Epistolare Narrationen

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Z serii: Classica Monacensia #55
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1.2 Prozesse unter Trajan: Szenen vor Gericht in Buch 2

Mit dem BriefpaarPlinius der JüngereEpist. 2.11/12 2,11‒121 begegnen wir zum ersten Mal der ausführlichen Schilderung einer Verhandlung, die unter Kaiser Trajan stattfand: dem Repetundenprozess gegen Marius Priscus, den Statthalter der Provinz Africa.2 Plinius stilisiert diesen Prozess zum ersten großen Fall in der Briefsammlung, obwohl er davor schon Baebius Massa in einem Repetundenprozess angeklagt hatte – eine nähere Beschreibung dieses Falles folgt allerdings erst in Epist. 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33.3 Hatte sich Plinius in Buch 1 vermehrt als Sympathisant der Opposition gegen Domitian charakterisiert, begegnet er uns in Buch 2 als jemand, der die Ideologie des neuen Kaisers Trajan tatkräftig unterstützt: „2.11 displays in its central panel Trajan overseeing exemplary justice, with P. as avenger. The implication is subtle but clear: the return of good governance, and the cardinal role of P. in its execution“ (Whitton 2013a: 156).4

Die beiden Briefe über Priscus stechen innerhalb der Sammlung formal schon insofern heraus, als hier unmittelbar hintereinander derselbe Inhalt behandelt wird und derselbe Adressat auftaucht: Maturus Arrianus, an den Plinius bereits den „Paradebrief“ 1,2Plinius der JüngereEpist. 1.2 gerichtet hatte.5 Wurden in dem früheren Brief an Arrianus nur stilkritische Fragen zu einer ansonsten nicht näher identifizierten Rede erörtert6, so erfahren wir in Epist. 2,11‒12 viel über die Hintergründe des Prozesses, jedoch kaum etwas zu Inhalt und stilistischer Ausgestaltung der Rede, die Plinius bei dieser Gelegenheit hielt. Außerdem handelt es sich bei Epist. 2,11 um den zweitlängsten Brief in Buch 27, sodass es naheliegt, diese Erzählung vom spektakulären Priscus-Prozess dem längsten Brief des Buches, Epist. 2,17Plinius der JüngereEpist. 2.17 über Plinius’ laurentinische otium-Villa, gegenüberzustellen.8 Überdies leitet Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 die zweite Buchhälfte ein (Buch 2 umfasst 20 Briefe) und steht auch in dieser Hinsicht an exponierter Stelle.9

Der Brief beginnt mit einer Einleitung, in der zunächst die kommunikative Situation zwischen Plinius und seinem Adressaten thematisiert wird (1): Plinius, der sich in Rom aufhält, schreibt an den zwar im secessus befindlichen aber dennoch an politischen Ereignissen interessierten Arrianus10 von einer kürzlich abgehaltenen Senatsverhandlung (per hos dies) ‒ sie fand im Januar 100 statt11 ‒, die aufgrund der Stellung der Person in aller Munde (personae claritate famosum), durch das abschreckende Beispiel heilsam (severitate exempli salubre) und wegen der Bedeutung des Streitfalls unsterblich (rei magnitudine aeternum) sei.12 Mit dem letzten Glied in diesem Trikolon knüpft Plinius motivisch an Epist. 2,10Plinius der JüngereEpist. 2.10 an, wo es um die Unsterblichkeit durch Dichtung ging – nun ist Plinius drauf und dran, sich als Redner in einer denkwürdigen Senatsverhandlung zu profilieren.

Nach diesem Proömium folgt die narratio, innerhalb derer Plinius zunächst das Vorgeplänkel zur Hauptverhandlung schildert (2‒9):13 Marius Priscus wurde von der Provinz Africa, deren Prokonsul er 97‒98 n. Chr. gewesen war, angeklagt, bekannte sich des Repetundenvergehens schuldig und bat um die Einsetzung einer Senatskommission (d.h. eines Kollegiums von fünf Richtern) gemäß dem SC Calvisianum. Damit wollte er vermeiden, dass der Senat eine umfassendere Untersuchung anstellte, in der auch von Priscus begangene Kapitalverbrechen – v.a. Todesurteile gegen Geld ‒ geahndet würden.14 Plinius und Tacitus (2: ego et Cornelius Tacitus adesse provincialibus iussi)15 vertraten die Interessen der Provinz16 und argumentierten, dass die von Priscus begangenen Verbrechen die Befugnisse der Senatskommission überschritten. Es kam zu einer lebhaften Debatte (3‒4), an deren Ende sich der Antrag des designierten Konsuls Iulius Ferox durchsetzte, dass man Priscus zwar die Senatskommission bewilligen solle, aber auch seine Handlanger, denen er angeblich die Bestrafung Unschuldiger verkauft habe, herbeiholen müsse (5‒6). PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.11/12 schließt die Beschreibung der ersten Vorverhandlung mit Gedanken zum unterschiedlichen Verhalten des Einzelnen während des Geschreis der Masse bzw. während diese schweigt (7).

Die zeitliche Distanz, die zwischen dieser Senatssitzung und der nächsten liegt, wird von Plinius stark gerafft, wenn er den folgenden Abschnitt mit den Worten venerunt, qui adesse erant iussi (8) einleitet: Aus Afrika hat man Vitellius Honoratus und Flavius Marcianus vorgeladen, ein Vorgang, der vermutlich einige Monate in Anspruch genommen haben dürfte.17 Diesen beiden Handlangern des Marius Priscus wird vorgeworfen, für Geld die Verbannung, Bestrafung und Hinrichtung römischer Ritter erkauft zu haben (8).18 Den Honoratus ereilt eine mors opportuna noch vor der Senatsverhandlung, Marcianus wird in den Senat geführt, doch man beschließt, den abwesenden Priscus herbeizuholen, damit sich beide in der nächsten Senatssitzung gemeinsam verteidigen können (9).

Besonders anschaulich beschreibt Plinius die Hauptverhandlung im Januar 100 (10‒22), in die auch sein eigener Auftritt als Redner fällt. Im Gegensatz zum vorangegangenen Abschnitt, in dem der Epistolograph das Geschehen eher nüchtern erzählt, wird nun stärker auf seine eigene Wahrnehmung als handelnde Figur fokalisiert. Der Leser beobachtet den Prozess-Auftakt sozusagen durch die Augen des PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.11/12, wenn dieser vom conspectus augustissimus berichtet, den nicht zuletzt die Anwesenheit des Kaisers in seiner Funktion als Konsul, der die Sitzung leitet, bewirkt19, und von der zahlreich im Senat versammelten Menge erzählt (10):

ad hoc Ianuarius mensis cum cetera tum praecipue senatorum frequentia celeberrimus; praeterea causae amplitudo auctaque dilatione exspectatio et fama, insitumque mortalibus studium magna et inusitata noscendi, omnes undique exciverat.

Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass der Gerichtssaal zum Platzen voll ist: Der Monat Januar als ein in Rom besonders geschäftiger Zeitraum, die Bedeutung des Falles, die durch seine Vertagung bewirkte Spannung, das Gerede darüber und die Neugierde der Leute auf Großes und Ungewöhnliches. Deutlich sind die Bezüge zu Ciceros RedeCiceroSest. 72 Pro Sestio (72):20

veniunt Kalendae Ianuariae. vos haec melius scire potestis, equidem audita dico: quae tum frequentia senatus, quae exspectatio populi, qui concursus legatorum ex Italia cuncta, quae virtus, actio, gravitas P. Lentuli consulis fuerit, quae etiam conlegae eius moderatio de me.21

Plinius eröffnet die Ekphrasis der Gerichtshalle in ciceronischem Stil22 und schafft überdies einen Rückbezug zur Epistel 2,10Plinius der JüngereEpist. 2.10 an Octavius Rufus, wo sich der Epistolograph dessen Erfolg beim Rezitieren seiner Gedichte ausmalt (2,10,7): Imaginor enim qui concursus quae admiratio te, qui clamor quod etiam silentium maneat.23 Auch durch das Bild der durch den Aufschub des Prozesses gesteigerten Spannung des Publikums ist ein Bezug zur Epist. 2,10Plinius der JüngereEpist. 2.10 hergestellt, denn die noch unveröffentlichten Gedichte des Octavius Rufus werden bereits mit Spannung erwartet (2,10,2): Magna et iam longa exspectatio est, quam frustrari adhuc et differre non debes. Was Plinius dem Dichter Octavius Rufus in Aussicht stellt, wenn er denn endlich einmal seine Verse vorzulesen geruht, wird für ihn selbst als Redner in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 zur Realität – man kann somit die in Epist. 2,10 artikulierten Gedanken als eine Art foreshadowing zum folgenden, die zweite Buch-Hälfte eröffnenden Brief über den Priscus-Prozess interpretieren.

Nachdem Plinius den Rahmen, innerhalb dessen die Verhandlung stattfindet, visualisiert hat, fokalisiert er im folgenden Abschnitt stärker auf seine Gefühle und Gedanken kurz vor seiner Rede (11‒12). Während in Epist. 2,10 Plinius selbst derjenige ist, der sich vor seinem geistigen Auge eine in der Zukunft liegende Szenerie ausmalt (7: imaginor), fordert er in Epist. 2,11 seinen Adressaten Arrianus dazu auf, sich die vergangene Situation vorzustellen (11): Imaginare quae sollicitudo nobis, qui metus, quibus super tanta re in illo coetu praesente Caesare dicendum erat…tunc me tamen ut nova omnia novo metu permovebant. Der Leser ist nun angehalten, sich in den vom Lampenfieber ergriffenen Plinius24 hineinzuversetzen und das Geschehen aus dessen Perspektive mitzuerleben. Die Angst des Plinius25 steht in Spannung zu der vorher beschriebenen Erwartung und Neugier der Zuhörer. Auch die ehemalige Stellung des Angeklagten Marius Priscus (12: modo consularis, modo septemvir epulonum, iam neutrum), dessen Sturz einiges an Mitleid hervorrufen konnte, bereitet Plinius Sorgen (12‒13) – er antizipiert die möglichen Reaktionen vor seinem geistigen Auge (12: obversabatur)26 und entspricht somit als handelnde Figur seinem Adressaten bzw. Leser im Hinblick auf das Imaginieren einer bestimmten Situation.

Die eindrucksvolle Schilderung von Prozess-Kulisse und Innensicht des Plinius als handelnde Figur dient im narrativen Zusammenhang nicht zuletzt der Steigerung der Spannung beim Leser auf die Rede des Plinius vor Kaiser und Senat. Von dieser actio wird uns ziemlich genau in der Mitte des Briefes27 berichtet (14‒15):

Utcumque tamen animum cogitationemque collegi, coepi dicere non minore audientium adsensu quam sollicitudine mea. dixi horis paene quinque; nam duodecim clepsydris, quas spatiosissimas acceperam, sunt additae quattuor. adeo illa ipsa, quae dura et adversa dicturo videbantur, secunda dicenti fuerunt. Caesar quidem tantum mihi studium, tantam etiam curam (nimium est enim dicere sollicitudinem) praestitit, ut libertum meum post me stantem saepius admoneret voci laterique consulerem, cum me vehementius putaret intendi, quam gracilitas mea perpeti posset.

 

Wir erfahren hier nichts über Inhalt oder Argumentationsstruktur der Rede, sondern werden gleich im ersten Satz – in Form eines Hysteron-Proteron – auf die Reaktion der Zuhörer hingewiesen: Natürlich findet Plinius’ Rede positive Resonanz beim Publikum (adsensu).28 Außerdem geht Plinius näher auf die Redezeit ein, die man ihm gewährte: Anstelle des in Repetundenprozessen der Kaiserzeit üblichen Zeitmaßes von insgesamt sechs Stunden für die Anklage (d.h. je drei für Plinius und Tacitus)29 durfte Plinius alleine fast fünf Stunden sprechen.30 Dies wird indirekt als Verdienst des Kaisers dargestellt31 und steht in inhaltlichem Kontrast zum Brief 6,2Plinius der JüngereEpist. 6.2, der ebenfalls an Arrianus gerichtet ist und in dem sich Plinius über die gängige Praxis seiner Zeitgenossen, nur wenig Redezeit zu gewähren oder zu verlangen, beschwert und diesem Vorgehen dasjenige der maiores entgegenhält, bei denen mehrere Stunden, Tage und Vertagungen für Gerichtsverhandlungen vorgesehen wurden (6: tot horas, tot dies, tot comperendinationes). Ähnlich wie Kaiser Trajan in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 stellt auch Plinius als Richter den Rednern so viel Zeit zur Verfügung, wie sie brauchen (6,2,7): equidem quotiens iudico, quod vel saepius facio quam dico, quantum quis plurimum postulat aquae, do. Zumindest indirekt können wir über die stilistische Ausgestaltung der oratio Mutmaßungen anstellen, wenn wir uns an den Inhalt der Epistel 1,20Plinius der JüngereEpist. 1.20 zurückerinnern: In diesem an Tacitus gerichteten Brief kritisiert Plinius allzu begeisterte Anhänger rhetorischer brevitas und bezeichnet unangebrachte Kürze sogar als Pflichtverletzung (2: praevaricatio):32 alioqui praevaricatio est transire dicenda, praevaricatio etiam cursim et breviter attingere, quae sint inculcanda, infigenda, repetenda. Der gedankliche Inhalt dieser Aussage wird stilistisch umgesetzt, indem Plinius durch die Wiederholung des Begriffs praevaricatio und das asyndetische Trikolon inculcanda, infigenda, repetenda das Motiv des Einhämmerns und Wiederholens rhythmisch untermalt.

Nachdem sich Plinius in 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 über die Reaktion der Zuhörer sowie seine Redezeit geäußert hat, rückt als drittes die Person des Kaisers in den Blick, der sich angeblich um Plinius’ Gesundheit sorgte – ein Freigelassener musste Plinius immer wieder ermahnen, es nicht zu übertreiben. Wenn sich Plinius in diesem Zusammenhang als gracilis charakterisiert,33 soll man hier sicherlich berühmte Redner wie Cicero und Demosthenes assoziieren, deren Körperbau ebenfalls nicht besonders robust gewesen sein soll.34 Die körperliche gracilitas des Plinius steht, so dürfen wir vermuten, wohl in Kontrast zur Länge und stilistischen Ausgestaltung seiner Rede.35

Nachdem wir erfahren haben, dass die erzählte Zeit der Rede, die Plinius vor Kaiser und Senat hielt, beinahe fünf Stunden umfasste, lohnt sich auch ein Blick auf die Erzählzeit, die der Epistolograph diesem Auftritt widmet: Über die Antwortrede seines Kontrahenten erfahren wir nur in einem kurzen Satz (16): respondit mihi pro Marciano Claudius Marcellinus – dann bricht auch schon die Nacht ein und der Senat wird entlassen. Mit keinem Wort äußert sich Plinius über Inhalt, Länge oder Wirkung der Rede seines Gegners. Auch die Erzählung des zweiten Verhandlungstags erfolgt in ähnlich raffender Weise: Immerhin sind es nun ein paar kurze Bemerkungen, die Plinius zu den Reden der Verteidiger des Priscus, Salvius Liberalis und Fronto Catius,36 sowie zu seinem Kollegen Tacitus macht (17‒18): Salvius Liberalis ist ein vir subtilis, dispositus, acer und disertus, der all seine Kunstgriffe anzuwenden versteht, Tacitus antwortet ihm eloquentissime et…σεμνῶς (17); in dem Adjektiv subtilis ist möglicherweise ein Hinweis auf die von Salvius Liberalis bevorzugte Stilart, das genus subtile, enthalten, dem Tacitus mit seiner rhetorischen σεμνότης bzw. gravitas37 gegenübersteht. Auf diese beiden positiv charakterisierten Rednerfiguren folgt Fronto Catius, der zwar insigniter spricht, jedoch zu viel Zeit auf Bitten als auf die eigentliche Verteidigung38 verwendet (18). Abermals beendet der Abend die Verhandlung, und man fährt am nächsten Tag mit der Beweisaufnahme fort. Vor der Beschreibung dieses Tages konstatiert PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.11/12 erfreut: iam hoc ipsum pulchrum et antiquum, senatum nocte dirimi, triduo vocari, triduo contineri (18) – die Senatsverhandlung unter Trajan mit ihrer spezifischen zeitlichen Struktur (Redezeit, Verhandlungszeit) läuft ganz nach dem Ideal der antiquitas39: „Thus the use of time in its many different dimensions makes the trial a rare throwback to the tempora of the republic, a throwback partly mediated through the memory of Augustus as the exemplary princeps“ (Ker 2009: 293).

Am dritten Tag stellt der designierte Konsul Cornutus Tertullus40 den Antrag, man solle Marius Priscus zu einer Zahlung von 700000 Sesterzen an die Staatskasse verurteilen und ihn aus Rom und Italien verbannen, seinen Helfer Marcianus außerdem noch aus Afrika. Am Ende seines Antrags hebt er hervor quod ego et Tacitus iniuncta advocatione diligenter et fortiter functi essemus, arbitrari senatum ita nos fecisse, ut dignum mandatis partibus fuerit (19) ‒ durch die Wiedergabe von Tertullus’ Worten über den gemeinsamen Auftritt von Plinius und Tacitus ist der Rückbezug zum Anfang des Briefes hergestellt (2: ego et Cornelius Tacitus). Es folgt dann die Schilderung der Debatte, innerhalb welcher Pompeius Collega einen Gegenantrag stellt, und der Abstimmung, bei der sich Tertullus durchsetzt (20‒22). Plinius schließt die Erzählung der Hauptverhandlung ab mit einem Bericht über das Verhalten des M. Regulus, der sich bei dieser Abstimmung als äußerst unzuverlässig erwies (22: mobile ingenium), nachdem er zuerst auf der Seite des Pompeius Collega41 war, dann aber zu Tertullus überlief. Dies ist die einzige Stelle, wo Plinius seinen Antagonisten Regulus im Senat auftreten lässt – mit seiner Erwähnung schließt die Haupterzählung des Briefes sowie später auch das zweite Buch (vgl. 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20).42

In einem Epilog (23‒24) spricht PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.11/12 dann von einem λιτούργιον non leve (23)43, das noch zu leisten übrig sei: Im Verlauf der Verhandlung trat belastendes Material gegen Priscus’ Legaten Hostilius Firminus zutage, dessen Fall in der nächsten Senatssitzung (24: proximo senatu) verhandelt werden solle. Der Schluss des Briefes (25) führt uns dann ringkompositorisch an den Anfang zurück, indem hier erneut die Person des Adressaten ins Spiel kommt (habes res urbanas). Nachdem wir zusammen mit Plinius (und Arrianus – vgl. 11: imaginare) geistig den römischen Senat betreten haben, lenkt Plinius den Blick jetzt wieder aufs Land (invicem rusticas scribe – vgl. 1: secesseris), erkundigt sich nach arbusculae, vineae, segetes und oves und fordert Arrianus auf, mit einem ebenso langen Brief (aeque longam epistulam) zu antworten – andernfalls werde Plinius nur mehr kurze Briefe (brevissimam) schreiben.

Dem Motiv der Kürze begegnen wir auch am Anfang des folgenden Briefes wieder, der die Fortsetzung zu 2,11 bildet und so den juristischen Briefroman über die Priscus-Verhandlung komplettiert.44 Das in 2,11,25 angekündigte λιτούργιον über den Fall des Firminus ist kürzer ausgefallen als erwartet (2,12,1: circumcisum tamen et adrasum)45, und auch der Brief an Arrianus ist diesmal deutlich weniger umfangreich als der vorhergehende Text46 – offenbar hat Arrianus noch nicht geantwortet (vgl. 2,12,7). Den zeitlichen Abstand zwischen diesem und dem letzten Brief deutet Plinius durch das Adverb proxime (1) an, womit ein Zeitraum von etwa drei Wochen gemeint sein dürfte;47 in 2,12,6 vermutet Plinius aus der mittlerweile verstrichenen Zeit (ex spatio temporis), dass Arrianus den Brief 2,11 schon erhalten hat, und bittet ihn abermals um eine ausführliche Antwort, diesmal auf beide Briefe (7: tuae nunc partes, ut primum illam, deinde hanc remunereris litteris, quales istinc redire uberrimae possunt).48

Die eigentliche narratio über die Senatssitzung, in der über Firminus verhandelt wird, fällt relativ kurz aus: Wir erfahren, dass Cornutus Tertullus den Antrag stellt, Firminus aus dem Senatorenstand auszuschließen, und Acutius Nerva49 vorschlägt, ihn bei der Auslosung der Provinzen nicht zu berücksichtigen (2). Diesmal siegt der scheinbar mildere Antrag des Acutius Nerva, was Plinius dazu veranlasst, im Hauptteil des Briefes seiner indignatio über diese Entscheidung Ausdruck zu verleihen (3‒5): In einer Reihe von quid-Fragen (3‒4)50 argumentiert er, dass es in Wahrheit die härtere Bestrafung sei, zwar Mitglied des Senatorenstandes zu bleiben, aber von den Privilegien dieses ordo abgeschnitten zu sein. Zum Schluss wird der Ton wieder etwas ruhiger, wenn Plinius in Anlehnung an den Staatsphilosophen CiceroCiceroRep. 6.4 pointiert resümiert, dass in der gängigen Abstimmungspraxis die Stimmen zwar gezählt, jedoch nicht gegeneinander abgewogen würden (5: numerantur enim sententiae, non ponderantur)51 und in einer öffentlichen Versammlung nichts so ungleich sei wie die Gleichheit (nihil…tam inaequale quam aequalitas ipsa).52

Im Unterschied zu Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 fällt auf, dass Plinius in 2,12 überhaupt nicht als Akteur in der Verhandlung über Firminus auftritt; stattdessen begegnet er uns als Prozess-Beobachter und -Kommentator. Zumindest aus dem positiven Bild, das Plinius in 2,11,19 und an anderer Stelle von Cornutus Tertullus zeichnet53, können wir schließen, dass er zu der Gruppe von Senatoren gehörte, die in der Abstimmung auf der Seite des Tertullus standen und unterlagen. Begegnet uns in Epist. 2,11 der erfolgreiche Plinius, thematisiert das companion piece 2,12 seinen Misserfolg.54 Hat Epist. 2,11 die Form einer langen narratio, ist der folgende Brief wieder stärker im loqui-Stil gehalten, und Anspielungen auf Werke wie Ciceros De re publica rufen die Theorie vom Brief als Hälfte eines Dialogs ins Gedächtnis.

Obwohl Plinius schon vor dem Prozess gegen Marius Priscus im Repetundenverfahren gegen Baebius Massa (vgl. 1,7Plinius der JüngereEpist. 1.7 und 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33) aufgetreten war und der Prozess gegen Caecilius Classicus (vgl. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 und 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9) etwa zur selben Zeit stattfand wie derjenige gegen Priscus55, verteilt der Epistolograph die betreffenden Briefe über diese Ereignisse auf verschiedene Bücher ohne Rücksicht auf die Chronologie.56 Wir bekommen hier – natürlich in sehr selektiver Weise – Hintergrundinformationen zu den Reden, die Plinius bei diesen Anlässen hielt: „Pliny becomes, in effect, a sort of commentator, his own Asconius“ (Mayer 2003: 230). Die Kommentierung eines Autors ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu seiner Kanonisierung; indem Plinius epistolare Kommentare zu seinen eigenen Reden liefert (dazu lassen sich auch Briefe über stilkritische Fragen zählen) und diese als nur für den betreffenden Adressaten bestimmte Neuigkeiten aus der Stadt (res urbanae) „tarnt“, betreibt er indirekt seine Selbstkanonisierung als Redner.Plinius der JüngereEpist. 2.11/12

Wie schon zuvor erwähnt, geht Plinius in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 mit keinem Wort auf den Charakter seiner Rede ein, wohingegen der Redestil des Tacitus sowie der gegnerischen Anwälte zumindest kurz umrissen wird (2,11,17‒18). Erst die Lektüre des Briefes 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19, in dem Plinius von einer Rede, die er in einem Repetundenprozess gehalten hat (8), berichtet, suggeriert dem Leser einen Zusammenhang mit Epist. 2,11.57 Der Brief 2,19 ist an einen Cerialis gerichtet, bei dem es sich um den in 2,11,9 erwähnten Konsular Tuccius Cerialis handeln könnte58, sodass auch über den Adressatennamen ein Rückbezug zu dieser Epistel bestünde. Cerialis hatte Plinius aufgefordert, eine Rede vor Freunden zu rezitieren (1: hortaris, ut orationem amicis pluribus recitem), was den Epistolographen dazu veranlasst, den Unterschied zwischen vor Gericht gehaltenen und im Rezitationssaal vorgetragenen Reden zu erörtern59 und auf die Beschaffenheit seiner Gerichtsrede näher einzugehen. Der Brief steht innerhalb des Buches an vorletzter Stelle und behandelt zum ersten Mal innerhalb des Korpus Plinius’ Rolle als Rezitator seiner eigenen Reden,60 was wohl nicht zufällig wenige Briefe nach der Schilderung des spektakulären Priscus-Prozesses erfolgt. Zudem verweist das Brief-Incipit hortaris ut verbal zurück auf den Beginn der ersten EpistelPlinius der JüngereEpist. 1.1.1 (1,1,1: frequenter hortatus es, ut), sodass Buch 1 und 2 durch das Motiv des Aufforderns zum Publizieren bzw. Rezitieren gerahmt sind.61 Auch der Anfang von Epist. 2,5Plinius der JüngereEpist. 2.5 wird aufgegriffen (1: actionem et a te frequenter efflagitatam et a me saepe promissam exhibui tibi), wo Plinius als Lobredner auf seine Heimat Comum in Erscheinung tritt und seinen Adressaten Lupercus um Emendation dieser Rede bittet.62 Das Briefpaar 2,11‒12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 über den Priscus-Prozess wird also von zwei jeweils durch fünf bzw. sechs Briefe getrennten Episteln über theoretische Fragen zu Stil, Lektüre und Rezitation von Reden eingerahmt.

 

In Epist. 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19 legt Plinius dar, dass sich eine vor Gericht gehaltene Rede durch folgende Faktoren gegenüber einer vorgelesenen auszeichne (2):

iudicum consessus, celebritas advocatorum, exspectatio eventus, fama non unius actoris diductumque in partes audientium studium, ad hoc dicentis gestus, incessus, discursus etiam, omnibusque motibus animi consentaneus vigor corporis.

Neben den hier aufgezählten63 Rahmenbedingungen, die eine bestimmte Atmosphäre im Gerichtssaal erzeugen (Versammlung der Richter, große Zahl der Anwälte, Neugierde auf den Ausgang, Berühmtheit der Redner, geteilte Sympathien der Zuhörer) sind es vor allem der Körperausdruck und die Bewegungen des Redners, die den Unterschied zu einer im Sitzen vorgetragenen Rede (3) ausmachen.64 Bei letzterer seien die wichtigsten Hilfsmittel des Redners, seine Augen und Hände, stark eingeschränkt (4). Ähnliche Ausführungen zur stärkeren Wirkung einer gehaltenen bzw. gehörten Rede gegenüber einer gelesenen oder vorgetragenen hatte Plinius in Epist. 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3 im Rahmen des Porträts vom Redner Isaeus65 gemacht (9): altius tamen in animo sedent, quae pronuntiatio, vultus, habitus, gestus etiam dicentis adfigit. Um dies zu exemplifizieren, bringt Plinius im selben Brief die berühmte Anekdote von AischinesAischinesOr. 3.167, der bei den Rhodiern unter großer Bewunderung die Kranzrede des Demosthenes vorgelesen hatte66 und dann zugestehen musste (10): τί δέ, εἰ αὐτοῦ τοῦ θηρίου ἠκούσατε; et erat Aeschines si Demostheni credimus λαμπροφωνότατος. Dieselbe Episode lesen wir bei CiceroCiceroDe orat. 3.213 in De orat. 3,213, wo das Apophthegma des Aischines allerdings auf Latein zitiert wird: quanto…magis miraremini, si audissetis ipsum!67 Indem Plinius Aischines auf Griechisch sprechen lässt, scheint er insinuieren zu wollen, dass seine VersionPlinius der JüngereEpist. 2.3 höhere Authentizität besitzt.68 Die Ausführungen des Epistolographen über den stärkeren Effekt der actio gegenüber der recitatio in Epist. 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19 lassen den linearen Leser somit an den Anfang des zweiten Briefbuches zurückdenken und eine Parallele zwischen den Reden des Plinius und denjenigen des Demosthenes herstellen.

Nach den theoretischen Überlegungen zu actio und recitatio äußert sich Plinius zur stilistischen Ausgestaltung seiner Rede: sie sei pugnax et quasi contentiosa (5) sowie austera et pressa (6), was dem Geschmack des Publikums einer Rezitation, das dulcia et sonantia (6) vorziehe, nicht entgegenkomme.69 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, so fährt Plinius fort, können seine Rede vielleicht durch ihre Neuartigkeit bei den Römern (7: novitas apud nostros) Gefallen finden, da er hier in umgekehrter Analogie (7: quamvis ex diverso, non tamen omnino dissimile) eine Strategie aus der griechischen Gerichtspraxis adaptiert habe: Dort sei es üblich gewesen, Gesetze, die mit älteren Gesetzen im Widerspruch standen, durch Vergleich mit anderen Gesetzen zu widerlegen ‒ eine Anspielung auf die γραφὴ παρανόμων, wie sie etwa im Prozess zwischen Demosthenes und Aischines um den von Ktesiphon für Demosthenes vorgeschlagenen Kranz im Zentrum steht;70 DemosthenesDemosthenesOr. 18 argumentiert in seiner Verteidigungsrede für Ktesiphon u.a. durch den Verweis auf Präzedenzfälle, dass der Angeklagte den Kranz für ihn nicht gesetzeswidrig beantragt habe.71 In Anlehnung an diese griechische Praxis habe PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.19 nachzuweisen versucht, dass seine Anklage nicht nur durch das Repetundengesetz, sondern auch andere Gesetze gestützt würde (8).72 Eine Anklage wie diejenige gegen Marius Priscus wird somit zu einem Fall stilisiert, wie ihn die großen attischen Redner hätten behandeln können. Plinius’ Vorgehensweise, so erfahren wir, stelle innerhalb des römischen Gerichtswesens eine Neuheit dar, wie sie nur von wahren Kennern der Materie (8: apud doctos) goutiert werden könne. Neben den intradiegetischen Zuhörern, die Plinius für seine Rezitation vorschweben, dürfte auch der allgemeine lector doctus der Briefsammlung gemeint sein, der – hinreichende Bildung in griechischer Rhetorik vorausgesetzt – die Anspielung auf Rechtsfälle wie denjenigen um Ktesiphon zu erkennen und einen Bezug zu der in Epist. 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3 erzählten Demosthenes-Anekdote herzustellen vermag.Plinius der JüngereEpist. 2.19

Als Kontrastbild zur Senatsverhandlung des Priscus-Falles, die Plinius zufolge dem Ideal der antiquitas entsprechend abgehalten wurde, begegnen wir einer Szene im Zentumviralgericht, von der wir in Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 lesen.73 Nur durch einen Brief – 2,13Plinius der JüngereEpist. 2.13 an einen Priscus (!)74 – sind die beiden völlig unterschiedlichen Schilderungen zeitgenössischer Gerichtspraxis getrennt. Wurde in Epist. 2,11–12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 von einem „Highlight“ aus Plinius’ juristischer Karriere erzählt, zeichnet der Brief 2,14 an Maximus75 ein Porträt vom tristen Alltag.76 Anders als der Aufsehen erregende Priscus-Fall (2,11,1: actum…personae claritate famosum, severitate exempli salubre, rei magnitudine aeternum), spielt sich im Zentumviralgericht nichts Spannendes ab (2,14,1): Die meisten Fälle (causae) seien parvae et exiles; raro incidit vel personarum claritate vel negotii magnitudine insignis; deutlich sind hier die Anklänge an den Beginn von Epist. 2,11. Durfte Plinius die Anklage gegen Priscus zusammen mit einem Redner wie Tacitus bestreiten, so gibt es im Zentumviralgericht kaum mehr Kollegen, mit denen er plädieren will (2: ad hoc pauci, cum quibus iuvet dicere). Die Anordnung der Briefe im Buch suggeriert dem Leser somit eine zeitliche Progression bzw. vermittelt den Eindruck von einer Art Verfall der Redekunst. Die in Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 geschilderten Verhandlungen dürften jedoch vor dem Priscus-Fall anzusetzen sein: In Epist. 10,3aPlinius der JüngereEpist. 10.3a lesen wir, dass Plinius die praefectura aerarii Saturni übernommen hat und für die Zeit seiner Amtsausübung – diese wird von Sherwin-White (1966: 75‒8) auf Januar 98 bis Ende August 100 n. Chr. datiert ‒ auf Tätigkeiten als Advokat verzichtet;77 lediglich für die Anklage gegen Marius Priscus bittet Plinius um eine Ausnahme beim Kaiser. In Brief 2,14 wiederum sagt Plinius von sich, dass er von Prozessen im Zentumviralgericht stark beansprucht werde (1: distringor centumviralibus causis), was sich dann eigentlich auf die Zeit vor der praefectura aerarii Saturni beziehen müsste.78 Die Platzierung dieses Briefes innerhalb des Buchkontextes suggeriert dem linearen Leser jedoch eine Antiklimax in Plinius’ Tätigkeit als Anwalt, wozu auch der lange otium-Brief 2,17Plinius der JüngereEpist. 2.17 sowie das negative Charakterporträt des Regulus in 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20 beitragen.79