familie ein (3: fuerat alioqui mihi cum Helvidio amicitia);28 diese Freundschaft sei allerdings durch den metus temporum29 und Helvidius’ Zurückgezogenheit (secessus) beeinträchtigt worden.30 Indem Plinius hier die Atmosphäre der Angst unter Domitian in Erinnerung ruft, lässt er seine Loyalität gegenüber Helvidius besonders lobenswert erscheinen.31 Auch mit Fannia und Arria, der Stiefmutter und Stiefgroßmutter des Helvidius, sei Plinius befreundet gewesen – die beiden Frauen waren in der Briefsammlung bereits mehrmals als stoische Heroinen dargestellt worden.32

Nachdem Plinius seine Verbundenheit zu Domitians Opfern hervorgehoben hat, kontrastiert er sein eigenes Vorgehen mit der nach Domitians Tod herrschenden Stimmung in Rom: Während es in den ersten Tagen (4: primis quidem diebus) zu zahlreichen, auf persönlichem Haß beruhenden Anklagen gegen unbedeutendere Personen kam, wollte Plinius selbst besonnener vorgehen (4): Ego et modestius et constantius arbitratus immanissimum reum non communi temporum invidia, sed proprio crimine urgere. Nicht der allgemeine Hass, sondern ein konkreter Vorwurf (proprium crimen) gab für Plinius den Ausschlag für sein Handeln;33 allerdings wird auf diesen Vorwurf an keiner Stelle im Brief näher eingegangen – der allgemeine Leser kann nun schließen, dass der Adressat in der Rede selbst bereits ausführlich genug darüber informiert wurde; denkbar wäre jedoch auch, dass das Verbrechen des CertusPlinius der JüngereEpist. 9.13 vielleicht weniger schwer wog, als Plinius es darstellen wollte. Dem Rezipienten jedenfalls wird in diesem Abschnitt das Bild von einem Plinius vermittelt, der nicht nur trotz der Gefahren unter Domitian loyal zu dessen Opfern hielt, sondern auch während der turbulenten Zeit nach dem Tod des verhassten Kaisers34 objektiv und prinzipientreu zu bleiben vermochte – man fühlt sich an Tacitus’TacitusAnn. 1.1.3 Motto sine ira et studio zu Beginn der Annalen (1,1,3) erinnert.

Nach diesem Blick auf die öffentliche und politische Lage kommt als nächstes die private Situation des Epistolographen zur Sprache: Ein weiterer Punkt, der Plinius’ Handeln besonders selbstlos erscheinen lässt, ist die Trauer um seine kurz zuvor verstorbene Ehefrau (4: tum maxime tristis amissa nuper uxore);35 nicht einmal dieser Rückschlag konnte Plinius daran hindern, die nötigen Schritte zur Attacke gegen CertusPlinius der JüngereEpist. 9.13 einzuleiten. Vom ersten konkreten Handlungsschritt, den Plinius setzte, erfahren wir am Ende der langen Satzperiode, in der vom Abklingen des kollektiven Hasses und vom Verlust der Gattin berichtet wird (4: ego…arbitratus…urgere, cum…defremuisset et … redisset, quamquam…amissa nuper uxore): Vom Präteritum wechselt Plinius ins historischen Präsens, wenn er vom Treffen mit Anteia, der Frau des Helvidius,36 bei sich zuhause erzählt (mitto ad Anteiam…rogo, ut veniat).37 Von dieser Besprechung gibt Plinius nur seine eigenen Worte in direkter Rede wieder, was der Szene einen dramatischeren Charakter verleiht (5):

ut venit, ‘destinatum est’ inquam ‘mihi maritum tuum non inultum pati. nuntia Arriae et Fanniae’ – ab exsilio redierant –, ‘consule te, consule illas, an velitis ascribi facto, in quo ego comite non egeo; sed non ita gloriae meae faverim, ut vobis societate eius invideam.’

Plinius ist also fest entschlossen, Helvidius zu rächen, und beauftragt Anteia, auch Arria und Fannia darüber zu informieren und mit ihnen zusammen zu überlegen, ob sie Plinius gemeinsam unterstützen wollen; seine Aussage, er wolle den Frauen ihren Anteil am Ruhm nicht missgönnen (ut vobis societate eius invideam) steht in Kontrast zur communis temporum invidia, die vorhin erwähnt wurde.38 Anteia selbst bleibt in dieser Unterredung eine muta persona, und im Gegensatz zur Wiedergabe von Plinius’ eigenen Worten wird ihre Reaktion sowie diejenige Arrias und Fannias stark gerafft erzählt (5): perfert Anteia mandata, nec illae morantur.39

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