Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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Im folgenden Abschnitt (14‒17) legt Plinius dar, wie er mit Fabius Hispanus und Baebius Probus verfahren ist. Die beiden Helfer des Classicus stritten gar nicht ab, Verbrechen begangen zu haben, beriefen sich jedoch auf ihre Zwangslage (15: ut necessitati veniam precarentur…ad omne proconsulum imperium metu cogi).46 Daher musste Plinius beweisen, dass auch Beihilfe ein Verbrechen sei (14: ut constaret ministerium crimen esse).47 So wurde dem Gegenanwalt, Claudius Restitutus,48 die gesamte Basis seiner Argumentation entzogen, wie er sogar selbst zugegeben haben soll (16):

solet dicere Claudius Restitutus, qui mihi respondit, vir exercitatus et vigilans et quamlibet subitis paratus, numquam sibi tantum caliginis, tantum perturbationis offusum, quam cum praerepta et extorta defensioni suae cerneret, in quibus omnem fiduciam reponebat.

Plinius hat offenbar einen nachhaltigen Eindruck (solet dicere) bei seinem Kontrahenten – einem ansonsten versierten und schlagfertigen Anwalt ‒ hinterlassen, der noch nach dem Prozess49 eingesteht, völlig aus dem Konzept gebracht und „in Dunkel gehüllt“ worden zu sein.50 So lautete das Urteil denn auch, dass das Vermögen des ClassicusPlinius der JüngereEpist. 3.9 auf seine Tochter und die Provinzbewohner aufzuteilen sei, Hispanus und Probus für fünf Jahre verbannt werden sollten. Die actio prima endete also mit einem durchschlagenden Erfolg für Plinius (17): adeo grave visum est, quod initio dubitabatur an omnino crimen esset.

Nur kurz berichtet Plinius von der actio secunda (18), die wenige Tage später stattfand (post paucos dies) und in der der Schwiegersohn des Classicus angeklagt und freigesprochen, ein Tribun namens Stilonius Priscus hingegen verbannt wurde. Etwas ausführlicher schildert Plinius die actio tertia (19‒21), in der mehrere unbedeutendere Angeklagte (19: minores rei) zusammengenommen wurden. Aus dieser anonymen Menge sticht die Ehefrau des Classicus heraus, die Plinius zufolge verdächtig, jedoch schwer zu überführen war (19: sicut implicita suspicionibus ita non satis convici probationibus visa est),51 sowie die Tochter, gegen die Plinius am Schluss der Verhandlung keine Vorwürfe erheben wollte (20‒21). Was die Erzählzeit der actio tertia betrifft, befasst sich Plinius am längsten mit der Begründung, warum er Classicus’ Tochter nicht weiter zusetzen wollte: honestissimum credidi non premere immerentem (20). Im Rahmen einer rhetorischen Frage an den Senat argumentiert Plinius, dass er seine Rednergabe nicht gegen eine Unschuldige gleichsam wie eine Waffe richten wolle (21): consilium a senatu petebam, putaretne debere me, si quam haberem in dicendo facultatem, in iugulum innocentis quasi telum aliquod intendere. Durch das Bild der gegen den Hals einer Person gerichteten Waffe52 stellt Plinius einen Bezug her zu Epist. 1,20Plinius der JüngereEpist. 1.20.14, wo Regulus seine Prinzipien als Redner durch eine ähnliche Metapher illustrierte (14):

dixit aliquando mihi Regulus, cum simul adessemus: ‘tu omnia, quae sunt in causa, putas exsequenda; ego iugulum statim video, hunc premo.’ premit sane, quod elegit, sed in eligendo frequenter errat.

Im Unterschied zu eine Figur wie Regulus attackiert Plinius seine Opfer nicht wahllos – andernfalls könnte er sich dem Vorwurf der praevaricatio aussetzen, wie es später über Norbanus Licinianus erzählt wird (29‒34).53 Die Schilderung der actio tertia beschließt Plinius dann mit einem Selbstzitat aus der conclusio seiner Rede (21):54 postremo totum locum hoc fine conclusi: ‘dicet aliquis “iudicas ergo?”; ego vero non iudico, memini tamen me advocatum ex iudicibus datum.’

Mehrere Ebenen der Kommunikation sind hier zu unterscheiden: Plinius als Sprecher des Briefes (postremo…conclusi) zitiert PliniusPlinius der JüngereEpist. 3.9 den Redner (dicet…datum), der wiederum einen Interlokutor zu Wort kommen lässt (iudicas ergo?). Das Motiv der conclusio taucht im weiteren Verlauf des Briefes noch häufiger auf: Zunächst betont Plinius, dass dies das Ende des Massenprozesses gewesen sei (22: hic numerosissimae causae terminus fuit), bevor er von den anerkennenden Worten des Senats (23: industria, fides, constantia nostra…comprobata est) sowie den zahlreichen Mühen, die der Prozess bereitet habe, berichtet (24‒26). Den Zweck seiner ausführlichen Schilderung kommentiert Plinius schließlich mit den Worten non potui magis te in rem praesentem perducere (26) – der Adressat soll also durch die Anschaulichkeit der Darstellung bei der Brieflektüre sozusagen zum Prozessbeobachter werden, der absens zum praesens.55 Mit ähnlichen Argumenten begründet Plinius auch die Länge des Villenbriefes 5,6, in dem der Leser bei der Lektüre in die Rolle eines Besuchers und Spaziergängers schlüpft (5,6,41)Plinius der JüngereEpist. 5.6.41.56 Auf diese Überlegungen lässt Plinius dann abermals einen Einwand des Adressaten als fiktiver Interlokutor folgen (3,9,27):

dices: ‘non fuit tanti; quid enim mihi cum tam longa epistula?’ nolito ergo identidem quaerere, quid Romae geratur. et tamen memento non esse epistulam longam, quae tot dies tot cognitiones tot denique reos causasque complexa sit.

Die Worte, die Plinius seinem Adressaten Minicianus in den Mund legt, sind nahezu identisch mit denjenigen, die MartialMartial2 praef. seinen Adressaten Decianus in der praefatio zu Buch 2 der Epigramme äußern lässt:

Val. Martialis Deciano suo sal.

‘Quid nobis’ inquis ‘cum epistola? parum enim tibi praestamus, si legimus epigrammata?…noli ergo, si tibi videtur, rem facere ridiculam…’ quid si scias cum qua et quam longa epistula negotium fueris habiturus?

Decianus, der Widmungsträger von Buch 2 der Epigramme, stellt eine Kombination von Epigrammbuch und Prosaepistel infrage und bezeichnet überdies auch die Lektüre der Epigramme selbst, für die ja Kürze ein Charakteristikum ist, als mühevoll.57 Auch bei Plinius unterminiert der Adressat den literarischen Wert des Briefinhalts (non fuit tanti). Plinius scheint die Korrespondenz Martials mit Decianus bewusst zu evozieren, wenn er das Problem umfangreicher Briefe diskutiert.58 Für Martial bietet der Einwand seines Interlokutors den Anlass, die Epistel abzubrechen und zum eigentlichen Inhalt, den Epigrammen, überzuleiten. Der mit dem Martial-Text vertraute Leser könnte nun erwarten, dass Plinius seinen Brief hier ebenfalls abbrechen wird, doch weit gefehlt: Plinius täuscht die Erwartungen, indem er noch zwei Nachträge zu seinem Prozessbericht anhängt.59

Sowohl in Epist. 3,9,27Plinius der JüngereEpist. 3.9 als auch 5,6,41Plinius der JüngereEpist. 5.6.41 ist es nicht der Verfasser, der mit der Komposition eines zu langen Briefes die Gattungskonventionen sprengt, sondern der geschilderte Gegenstand (Prozess bzw. Villa), der die Länge des Textes rechtfertigt. Gemessen an seiner materia könne daher auch ein langer Brief dem Ideal der brevitas entsprechen (3,9,28): quae omnia videor mihi non minus breviter quam diligenter persecutus (vgl. 5,6,43Plinius der JüngereEpist. 5.6.43 über Homer und Vergil: brevis tamen uterque est, quia facit, quod instituit).60 Wenn Plinius kurz darauf eine Einschränkung hinsichtlich seiner diligentia machen muss, da er etwas zu erwähnen vergessen hat (28: temere dixi ‘diligenter’: succurrit, quod praeterieram, et quidem sero), suggeriert er den Eindruck eines mündlichen Gesprächs, bei dem das voreilig Gesagte gleich wieder korrigiert werden kann. War der Prozessverlauf bisher chronologisch erzählt worden, so soll jetzt in Form eines Hysteron-Proteron ein Nachtrag erfolgen (28: sed quamquam praepostere, reddetur), ein Stilmittel, das Plinius nun in Anlehnung an Homer anwenden will (28: facit hoc Homerus multique illius exemplo). Zu den multi, die Homers Beispiel gefolgt sind, gehört auch CiceroCiceroAtt. 1.16, der in Epist. 1,16 an Atticus auf dessen Bitte ebenfalls einen langen Bericht über einen Prozess liefert ‒ hier ist es der Bona-Dea-Prozess, in dem Cicero als Zeuge auftrat und Clodius überraschend freigesprochen wurde ‒ und diesen mit den Worten respondebo tibi ὕστερον πρότερον, Ὁμηρικῶς (1) einleitet.61 Atticus hatte gebeten, Cicero möge darlegen, wie der Prozess so unerwartet ausgehen konnte (1: quaeris ex me, quid acciderit de iudicio, quod tam praeter opinionem omnium factum sit) und warum er selbst weniger als gewohnt „mitgekämpft“ habe (quo modo ego minus, quam soleam, proeliatus sim). Cicero antwortet zunächst auf die zweite Frage und geht erst im Anschluss auf die erste ein (2: ut iam πρὸς τὸ πρότερον revertar). Plinius dürfte diese Stelle bewusst imitieren62 und zugleich den narrativen Duktus bei Cicero umkehren: Während dieser das Hysteron-Proteron an den Beginn seines Briefes an Atticus stellt, baut es Plinius am Ende seiner Erzählung ein.

 

Es fallen noch weiter Parallelen zwischen Ciceros Brief über Clodius und Plinius Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 auf: Beide haben das (freilich brieftopische) Motiv des absens-praesens gemeinsam, wenn Cicero bemerkt, dass er sich bei der Verhandlung die Anwesenheit seines Freundes als Zuschauer gewünscht hätte (1: te non solum auctorem consiliorum meorum, verum etiam spectatorem pugnarum mirificarum desideravi), und Plinius, wie bereits erwähnt, ähnliches durch seine Erzählkunst bewirken will (3,9,26). Beide Autoren weisen zudem auf die brevitas hin, mit der sie dem jeweiligen Adressaten die Ereignisse schildern (Plin. Epist. 3,9,28: quae omnia videor mihi non minus breviter…persecutus; Cic. Att. 1,16,6: habes, ut brevissime potui, genus iudici et causam absolutionis) bzw. stellen die Länge der im Senat gehaltenen Rede dem Umfang des Briefes gegenüber (Cic. Att. 1,16,10: sed quid ago? paene orationem in epistulam inclusi; vgl. Plin. Epist. 3,9,27). Auch das Motiv der Ohnmacht, die bei den Gegnern ausgelöst wurde (Cic. Att. 1,16,5: fractus reus et una patroni omnes conciderunt; vgl. Plin. Epist. 3,9,16), taucht in beiden Texten auf. Betrachtet man Ciceros Epist. 1,16CiceroAtt. 1.16 an Atticus als einen Prätext für die Erzählung vom Classicus-Prozess bei Plinius, dann gewinnt auch die zuvor betrachtete Passage 3,9,21 über die Tochter des Classicus eine zusätzliche Pointe: Plinius fragt die Senatoren, ob er seine Beredsamkeit wie eine Waffe (telum) gegen den Hals einer Unschuldigen richten solle (in iugulum innocentis). Bei Cicero findet sich eine ähnliche Metapher, wenn er das übereilte Handeln und die Selbstsicherheit des Anklägers Hortensius kritisiert, der meinte, Clodius könnte sogar „mit einem Schwert aus Blei“ vernichtet werden (1,16,2): ductus odio properavit rem deducere in iudicium, cum illum plumbeo gladio iugulatum iri tamen diceret. Vergleicht man die beiden Stellen, dann setzt sich Plinius durch sein besonnenes Vorgehen deutlich von Hortensius ab, der sich seiner Sache offenbar allzu sicher war.

Das von Plinius angekündigte Hysteron-Proteron besteht in einem Nachtrag über Norbanus Licinianus, einen Untersuchungsrichter der Provinz Baetica, der als Ankläger der Ehefrau des ClassicusPlinius der JüngereEpist. 3.9 von einem Zeugen wegen praevaricatio belangt wurde (29‒34).63 Die Angelegenheit erwähnt Plinius zum einen deshalb, weil man im Fall des Norbanus gegen die üblichen Konventionen vorging: Ließ man den Betroffenen in der Regel zuerst seine Anklage durchführen und untersuchte anschließend eine mögliche praevaricatio (30),64 musste sich Norbanus sofort verantworten (32) ‒ die Episode hätte Sherwin-White (1966: 236) zufolge chronologisch in den Kontext der prima actio gehört. Zum anderen trägt Plinius die Erzählung über Norbanus wohl bewusst an dieser Stelle nach, da sie ihm die Gelegenheit schafft, wieder einmal mehr oder weniger beiläufig die Herrschaftszeit Domitians ins Spiel zu bringen und ein Kontrastbild zu seiner eigenen Person zu konstruieren. Norbanus war angeblich u.a. deshalb verhasst, weil man sich im Senat noch gut an sein Verhalten während der Zeit Domitians erinnerte (31: tanta conflagravit invidia homo alioqui flagitiosus et Domitiani temporibus usus), in der er etwa die Ankläger des Salvius Liberalis unterstützt haben soll (33).65 So wird er, dessen ingenium Plinius als malum pravumque bezeichnet (32), letztendlich auf eine Insel verbannt (34)66, und Plinius konstatiert den paradoxen Ausgang, dass der Ankläger verurteilt, die Angeklagte freigesprochen wurde (34: accidit enim res contraria et nova, ut accusatore praevaricationis damnato rea absolveretur). Mit dem Motiv des überraschenden Ergebnisses dürfte sich Plinius abermals an Ciceros Atticus-Brief 1,16CiceroAtt. 1.16 anlehnen, wo ebenfalls vom iudicium…incredibili exitu die Rede ist (3). Auch scheint Plinius mit der Überleitung zum nächsten Abschnitt (35: quaeris, quid nos, dum haec aguntur?) eine ähnliche Formulierung in Ciceros Brief nachzuahmen (6: quaeris deinceps qui nunc sit status rerum et qui meus).

Plinius beendet die Episode mit einer Schilderung seiner eigenen Reaktion auf die Vorwürfe gegen Norbanus sowie dessen Verhalten während des weiteren Verfahrens (35). Norbanus habe die Untersuchung bis zum Ende verfolgt und dieselbe selbstsichere und verwegene Haltung an den Tag gelegt (35: eandemque usque ad extremum vel constantiam vel audaciam pertulit). Die constantia des Norbanus steht dabei als negatives Gegenbild derjenigen des Plinius gegenüber, wie sie vom Senat nach Abschluss der Verhandlung gelobt wurde (23: industria, fides, constantia nostra…comprobata est). Nachdem hier abermals das Ende des Prozesses explizit hervorgehoben worden ist (usque ad extremum), könnte man nun endlich mit dem Schluss des Briefes rechnen, doch Plinius zögert ihn erneut hinaus (36): interrogo ipse me, an aliquid omiserim rursus, et rursus paene omisi. Diesmal trägt er einen Vorfall nach, der sich am letzten Prozesstag (summo die) ereignet hat: Plinius musste den Gesandten aus Baetica gegen den von Salvius Liberalis geäußerten Vorwurf zu Hilfe kommen, dass sie dem Auftrag der Provinz, alle Beschuldigten zur Verantwortung zu ziehen, nicht hinreichend nachgekommen seien.67 Das epistolare „Epos“ (vgl. 28: Homerus) über die juristischen Kämpfe im Senat enthält zum Abschluss sogar eine Seesturm-Szene: mihi certe debere se praedicant, quod illum turbinem evaserint. Damit ist der Brief tatsächlich zu Ende (37: hic erit epistulae finis, re vera finis) und soll trotz möglicher Lücken in der Narration keinen weiteren Buchstaben mehr enthalten (litteram non addam, etamsi adhuc aliquid praeterisse me sensero).

Abgesehen von seiner Funktion als Prozessbericht lässt sich der Brief 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 auch auf einer metaliterarischen Ebene deuten:68 So finden sich bereits im exordium mehrere Begriffe, die darauf hinweisen, dass der folgende Text epische Ausführlichkeit und kallimacheische Ausgefeiltheit miteinander kombiniert: Umfang (perscribere; vgl. 27: longa epistula)69, Komplexität (multiplex),70 Vielfalt (varietas)71 und Mühe (labor)72 lassen sich neben dem dargestellten Prozess auch auf den Akt des Schreibens bzw. Erzählens beziehen. Indirekt wird zudem über narrative Aspekte wie Chronologie, Vielschichtigkeit, enárgeia, Vollständigkeit und Abgeschlossenheit einer Erzählung reflektiert. Diese Thematik greift Plinius am Ende seiner Sammlung nochmal auf: Epist. 9,4Plinius der JüngereEpist. 9.4 ist wieder an Macrinus, den Empfänger der Epist. 3,4, adressiert, und gibt sich als Begleitbrief zu einer Rede aus (1‒2):

vererer ne immodicam orationem putares, quam cum hac epistula accipies, nisi esset generis eius, ut saepe incipere saepe desinere videatur. nam singulis criminibus singulae velut causae continentur. poteris ergo, undecumque coeperis ubicumque desieris, quae deinceps sequentur et quasi incipientia legere et quasi cohaerentia, meque in universitate longissimum, brevissimum in partibus iudicare.

Wie bereits in Epist. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.473 tritt Macrinus auch hier als iudex-Figur auf (2: iudicare), diesmal ist sein literarisches Urteilsvermögen gefordert. Die hier geschilderte Rede sei zwar lang, so Plinius (1: immodicam; 2: in universitate longissimum), enthalte jedoch mehrere Anfänge und Schlüsse (1: saepe incipere saepe desinere), wodurch die Einzelteile wiederum dem Ideal der brevitas entsprechen (2: brevissimum in partibus)74 ‒ neben einer oratio trifft dies auch auf die Textualität der Briefsammlung zu. Es bietet sich an, einen BezugPlinius der JüngereEpist. 9.4 zur Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 herzustellen, wo die Hintergründe zur Rede In Caecilii socios dargelegt wurden und wir ähnlichen literarische Motiven begegnet sind.75 Das diesen Brief prägende Spiel mit Leser-Erwartungen, Schlüssen und Anfängen setzt sich fort, indem Plinius dem Classicus-Zyklus noch ein weiteres Element in Buch 9 hinzufügt.Plinius der JüngereEpist. 3.9

1.4 Der Bithynien-Zyklus

Nachdem sich Plinius in Buch 3 unter anderem als Lobredner für Trajan sowie als Ankläger im Repetundenprozess gegen Caecilius Classicus hervortat, führt er uns in Buch 4 seine Fähigkeiten als Verteidiger vor Augen. Dies erfolgt in dem gleich näher zu behandelnden Brief 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9 über den Prozess der Bithynier gegen Iulius Bassus sowie in Epist. 4,17Plinius der JüngereEpist. 4.17 über den Rechtsbeistand für Corellia Hispulla, die Tochter des Corellius Rufus.1 Abgesehen davon wird dem Leser in Buch 4 suggeriert, dass Plinius nun bereits auf eine beachtliche Karriere als Anwalt zurückblicken kann: In 4,5Plinius der JüngereEpist. 4.5 lesen wir vom Erfolg des auf zwei Tage aufgeteilten Vortrags einer nicht näher identifizierten Rede, in 4,16Plinius der JüngereEpist. 4.16 von der Begeisterung, die Plinius bei seinen Zuhörern im Zentumviralgericht auslöst, und 4,24Plinius der JüngereEpist. 4.24 enthält einen Rückblick auf Plinius’ langjährige Karriere in diesem Gerichtshof.2 Zudem schildert Epist. 4,22Plinius der JüngereEpist. 4.22 Plinius’ Tätigkeit als juristischer Berater im consilium Traiani, und im „Vorschlussbrief“ 4,29Plinius der JüngereEpist. 4.29 führt der Epistolograph die Figur des strengen Prätors Licinius Nepos in die Sammlung ein, dem wir in den Prozessberichten der Bücher 5 und 6 noch häufiger begegnen werden.3 Ein düsteres Kontrastbild zu den genannten Briefen liefert Epist. 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 über den Inzest-Vorwurf gegen die Vestalin Cornelia unter Domitian.

Wie schon in den Beschreibungen von Repetundenprozessen in Buch 2 und 3 zu beobachten war, handelt es sich auch bei Epist. 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9 um den längsten Brief innerhalb des betreffenden Buches. Bevor der lineare Leser diesen Text rezipiert, begegnet er zwei Briefen, in denen Plinius sich mit berühmten Rednern der Vergangenheit vergleicht. In 4,5Plinius der JüngereEpist. 4.5 greift er die schon in 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3 erzählte Anekdote von Aischines auf,4 der vor den Rhodiern unter großem Beifall zuerst seine Anklagerede gegen Ktesiphon vortrug und darauf die Kranzrede des Demosthenes folgen ließ (4,5,1). Während laut Plinius für die Rhodier sowohl die Qualität der Reden als auch der agonale Rahmen des Vortrags ausschlaggebend für ihre Begeisterung waren, habe er selbst eine zweitägige Rede gehalten, die auch ohne den Kontext einer aemulatio großen Anklang gefunden habe (2–3: quamvis intentionem eorum nulla hinc et inde collatio, nullum quasi certamen accenderet…nostra oratio sine aemulationis gratia probabatur). Diese Bemerkung erinnert an eine Stelle in CicerosCiceroAtt. 1.16.8 Atticus-Brief 1,16,5 wo ebenfalls über den Reiz des Wetteifers reflektiert wird – dort ist er allerdings ein wichtiger Teil des Briefes, der von Ciceros Wortgefecht mit Clodius berichtet (8): nam cetera non possunt habere eandem neque vim neque venustatem remoto illo studio contentionis, quem ἀγῶνα vos appellatis. Es scheint, als würde Plinius die Worte Ciceros korrigieren wollen, wenn er von seiner oratio schreibt, die auch ohne certamen reizvoll war.

 

Explizit genannt wird Cicero in Epist. 4,8Plinius der JüngereEpist. 4.8, wo es um die Ernennung des Plinius zum Augur geht und dieser seine eigene öffentliche und literarische Karriere mit derjenigen Ciceros vergleicht (5): ut sacerdotium idem, ut consulatum multo etiam iuvenior quam ille sum consecutus, ita senex saltem ingenium eius aliqua ex parte adsequi possim! Rühmt sich Plinius damit, in jüngeren Jahren als Cicero das Priesteramt und die Konsulwürde erlangt zu haben, kompensiert er dieses Selbstlob mit dem Wunsch, sich wenigestens als alter Mann mit Ciceros ingenium messen zu können.6 Das in Epist. 4,5Plinius der JüngereEpist. 4.5 thematisierte Motiv der aemulatio taucht hier in etwas abgewandelt Form wieder auf, und auch der auf Epist. 4,8 folgende Brief über den Prozess des Iulius BassusPlinius der JüngereEpist. 4.9 führt den Gedanken des Wetteifers mit kanonischen Rednern zumindest indirekt fort.

Am Ende des Briefes 4,5, den Plinius als Begleitschreiben für seine Rede an Iulius Sparsus7 richtet, äußert er sich über Kürze der Epistel und Länge der Rede (3‒4):

…cum legeris librum, cuius amplitudo non sinit me longiore epistula praeloqui. oportet enim nos in hac certe, in qua possumus, breves esse, quo sit excusatius, quod librum ipsum, non tamen ultra causae amplitudinem, extendimus.

Einer ohnehin schon umfangreichen Rede soll kein übertrieben langes Begleitschreiben hinzugefügt werden. Wie wir schon im Rahmen der Analyse von Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 beobachten konnten, lehnt sich Plinius hier abermals an MartialsMartial2 praef. praefatio zu Buch 2 der Epigramme an, wo das Problem einer zu langen Prosaepistel diskutiert wird.8 Sowohl Plinius als auch der Epigrammatiker sehen ihren Adressaten zuliebe davon ab, die Epistel zu sehr in die Länge zu ziehen. Der Leser hat nun mehrere Möglichkeiten, die in Epist. 4,5 nur vage beschriebene Rede zuzuordnen, und könnte etwa durch die Anspielung auf Martial einen Rückbezug zur oratio in Caecilii socios in Epist. 3,9 herstellen.9 Denkbar ist jedoch auch, dass hier auf die in 4,9 geschilderte Rede für Bassus vorausverwiesen wird,10 wobei sich die Chronologie ihres mündlichen Vortrags (als Rezitation in 4,5 bzw. actio vor Gericht in 4,9) allerdings umkehrt.Plinius der JüngereEpist. 4.5

Mit Epist. 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9 beginnt ein Briefzyklus über Repetundenprozesse, die von der Provinz Bithynien gegen ihre ehemaligen Statthalter angestrebt wurden.11 Mit Ausnahme von Epist. 4,9, wo Iulius Bassus in der Rolle des Angeklagten auftritt, ist es in den restlichen Briefen dieser Serie (5,20, 6,5, 6,13, 7,6 und 7,10Plinius der JüngereEpist. 5.20/6.5/6.13/7.6/7.10; vgl. 6,29,11) Rufus Varenus, den Plinius gegen die Bithynier verteidigen muss.12 Wie sich zeigt, nimmt das Bithynien-Thema und die Frage nach der korrekten Verwaltung dieser Provinz bereits in den Büchern 1‒9 der Briefsammlung einen nicht unerheblichen Raum ein, sodass man von einer Art „prequel“ zu Buch 10Plinius der JüngereEpist. 10 sprechen kann,13 in dem uns Plinius dann selbst als Statthalter begegnen wird. Indem Plinius sich ausgerechnet im Zusammenhang mit Bithynien nicht als Ankläger, sondern als Verteidiger präsentiert, bereitet er den Leser darauf vor, dass die Administration einer Provinz mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden sein kann, und dass ein Repetundenverfahren auch Personen treffen konnte, die sich nichts Gravierendes zu Schulden hatten kommen lassen. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass es den Bithyniern geradezu ein sportliches Vergnügen bereitete, ihre Statthalter nach deren Amtszeit wegen Repetundenvergehens anzuklagen (vgl. 5,20,1: Iterum Bithyni: breve tempus a Iulio Basso, et Rufum Varenum proconsulem detulerunt…).

Epist. 4,9Plinius der JüngereEpist. 4.9 ist an Cornelius Ursus gerichtet, der auch die Briefe 5,20, 6,5 und 6,13Plinius der JüngereEpist. 5.20/6.5/6.13 über den Varenus-Fall erhält.14 Im Unterschied zu den bisher betrachteten Prozess-Briefen hält sich Plinius hier mit keiner Einleitung auf, die den Adressaten in den Bericht einbindet, sondern kommt gleich zur Sache (1): causam per hos dies dixit Iulius Bassus. Die Junktur per hos dies suggeriert, dass die Abfassungszeit des Briefes und das dramatische Datum seines Inhalts nur wenige Tage auseinander liegen.15 Nach diesem kurzen Hinweis auf das Thema des Briefes liefert Plinius Hintergrund-Informationen zu Iulius Bassus, insbesondere sein wechselhaftes Schicksal zur Zeit der Flavier und danach (1‒2): Unter Vespasian wurde Bassus von zwei Privatleuten angeklagt16 und nach zunächst ungewissem Ausgang des Verfahrens freigesprochen, Titus musste er fürchten wegen seiner Freundschaft mit Domitian,17 der ihn später jedoch verbannte. Von Nerva wurde er zurückgeholt und erlangte später durch das Los Bithynien, aus dem er nun als Angeklagter zurückkehrte. Bevor Plinius mit einer ausführlicheren Beschreibung des Prozesses beginnt, fasst er dessen Verlauf in wenigen Worten zusammen (2): accusatus non minus acriter quam fideliter defensus. varias sententias habuit, plures tamen...mitiores. Den heftigen Vorwürfen der Ankläger (acriter) steht in chiastischer Anordnung die Zuverlässigkeit der Verteidigung (fideliter) gegenüber.

Über den Inhalt der Anklage verliert Plinius zunächst nicht viele Worte, stattdessen geht er kurz auf die Person seiner Kontrahenten ein (3): Egit contra eum Pomponius Rufus, vir paratus et vehemens; Rufo successit Theophanes, unus ex legatis, fax accusationis et origo. Viel ausführlicher hingegen schildert Plinius seine eigene Rede (4‒12): Zunächst berichtet er, dass BassusPlinius der JüngereEpist. 4.9 ihm aufgetragen habe, als grundlegende Argumente der Verteidigung (4: defensionis fundamenta)18 sowohl über seine Vorzüge als Person zu sprechen (4: de ornamentis…et ex generis claritate et ex periculis ipsis)19 als auch eine Verschwörung gegen ihn ins Feld zu führen (5): dicerem de conspiratione delatorum, quam in quaestu habebant, dicerem causas, quibus factiosissimum quemque, ut illum ipsum Theophanen, offendisset. Das Motiv der conspiratio, die aus Geldgier und persönlichen Animositäten von bithynischen Denunzianten20 und Parteigängern um die Figur des Theophanes herum initiiert worden sei, steigert die Dramatik der Erzählung. Indem Plinius hier von den niedrigen Beweggründen der delatores berichtet, die zur Anklage des Bassus führten, animiert er den Leser dazu, auch in der Fortsetzung des Bithynien-Zyklus in Epist. 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20.1 über Varenus einen ähnlichen Hintergrund zu vermuten, wenn es heißt Bithyni…et Rufum Varenum proconsulem detulerunt (1).

Nur andeutungsweise spricht Plinius dann von Vorwürfen, die sich zwar schlimm anhörten (5: auditu gravioribus),21 aber sogar zum Vorteil des Angeklagten gedeutet werden konnten (non absolutionem modo, verum etiam laudem merebatur). Eine Sache jedoch, die Bassus tatsächlich belastete (5: crimini, quo maxime premeretur; 6: hoc illum onerabat), musste der Verteidigung mehr Kopfzerbrechen bereiten: Er hatte von den Provinzialen Geschenke angenommen (6), obwohl dies vom Gesetz her verboten war (7: sed lex munera quoque accipi vetat).22 Plinius versuchte nun, dieses Verhalten mit dem arglosen und unvorsichtigen Charakter des Bassus zu begründen (6: homo simplex et incautus quaedam…ut amicus acceperat) und der Version der Anklage, die das Ganze zu Diebstahl und Raub stilisierte (6: haec accusatores furta et rapinas, ipse munera vocabat), entgegenzuhalten. Doch es blieb immer noch das Problem, dass sich auch die Annahme von Geschenken nicht mit dem Gesetz vereinen ließ.

Im Rahmen seines Berichts über die Suche nach der richtigen Verteidigungsstrategie fokalisiert Plinius dann wieder stark auf seine eigene Person (7‒9). Innerhalb einer Reihe von Deliberativen spielt er die verschiedenen Möglichkeiten durch, die sich aus der rhetorischen Statuslehre ergeben:23 Den Tatbestand gänzlich zu leugnen (7: negarem?) gemäß dem status coniecturalis hätte vielleicht den Vorwurf des Diebstahls noch bekräftigt (7: verebar, ne plane furtum videretur, quod confiteri timerem), zumal die Tat zu offensichtlich war (rem manifestam) und der Angeklagte selbst mehreren Leuten von der Geschenkannahme erzählt hatte (multis atque etiam principi dixerat…munuscula…accepisse). Auch die Option der deprecatio, d.h. der Bitte um Nachsicht bzw. Gnade (8: veniam ergo peterem?), musste Plinius verwerfen, da ein solches Vorgehen den Anschein eines besonders schwerwiegenden Verbrechens noch verstärkt hätte (8: iugulassem reum, quem ita deliquisse concederem, ut servari nisi venia non posset). Hätte Plinius die Tat wiederum der constitutio absoluta entsprechend als gerechtfertigt verteidigt (8: tamquam recte factum tuerer?), wäre dadurch seine eigene Glaubwürdigkeit unterminiert worden (8: non illi profuissem, sed ipse impudens extitissem). Angesichts dieser Schwierigkeiten entschied sich Plinius für einen Mittelweg (9: placuit medium quiddam tenere),24 den er jedoch nicht mehr genauer erläutert; aus den vorhergehenden Ausführungen lässt sich vermuten, dass er das Verhalten des BassusPlinius der JüngereEpist. 4.9 zwar nicht gutheißen, jedoch als kein wirklich schlimmes Vergehen darstellen wollte.25

Anstatt näher auf die gewählte Taktik einzugehen, berichtet Plinius im Folgenden von den Rahmenbedingungen seiner Rede. Wurde durch die zuvor betrachtete Reihe der Deliberative unsere Neugier darauf geweckt, für welche Argumentationslinie Plinius sich nun entschieden hatte, ist im nächsten Satz ein guter Teil der Rede schon gehalten und durch die Nacht unterbrochen worden (9: actionem meam, ut proelia solet, nox diremit) – möglicherweise eine Reminiszenz ans Epos, wo öfters Kampfparteien durch die hereinbrechende Nacht getrennt werden.26 Was die einzelnen officia oratoris betrifft, macht Plinius hier also einen weiten Sprung: Während die Statuslehre, auf die der Epistolograph in 4,9,7‒9 anspielt, von den antiken Lehrbüchern meistens im Zusammenhang mit der inventio, d.h. dem ersten Arbeitsschritt, behandelt wird,27 lesen wir als nächstes schon von der actio sowie den Reaktionen darauf. Wie schon in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11 zu beobachten war,28 spielt auch hier wieder das Thema der Redezeit eine wichtige Rolle. Plinius habe bereits dreieinhalb Stunden gesprochen, als die Nacht einbrach (9: egeram horis tribus et dimidia), und eineinhalb Stunden wären ihm noch übrig geblieben (supererat sesquihora).29 Von den insgesamt neun Stunden, die für die Verteidigung vorgesehen waren (für die Anklage dagegen sechs),30 wurden Plinius vom Angeklagten fünf zugewiesen, seinem Kollegen Lucceius Albinus31 dagegen die restlichen vier (ita diviserat tempora reus inter me et eum, qui dicturus post erat, ut ego quinque horis, ille reliquis uteretur).32