Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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Der Erfolg seiner noch unvollendeten Rede, so PliniusPlinius der JüngereEpist. 4.9, habe ihn dazu bewogen, von einer Fortsetzung am zweiten Tag der Verhandlung abzusehen (10: mihi successus actionis silentium finemque suadebat).33 Detailliert schildert er seine Überlegungen, die ihn zu diesem Entschluss führten (10‒11): die bereits erzielte positive Wirkung, die nachlassenden Körperkräfte34 sowie der mögliche Überdruss beim Publikum (11: frigus…et taedium), nach einer Unterbrechung dem Redner noch einmal zuzuhören. Ein Vergleich mit einer Fackel, deren Feuer nur mühsam wieder entfacht werden kann, wenn es einmal erloschen ist, illustriert den Gedankengang (11): ut enim faces ignem assidua concussione custodiunt, dimissum aegerrime reparant, sic et dicentis calor et audientis intentio continuatione servatur, intercapedine et quasi remissione languescit. Es ist denkbar, dass Plinius das Fackel-Gleichnis an dieser Stelle mit Bedacht einfügt, wurde es doch, wie Seneca der ÄltereSeneca der ÄltereContr. 2.2.8 berichtet, bereits vom berühmten Redner Porcius Latro gebraucht und von dessen Bewunderer Ovid aufgegriffen (Contr. 2,2,8).35


adeo autem studiose Latronem audit ut multas illius sententias in versus suos transtulerit…memini Latronem in praefatione quadam dicere (quod scholastici quasi carmen didicerunt): ‘non vides, ut immota fax torpeat, ut exagitata reddat ignes? mollit viros otium, ferrum situ carpitur et rubiginem ducit, desidia dedocet.’ Naso dixit:
vidi ego iactatas mota face crescere flammas
et rursus nullo concutiente mori.

Das von Latro im Kontext der rhetorischen Deklamation verwendete Bild von der Fackel, deren Feuer durch Bewegung am Leben gehalten wird, bei Stillstand jedoch erlischt, hatte OvidOvidAm. 1.2.11‒12 offenbar inspiriert, es in den erotischen Zusammenhang des Amores-Gedichtes 1,2 zu übertragen (vv. 11‒12).36 Plinius wiederum verwendet das simile in einem rhetorischen Zusammenhang, jedoch nicht in dem der scholastici Latros und Senecas, sondern des „richtigen Lebens“ bei einem Repetundenprozess im Senat unter Trajan.37

Es genügt Plinius nun nicht, nur auf den Erfolg seiner zum Teil gehaltenen Rede hinzuweisen, sondern er schildert auch die Reaktion des BassusPlinius der JüngereEpist. 4.9 auf sein Vorhaben, nicht mehr weiter zu plädieren: Unter vielen Bitten und beinahe mit Tränen (12: multis precibus, paene etiam lacrimis) habe dieser Plinius angefleht, weiterzumachen, was er dann auch tat. Anders als zunächst befürchtet ging die Fortsetzung gut aus (12): bene cessit. inveni ita erectos animos senatus, ita recentes, ut priore actione incitati magis quam satiati viderentur. Anstatt frigus et taedium (11) zu verursachen konnte Plinius, so erfahren wir hier, den Appetit bei den Zuhörern sogar noch steigern.

Nach dieser ausführlichen Darstellung von Konzeption und actio seiner Rede Pro Basso erhöht Plinius das Erzähltempo deutlich, wenn es um die Schilderung der restlichen am Prozess beteiligten Redner geht. Sein Kollege Lucceius Albinus habe nach ihm gesprochen und das vorhergehende Plädoyer wunderbar ergänzt (13: tam apte, ut orationes nostrae varietatem duarum, contextum unius habuisse credantur). Während auf der Seite der Anklage zunächst Herennius Pollio instanter et graviter gesprochen habe, tat sich der schon zu Beginn des Briefes als delator charakterisierte Theophanes durch sein unverschämtes Auftreten hervor (14): Nach zwei redegewandten Konsularen habe er für sich noch zusätzliche Redezeit beansprucht, und damit nicht genug, verhielt er sich beim Hereinbrechen der Nacht ganz anders als Plinius tags zuvor: dixit in noctem atque etiam nocte inlatis lucernis. Es handelt sich hier sozusagen um nächtliche lucubratio im negativen Sinn.38 Auffällig ist zudem, dass Plinius im Verlauf dieses Briefes wiederholt das Bild einer Fackel bzw. eines Lichts evoziert: Theophanes wird zunächst als fax accusationis bezeichnet (3), danach assoziiert Plinius den „drive“ einer Rede mit dem Leuchten bzw. Erlöschen einer Fackel (11), und schließlich müssen während Theophanes’ überzogenem Plädoyer Lampen in den Gerichtssaal gebracht werden (14). Der Name Theophanes (aus θεός und φαίνω) bietet sich an für ein derartiges Spiel mit dem Bild von Licht und Feuer. Angesichts des vorhergehenden metaphorischen Gebrauchs des fax-Motives könnte man hier zudem interpretieren, dass das Feuer von Theophanes’ oratio sozusagen künstlich am Leben gehalten werden musste.

Die Ereignisse am dritten Tag der Verhandlung fasst Plinius nur sehr summarisch zusammen (15: postero die egerunt pro Basso Homullus et Fronto mirifice), bevor er sich wieder ausführlicher dem vierten Tag (15: quartum diem probationes occuparunt) und den in der finalen Abstimmung gestellten Anträgen widmet (16‒21). Während der designierte Konsul Baebius Macer39 forderte, BassusPlinius der JüngereEpist. 4.9 nach dem Repetundengesetz zu belangen (16), schlug Caepio Hispo40 als mildere Alternative vor, man solle den Angeklagten unter Wahrung seiner Senatorenwürde vor eine Richterkommission stellen (16)41 und setzte sich damit durch (18). Ein weiterer Antrag des Valerius Paulinus,42 der Caepio zustimmte und darüber hinaus noch eine Untersuchung gegen Theophanes erwirken wollte,43 wurde zwar von den meisten Senatoren gebilligt, von den Konsuln jedoch abgewiesen (20‒21).

In Form einer Ringkomposition greift Plinius am Ende des Briefes wieder Elemente aus der Einleitung auf (22): Nachdem der Senat entlassen worden war, habe eine große Menschenmenge Bassus unter viel Jubel empfangen, und zwar unter anderem deshalb: fecerat eum favorabilem renovata discriminum vetus fama notumque periculis nomen et in procero corpore maesta et squalida senectus. Wie schon am Anfang des Briefes, so erscheint Bassus auch hier als ein Opfer der flavischen Kaiser – dies legt der Begriff pericula nahe44 – und genießt dadurch das Wohlwollen seiner Zeitgenossen.45 Sein wechselvolles Schicksal spiegelt sich offenbar in der maesta et squalida senectus.46 Der letzte Teil des Briefes hingegen, in dem Plinius seinen Adressaten direkt anspricht (23: habebis) und das vorliegende Schreiben als ein πρόδρομον47 zur später folgenden, weitaus reichhaltigeren Rede (23: exspectabis orationem plenam onustamque, exspectabis diu) ankündigt, hat am Beginn des Briefes keine Entsprechung.

Wie sich gezeigt hat, spielt insbesondere am Ende des Briefes 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9 das Thema der Milde im Senat gegenüber einem Angeklagten, an dessen Drangsal unter den Flaviern man sich noch erinnern konnte, eine zentrale Rolle. So wird etwa dem für Bassus günstigeren Antrag des Caepio schon applaudiert, als dieser sich erst zu seiner Rede erhebt (18). Einen starken Kontrast zu dieser Schilderung einer Senatsverhandlung in trajanischer Zeit bildet die übernächste Epistel 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11,48 in der vom Inzest-Skandal um die Vestalin Cornelia erzählt wird.49 Der Willkür des Domitian (6: immanitate tyranni), der von Zorn erfüllt ist (5: fremebat enim…aestuabatque in ingenti invidia destitutus) und Cornelia ohne Anhörung verurteilt (6: absentem inauditamque damnavit incesti), steht das besonnen Vorgehen der Senatoren um Plinius in Epist. 4,9 gegenüber.Plinius der JüngereEpist. 4.9

Der Bithynien-Zyklus setzt sich fort mit Epist. 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 über das Repetundenverfahren gegen Rufus Varenus, von dem außerdem noch die Briefe 6,5, 6,13, 7,6 und 7,10Plinius der JüngereEpist. 5.20/6.5/6.13/7.6/7.10 handeln. Eine Verbindung zur Epist. 4,9 ist einerseits durch denselben Adressaten, Cornelius Ursus, gegeben und wird andererseits auch von Plinius selbst explizit betont (5,20,1): Iterum Bithyni: breve tempus a Iulio Basso, et Rufum Varenum proconsulem detulerunt, Varenum, quem nuper adversus Bassum advocatum et postularant et acceperant. Mit den Begriffen breve tempus und nuper wird suggeriert, dass zwischen der Anklage des Bassus und derjenigen des Varenus nur wenig Zeit verstrichen ist, tatsächlich dürften aber etwa drei Jahre vergangen sein.50 Überdies haben die Bithynier Varenus als Rechtsbeistand im Prozess gegen Bassus angefordert, wovon wir jedoch in Epist. 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9, nichts erfahren.51 Im Unterschied zu den bisherigen Berichten über Repetundenprozesse in Buch 2‒4 fällt der Brief 5,20 vergleichsweise kurz aus, was jedoch dadurch kompensiert wird, dass Plinius den weiteren Prozessverlauf in einer auf die Bücher 6 und 7 verteilten Briefserie bzw. in einer Art juristischer „Briefroman“ schildert. Was seine Position in Buch 5 betrifft, steht der „Vorschlussbrief“ 5,20 mit seinem Inhalt über eine Gerichtsverhandlung unter Trajan in auffälliger Opposition zu Epist. 5,1Plinius der JüngereEpist. 5.1, wo Plinius von einem Erbschaftsstreit unter Domitian und den damit verbundenen Gefahren für die Beteiligten (5,1,7: metu temporum) berichtet.52

Die in Epist. 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 beschriebene erste Phase der Verhandlung53 teilt sich auf zwei Tage auf: Zunächst fordern die Bithynier im Senat eine Untersuchung gegen Varenus, woraufhin dieser beantragt, zu seiner Verteidigung ebenfalls Zeugen vorladen zu dürfen (2) – ein ungewöhnlicher und vom Gesetz nicht geregelter Wunsch, wie Plinius später bemerkt (7: rem nec lege comprehensam nec satis usitatam). Diesem Antrag folgt der Einspruch der Bithynier sowie die Rede des Plinius, von der diesmal auffällig knapp berichtet wird (2): egi pro Vareno non sine eventu; nam bene an male liber indicabit. Ohne auf seine oratio und deren Argumentationslinien näher einzugehen, nimmt Plinius hier schon ihren Erfolg vorweg, überlässt jedoch das Urteil über ihre Qualität dem Leser der publizierten Version. Wie am Ende des Briefes nochmal betont wird, soll dieser als eine Art „Teaser“ für die Lektüre der Rede dienen (8: ut desideres actionem). Anstatt konkretere Ausführungen zu seiner Rede zu machen, stellt Plinius theoretische Reflexionen über die Unterschiede zwischen einer actio vor Gericht und einer verschriftlichen, für die Lektüre bestimmten Rede an (3):54 Während bei einer actio der Zufall in beide Richtungen herrsche (utramque in partem fortuna dominatur) und auch Aspekte wie memoria, vox, gestus, tempus ipsum sowie amor vel odium rei den Ausgang beeinflussen, sei eine Buchversion frei von diesen Dingen (liber offensis, liber gratia, liber et secundis casibus et adversis caret).

 

Mehr als über Plinius erfahren wir diesmal über die Rede seines Kontrahenten Fonteius Magnus55 aus Bithynien (4): respondit…plurimis verbis, paucissimis rebus. Dass Magnus zwar, wie die parallele Wortstellung hier unterstreicht, wortreich, jedoch ohne inhaltliche Substanz plädiert, macht ihn für Plinius zu einem typischen Vertreter griechischer Beredsamkeit: est plerisque Graecorum, ut illi, pro copia volubilitas: tam longas tamque frigidas perihodos uno spiritu quasi torrente contorquent. Bei vielen Griechen, so Plinius, sei anstelle der copia („Redefülle“)56 nur volubilitas („Zungenfertigkeit“) vorhanden, durch die sich die Worte in langen Perioden in einem einzigen Atemzug rasend schnell ergießen.57 Während der Begriff volubilitas bei Cicero noch nicht negativ konnotiert ist, verwenden ihn kaiserzeitliche Autoren häufiger, um jemandes Stil zu kritisieren.58 So dürfte PliniusPlinius der JüngereEpist. 5.20 die Antithese zwischen copia und volubilitas insbesondere QuintilianQuintilianInst. 10.1.8 entnommen haben (Inst. 10,1,8: nobis autem copia cum iudicio paranda est, vim orandi, non circulatoriam volubilitatem spectantibus),59 die Kritik an griechischen Rednern wiederum findet sich auch in SuetonsSuetonAug. 86.3 Beschreibung des Augustus. Dieser habe, so Sueton, Marcus Antonius kritisiert, weil dieser die inanis volubilitas asianischer Redner nachahmte (Aug. 86,3: an potius Asiaticorum oratorum inanis sententiis verborum volubilitas in nostrum sermonem transferenda?).60

Seinen Ausführungen über den Redestil des Fonteius Magnus fügt Plinius ein geistreiches Bonmot des Iulius Candidus61 hinzu, der zwischen loquentia und eloquentia zu unterscheiden pflege (5: non invenuste solet dicere aliud esse eloquentiam, aliud loquentiam) und sich dabei auf den berühmten Redner Marcus Antonius bezieht (si M. Antonio credimus): Nur wenige oder sogar niemand verfüge über eloquentia, während viele und insbesondere die Unverschämtesten (multis atque etiam impudentissimo cuique) die sogenannte loquentia besitzen.62 Zu diesen impudentissimi zählt sich auch Plinius selbst am Ende des Briefes in scherzhafter Weise, da er angeblich Gefahr laufe, die Neugierde seines Adressaten auf die Rede durch die Geschwätzigkeit des Briefes (epistulae loquacitate) zunichte zu machen.

Die am zweiten Tag des Prozesses gehaltenen Reden werden nur kurz zusammengefasst (6): Für Varenus habe Homullus63 callide, acriter, culte gesprochen, sein Gegner Nigrinus presse, graviter, ornate; der Redestil des zweiten Anklägers steht hierbei in auffälligem Kontrast zur loquacitas des Fonteius Magnus.64 Ebenfalls knapp berichtet PliniusPlinius der JüngereEpist. 5.20 von den Anträgen des designierten Konsuls Acilius Rufus65 und des Konsulars Cornelius Priscus66 (6‒7): Ersterer wollte den Bithyniern eine Untersuchung gewähren, ohne auf die Forderung des Varenus einzugehen, zweiterer gestand beiden Parteien zu, was sie forderten, und setzte sich damit durch. Dazu bemerkt Plinius, dass er und sein Mandant mit ihrer Forderung nach Zeugen zwar eine ungewöhnliche, jedoch gerechte Lösung erreicht hätten (7: impetravimus rem nec lege comprehensam nec satis usitatam, iustam tamen). Warum sie gerecht war, will Plinius im Brief nicht verraten (8):

quare iustam, non sum epistula exsecuturus, ut desideres actionem. Nam si verum est Homericum illud :

τὴν γὰρ ἀοιδὴν μᾶλλον ἐπικλείουσ᾽ ἄνθρωποι,

‹ἥ τις ἀκουόντεσσι νεωτ›άτη ἀμφιπέληται,

providendum est mihi, ne gratiam novitatis et florem, quae oratiunculam illam vel maxime commendat, epistulae loquacitate praecerpam .

Mit einem Homer-ZitatHomerOd. 1.351‒2, das deutlich als solches markiert ist (Homericum illud), will Plinius belegen, dass insbesondere neue Geschichten (gratiam novitatis) das Interesse des Publikums entfachen.67 Es handelt sich hier um Od. 1,351‒2, wo Telemachus seine Mutter Penelope zu überzeugen versucht, den Sänger Phemios weiter von der Heimfahrt der Griechen aus Troja (326‒7:HomerOd. 1.326‒7 νόστον ἄειδε λυγρόν) singen zu lassen, da dieser neue Stoff die Zuhörer besonders erfreue.68 Bemerkenswert ist hier nicht nur, dass Plinius wieder einmal Gedanken aus dem epischen Kontext in seine juristische Lebenswelt überträgt,69 sondern auch, dass er auf kommunikativer Ebene eigentlich das gegenteilige Ziel zu Telemachos verfolgt, sozusagen durch imitatio e contrario: Während der junge epische Held mit diesen Worten für eine Fortsetzung des Phemios-Gesangs plädiert, dienen sie Plinius zur Rechtfertigung, seinen Brief abzubrechen.70 Wenn Plinius seiner loquacitas Einhalt gebietet, lässt sich dies zugleich als closure-Motiv nicht nur für den Brief, sondern auch Buch 5 interpretieren, da Epist. 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 an vorletzter Stelle im Buch steht und der folgende Brief über den Tod des Iulius Avitus ebenfalls ein verbreitetes Schluss-Motiv beinhaltet.71Plinius der JüngereEpist. 5.20

Am Beginn der abermals an Cornelius Ursus gerichteten Epistel 6,5Plinius der JüngereEpist. 6.5, die den Varenus-Zyklus72 fortsetzt, wird deutlich auf Brief 5,20 zurückverwiesen und auch die zeitliche Nähe zwischen den beiden Schreiben betont (6,5,1):

Scripseram tenuisse Varenum, ut sibi evocare testes liceret; quod pluribus aequum, quibusdam iniquum et quidem pertinaciter visum, maxime Licinio Nepoti, qui sequenti senatu, cum de rebus aliis referretur, de proximo senatus consulto disseruit finitamque causam retractavit.

Was Plinius hier berichtet, ereignete sich in der Senatssitzung, die nicht lange auf die in Epist. 5,20 beschriebene folgte (sequenti senatu):73 Der ehemalige Prätor Licinius Nepos74 übte Kritik am zuletzt gefassten Senatsbeschluss (de proximo senatus consulto), der dem Varenus das Aufrufen von Zeugen gestattet hatte, und rollte die Angelegenheit noch einmal auf. Nepos forderte, die Konsuln mögen nach dem Vorbild der lex ambitus auch für die lex repetundarum beantragen, das Vorladen von Zeugen durch die beklagte Partei gesetzlich zu verankern (2).75 Daraufhin kam es zu einer hitzigen Debatte im Senat, die in einem Streit des Nepos mit dem Prätor Iuventius Celsus76 kulminierte (3‒7).

Plinius schildert das Geschehen diesmal weniger aus der Perspektive des Beteiligten als des Beobachters, dem das Verhalten seiner Kollegen im Senat mißfällt. Nicht nur, dass durch die altercatio zwischen Nepos und Celsus die übliche Abfolge der Redner und Reden gestört wurde,77 auch die Wortwahl der beiden Kontrahenten sorgte für Empörung bei Plinius (4‒5: neuter contumeliis temperavit. nolo referre, quae dici ab ipsis moleste tuli). Wie ein durch indignatio angetriebener Satiriker78 kritisiert er dann auch das Verhalten der im Senat Anwesenden, die bald diesen, bald jenen unterstützten und die Sitzung zu einer Art Schauspiel (5: ut in ludicro aliquo) entarten ließen. Besonders bitter war für Plinius jedoch Folgendes (6‒7):

mihi quidem illud etiam peracerbum fuit, quod sunt alter alteri, quid pararent, indicati. Nam et Celsus Nepoti ex libello respondit et Celso Nepos ex pugillaribus. tanta loquacitas amicorum, ut homines iurgaturi id ipsum invicem scierint, tamquam convenisset.

 

Da Celsus und Nepos nicht aus dem Gedächtnis sprachen, sondern sich schriftliche Notizen machten,79 wurden diese Aufzeichnungen dem jeweiligen Gegner durch die Geschwätzigkeit ihrer Anhänger bekannt; so kam es zu der grotesken Situation, dass jeder vorher schon wusste, was der andere sagen würde und der Streit sozusagen „verabredet“ war und geradezu nach einem Skript geführt wurde. Hatte Plinius schon in der Einleitung des Briefes 6,5Plinius der JüngereEpist. 6.5 direkt an 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 angeknüpft, so stellt er den Bezug auch am Ende her, indem er das Motiv der loquacitas aufgreift: Der geschwätzige Brief (epistulae loquacitas) in 5,20,8 findet auf intradiegetischer Ebene sein Pendant in den geschwätzigen Senatsmitgliedern (loquacitas amicorum), durch die ebenfalls der Inhalt einer Rede zu früh verbreitet wird. Während in Epist. 5,20 dem Adressaten (und auch dem allgemeinen Leser) eine schriftliche Rede angekündigt, jedoch noch vorenthalten wird (8: ut desideres actionem), haben Celsus und Nepos in Epist. 6,5 etwas Schriftliches zur Hand.Plinius der JüngereEpist. 6.5

Der „Varenus-Roman“ wird fortgesetzt in Epist. 6,13Plinius der JüngereEpist. 6.13, deren Beginn dem Leser suggeriert, eine Parallele zwischen dem vielgeplagten Varenus und dem homerischenHomerOd. 1.1‒4 Odysseus herzustellen (1): Umquamne vidisti quemquam tam laboriosum et exercitum quam Varenum meum?80 Plinius’ Mandant ist deshalb laboriosus et exercitus, weil die Bithynier den in 5,20 erwähnten Senatsbeschluss, der Varenus das Recht einräumte, Zeugen vorzuladen, anfochten (2). Nach einem Rededuell zwischen Claudius Capito, dem Anwalt der Bithynier, und Fronto Catius81 verhielt sich der Senat diesmal anders, als in Epist. 6,5 im Zusammenhang mit der Kritik des Nepos am selben senatus consultum geschildert wurde: Hatten sich die Senatoren bei der internen Debatte in 6,5 durch Streitsucht, Schmähungen und Geschwätzigkeit ausgezeichnet, bilden sie nun eine Einheit gegen die Bithynier: senatus ipse mirificus (3); sogar diejenigen, die damals bei der Abstimmung gegen den Antrag des Varenus gestimmt hatten, waren nun der Ansicht, dass der vom Senat gefasste Entschluss befolgt werden müsse (3‒4). Lediglich eine kleine Gruppe82 um den designierten Konsul Acilius Rufus83 hielt noch immer an ihrer früheren Meinung fest, dass Varenus keine Zeugen vorladen dürfe (5). Nicht nur, dass es sich hier um eine kleine Zahl von Abweichlern handelte (5: in hac paucitate), man belächelte auch ihre nur vorübergehende oder sogar vorgetäuschte Charakterfestigkeit (5: quorum temporaria gravitas vel potius gravitatis imitatio ridebatur).

Nachdem wir in nunmehr drei Briefen über den Varenus-Fall unterrichtet worden sind, kündigt Plinius am Ende der Epist. 6,13 an, dass der eigentliche Prozess noch gar nicht angefangen habe (6): Tu tamen aestima, quantum nos in ipsa pugna certaminis maneat, cuius quasi praelusio atque praecursio has contentiones excitavit. Die Entscheidungsschlacht stehe noch bevor, doch allein das Vorgeplänkel (praelusio atque praecursio)84 habe bereits derartige Auseinandersetzungen (contentiones)85 entfacht. Damit ist beim Leser die Neugier geweckt auf die Fortsetzung des „Varenus-Romans“ und die Rede, mit der Plinius wieder einmal brillierenPlinius der JüngereEpist. 6.13 wird.Plinius der JüngereEpist. 6.13 Bevor das nächste Kapitel dieses „Romans“ beginnt, streut Plinius einen BriefPlinius der JüngereEpist. 6.29 ein, in dem er allgemein über das Auftreten bei Prozessen reflektiert und einen Rückblick auf seine Tätigkeit als Advokat im Auftrag des Senats anstellt. Angeblich habe Thrasea Paetus, so erfahren wir in 6,29,86 drei Arten von Prozessen aufgelistet, die man übernehmen solle: entweder die von Freunden, oder aussichtslose oder beispielhafte (1: suscipiendas esse causas aut amicorum aut destitutas aut ad exemplum pertinentes). Zur letztgenannten Kategorie zählt Plinius diejenigen Fälle, die er erfolgreich im Auftrag des Senats vertrat (7: egi enim quasdam a senatu iussus, quo tamen in numero fuerunt ex illa Thraseae divisione, hoc est ad exemplum pertinentes) und zählt sie dann auf (8‒11):

adfui Baeticis contra Baebium Massam: quaesitum est, an danda esset inquisitio; data est. adfui rursus isdem querentibus de Caecilio Classico: quaesitum est, an provinciales ut socios ministrosque proconsulis plecti oporteret; poenas luerunt. accusavi Marium Priscum, qui lege repetundarum damnatus utebatur clementia legis, cuius severitatem immanitate criminum excesserat; relegatus est. tuitus sum Iulium Bassum, ut incustoditum nimis et incautum, ita minime malum; iudicibus acceptis in senatu remansit. dixi proxime pro Vareno postulante, ut sibi invicem evocare testes liceret; impetratum est.

Nach diesem im Stile einer AristiePlinius der JüngereEpist. 6.29 gehaltenen Katalog87 der Erfolge vor Gericht erwartet der Leser nun, auch im Fall des Varenus mehr über die rhetorischen Strategien zu erfahren, mit denen Plinius, wie zuvor in den anderen Repetundenprozessen, sein Ziel erreichen konnte. Umso mehr werden wir überrascht, dass in Epist. 7,6Plinius der JüngereEpist. 7.6 nicht Reden, sondern Schweigen zum Erfolg führt.

In Buch 7 nimmt der „Varenus-Roman“ eine unvorhergesehene Wendung (7,6,1): Rara et notabilis res Vareno contigit, si licet adhuc dubia – so eröffnet Plinius den an Macrinus88 gerichteten Brief 7,6. Die Bithynier haben ihre zu voreilig begonnene Anklage zurückgezogen, so wird erzählt (1: Bithyni accusationem eius ut temere incohatam omisisse narrantur). Dass es sich bei der Information um Hörensagen handelt, mag den Adressaten überraschen (‘narrantur’ dico?), und so erläutert Plinius, wie er davon erfahren hat: Ein Gesandter der Provinz sei in Rom (1: adest)89 und habe ein entsprechendes Dekret90 dem Kaiser, mehreren angesehenen Männern und auch den Anwälten des Varenus und somit auch Plinius selbst überbracht,91 wie der Epistolograph rhetorisch effektvoll darlegt (attulit…attulit…attulit). Doch unter den Bithyniern herrscht offenbar Uneinigkeit, da Fonteius Magnus hartnäckig auf der Anklage besteht (2: perstat tamen idem ille Magnus)92 und seinen Kollegen Nigrinus93 dazu gedrängt hat, von den Konsuln zu forden, dass Varenus seine Rechnungsbücher vorlegen solle.94

Im Folgenden (3‒7) schildert Plinius, mit welcher Strategie er dem VarenusPlinius der JüngereEpist. 7.6 beistand: Adsistebam Vareno iam tantum ut amicus et tacere decreveram (3).95 Als Grund für seine Schweigetaktik führt Plinius an, dass es widersinnig gewesen wäre, jemanden zu verteidigen, der erst gar nicht als Angeklagter auftreten sollte. Der Moment, in dem Plinius seine Zuhörer bei der Verhandlung überraschte, wird folgendermaßen beschrieben (4‒5):

cum tamen finita postulatione Nigrini consules ad me oculos rettulissent, ‘scietis’ inquam ‘constare nobis silentii nostri rationem, cum veros legatos provinciae audieritis.’ contra Nigrinus: ‘ad quem missi sunt?’ ego: ‘ad me quoque: habeo decretum provinciae.’ rursus ille: ‘potest tibi liquere.’ ad hoc ego: ‘si tibi ex diverso liquet, potest et mihi quod est melius liquere.’

Die Konsuln richteten ihren Blick erwartungsvoll auf Plinius, der jedoch auf ein Plädoyer für seinen Mandanten verzichtet; dennoch hören wir als Leser seine Stimme in diesem Brief: In direkter Rede trägt Plinius die Gründe für sein Schweigen vor und inszeniert damit sozusagen einen performativen Widerspruch auf narrativer Ebene. Die Konsuln hatten das Dekret der Provinz offenbar noch nicht erhalten und werden von Plinius auf die veri legati verwiesen. Darafhin folgt eine kurze altercatio mit Nigrinus, deren Pointe die Interpreten dieser Passage unterschiedlich deuten,96 in der aber offenbar die Beweiskraft bzw. Gültigkeit des decretum provinciae gegen die Argumente des Nigrinus ausgespielt wird; für Plinius hat das Dekret stärkeres Gewicht (quod est melius).

Nach diesem Wortwechsel trug der Gesandte Polyaenus die Gründe vor, warum man die Anklage fallen lassen wolle, und forderte, eine Entscheidung über das weitere Prozedere dem Kaiser zu überlassen (6).97 Auch in dieser Debatte, die hauptsächlich zwischen den Bithyniern Fonteius Magnus und Polyaenus geführt wurde, hielt sich Plinius mit Wortmeldungen sehr zurück (6: ipse raro et breviter interlocutus multum me intra silentium tenui).98 Eine Reflexion über beredtes Schweigen vor Gericht (7: accepi enim non minus interdum oratorium esse tacere quam dicere)99 stellt den Übergang her zu einer Art Gerichtsanekdote, durch die Plinius seinen Entschluss zu schweigen begründet. Der Epistolograph ruft sich einen Kapitalprozess in Erinnerung, bei dem er die Angeklagten verteidigte und ihnen durch Schweigen angeblich mehr nützte als durch eine ausgefeilte Rede (7: repeto me quibusdam capitis reis vel magis silentio quam oratione accuratissima profuisse). Dieser dem Varenus-BriefPlinius der JüngereEpist. 7.6 eingelegte Bericht (8‒13)100 stellt inhaltlich eine deutliche Klimax dar, da es sich hier um einen Mordprozess handelte, während bei Varenus erst geklärt werden muss, ob er überhaupt eines Repetundenvergehens angeklagt wird. Sherwin-White (1966: 19‒20) vermutet, dass die eingelegte Erzählung folgende Funktion erfüllen könnte: „It is possible that since the Varenus case did not allow Pliny to present himself in the Ciceronian role that he assumes for himself in the trials of II‒IV, he has expanded this letter to make the most of his achievements.“ Nicht nur innerhalb des betreffenden Briefes, sondern auch des Varenus-Zyklus, der nach 7,6 nur mehr mit dem kurzen Brief 7,10Plinius der JüngereEpist. 7.10 abgerundet wird, kommt die spannendste Erzählung zum Schluss und handelt eigentlich gar nicht mehr von der Angelegenheit um VarenusPlinius der JüngereEpist. 7.6.

Plinius gestaltet diese embedded narrative, deren dramatisches Datum ebenfalls in die Regierungszeit Trajans fallen dürfte,101 folgendermaßen: Auf eine kurze expositio (7: repeto…profuisse) folgt eine narratio (8‒12), die in zwei Abschnitte zerfällt (8‒9 und 10‒12), sowie eine conclusio (13), in der mit dem Motiv des Sich-Erinnerns ringkompositorisch auf die expositio zurückverwiesen wird (13: non facile me repeto…). Die narratio beginnt mit den Worten mater amisso filio (8) und wird dann durch eine Parenthese unterbrochen, in der Plinius seine Erzähltechnik rechtfertigt: quid enim prohibet, quamquam alia ratio scribendae epistulae fuerit, de studiis disputare? So wird dem Leser suggeriert, der Epistolograph habe sich während des Schreibens spontan und durch die aufkommende Erinnerung dazu entschieden, ein anderes Thema zu integrieren. Plinius setzt daraufhin seine Erzählung mit der Darstellung des Sachverhalts fort: Nach dem Tod ihres Sohnes hatte eine Mutter dessen Freigelassene, die zugleich ihre Miterben waren, wegen Testamentsfälschung102 und Giftmischerei beim Kaiser angezeigt, der dem Fall Iulius Servianus als Richter zuwies (8).103 Auf der Gegenseite hatte Plinius die Angeklagten verteidigt, und zwar vor einer riesigen Menschenansammlung (9: ingenti quidem coetu), die wegen des aufsehenerregenden Falles (causa notissima) und der ingenia clarissima auf beiden Seiten zusammengekommen war.104 Nachdem Plinius die Kulisse so eindrucksvoll geschildert hat, fallen die Ausführungen zur ersten Verhandlung sehr spärlich aus, denn wir erfahren lediglich das Ergebnis (9): finem cognitioni quaestio imposuit; quae secundum reos dedit. Am Ende der Untersuchung wurden die Angeklagten entlastet, womit der Fall entschieden war.105

Im zweiten Teil dieser Binnen-narratio berichtet Plinius von den Versuchen der Klägerin, das Urteil anzufechten: Nach einem nicht näher bestimmten Zeitraum suchte die Frau den Kaiser106 auf und behauptete, neue Beweise gefunden zu haben (10: postea mater adiit principem, adfirmavit se novas probationes invenisse). Dieser beauftragte Suburanus damit, die Verhandlung wieder aufzurollen, sollte es tatsächlich neue Erkenntnisse geben. Den folgenden Abschnitt (11) widmet Plinius dann einer Charakterisierung des Gegenanwalts Iulius Africanus, in die er ein Bonmot aus der Rhetorik-Geschichte einstreut. Über die Redegabe von Africanus’ Großvater107 habe Passienus Crispus108 einmal gesagt bene mehercule, bene; sed quo tam bene?109 und den jüngeren Iulius Africanus bezeichnet Plinius als einen iuvenis ingeniosus sed non parum callidus. In dem betreffenden Prozess habe Iulius Africanus seine Redezeit ausgeschöpft und beim Vorsitzenden Suburanus noch mehr Zeit beantragt: ‘rogo’, inquit, ‘Suburane, permittas mihi unum verbum adicere’. Auch hier warteten die Zuhörer auf eine ebenso wortreiche Antwort des Plinius (12: tum ego, cum omnes me ut diu responsurum intuerentur), der jedoch nur so viel sagte: respondissem…si unum illud verbum Africanus adiecisset, in quo non dubito omnia nova fuisse. Durch diese schlagfertige Bemerkung konnte PliniusPlinius der JüngereEpist. 7.6 zeigen, dass die Gegenpartei trotz langer Rede keine neuen Argumente vorzubringen hatte und eine Verteidigungsrede seinerseits daher hinfällig war. Damit nimmt er eine ähnliche Haltung ein wie der zuvor zitierte Passienus Crispus, der den älteren Iulius Africanus zwar für sein Redetalent gelobt, die Zweckmäßigkeit dieser Rede jedoch infrage gestellt hatte; so schreibt sich auch Plinius, dem wir hier als handelnder Figur begegnen, in die Reihe jener Redner ein, die man in der Antike als Exempla für rhetorische Schlagfertigkeit betrachtete.110