Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sie sollte ihre aufgehäuften Schreibarbeiten beenden. Bernice tippte Manuskripte anderer Fakultätsmitglieder ab und gab das damit verdiente Geld prompt auf dem nahen Flugplatz aus. Der Flugplatz war den Winter über eingeschneit, und so sparte sie ihr Geld, um einen Anteil an einer Maschine zu erwerben, einer Piper Cub mit 60 PS, die ihr Freund Steve abbezahlte. Wenn sie bis zum Frühjahr zweihundertfünfzig Dollar sparen konnte, dann gehörte ihr ein Viertel des Flugzeugs und dann konnte sie zehnmal so oft fliegen. Seit die Regierung im Jahr zuvor ein Trainingsprogramm für die Luftwaffe am College eingerichtet hatte, wartete sie oft den ganzen Tag am Flugplatz und bekam trotzdem kein Flugzeug. Sie strebte eine Verkehrspilotenlizenz an, aber bei dem Tempo, in dem sie sich bisher Zeit in der Luft leisten konnte, würde sie dafür noch Jahre brauchen. Jeff hatte einen Pilotenschein wie sie, aber mit der Fliegerei nie weitergemacht.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, schrieb er – als sie in der überheizten Bibliothek beim typischen Schlangenzischen der Heizkörper darauf wartete, dass die Bibliothekarin die Bestellungen des Professors heraussuchte, und den Brief wieder entfaltete –:

Ich frage mich immer, warum ich es hier nicht aushalte. Das Licht ist grell, die Landschaft monumental. Die Tiwa nennen den Berg hinter Taos heilig, und sie haben bestimmt recht. Vielleicht ist es die entwürdigende Schinderei, für Quinlan zu arbeiten, aber das trifft es nicht. Ich kann, so scheint es, nichts Eigenständiges tun. Ich fühle mich, als schaute ich durch die Augen von Malern, die hier schon gemalt haben. Ich kann, so scheint es, der Landschaft nicht frisch begegnen. Bei all ihrer Großartigkeit und Wildheit und Faszination bin ich nicht fasziniert.

Überdies ist die Geschichte mit Dolores heikel geworden. Mein mündliches Spanisch – und mein mexikanisches Spanisch, das ich im Gegensatz zum Professor für ein fabelhaft geschmeidiges und spritziges Idiom halte, dem lispelnden, tuntigen Tonfall des Kastilischen weit überlegen – hat rasche Fortschritte gemacht, leider ebenso Dolores’ Wunsch, in mir den zukünftigen Spender von Ringen, Haciendas und Babys zu sehen.

Mit der Dolores-Situation könnte ich allenfalls noch fertig werden, wenn ich das Gefühl hätte, in meiner eigenen Landschaft angekommen zu sein, aber sosehr mich diese hübsch kolorierten Mesas und Berge, die in starken Farben gestrichene Wüste, die uralten Pueblos auch rühren, letztlich ist dies nicht mein gelobtes Land.

Jedenfalls freue ich mich auf unsere Zeit zusammen. Zweifellos wirst du mir wie immer mein Ich erklären und alles klarstellen. Ich träume von etwas Tropischerem. Ich muss der Sonne folgen, aber zu etwas Üppigerem, Saftigerem. Die Berge sind am Ende doch nicht meine heiligen Orte. Dies ist nicht mein Gusto. Zu viel Ocker vielleicht, zu viel gebranntes Siena. Oder vielleicht einfach ein anderer Gesellschaftskreis. Warum empfinde ich mich in Europa ganz selbstverständlich, ganz ohne Frage als Maler und hier nicht?

In Liebe wie immer

Jeff

Sie selbst mochte Erdfarben, die Welt vom Flugzeug aus gesehen. Sie konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als Zach sie mit hinaufgenommen hatte, sie allein, denn Jeff malte und wollte nicht mit. Zuerst hatte er ihr Bentham Center von oben gezeigt, ordentlich, klein, bald verschwunden, und dann hatten sie sich emporgeschwungen, hinauf und über den Jumpers Mountain und dann weiter zum Connecticut River, angeschwollen und schlammig vom Frühlingstauwetter. Als Nächstes hatte Zach versucht, sie zu hänseln, ihr Angst einzujagen, zog die Maschine in große träge Loopings und dann in kurze abrupte Rollen, in Sturzflüge. Schließlich hatte er gemerkt, dass sie überhaupt nicht schrie, nicht angstgelähmt war, sondern begierig, verzückt, und mindestens so viel Spaß daran hatte wie er. Er hatte sich zu ihr herübergelehnt, ihr Haar verwuschelt und es mit der Faust gepackt. »Möchtest du es lernen, Bernie?«

Sie hatte heftig genickt, unfähig, etwas zu sagen, unfähig, ihr Verlangen zuzugeben.

»Sag bitte.«

Da endlich sprach sie. »Bitte, Zach. Bitte! Bring es mir bei.«

Er schien es lange, unter Stirnrunzeln zu bedenken, verlängerte und genoss ihre Qual, gab ihr das Verlangen zu schmecken und die Spannung. »Vielleicht tu ich’s, vielleicht auch nicht.« Aber er hatte es getan.

»Komme schon«, platzte sie zu laut heraus. Mrs. Roscommon hatte ihr zugeflüstert. Bernice eilte zum Tresen, wo ein Stapel der bestellten Bücher zu wackeliger Höhe aufgetürmt war.

Es war ihr peinlich, so weggetaucht zu sein, hinaus in die Welt. Nun war sie wieder im tristen Einerlei. Wenn sie sich an jene Tage mit Zach und Jeff erinnerte, dann glichen sie dem Moment in Der Zauberer von Oz – ein Film, den sie dreimal gesehen hatte –, wenn Dorothy aus Kansas hinaus nach Oz gelangt und Schwarz und Weiß zu herrlichem und strahlendem Technicolor erblühen. Da sie für Musicals wenig Begeisterung aufbrachte, hatte sie kaum Technicolorfilme gesehen; dieser Übergang berührte sie zutiefst. Genauso war es, aus Bentham Center hinaus ins Abenteuer zu gelangen. Sie hatte sich jene Tage so oft in Erinnerung gerufen, dass sie schließlich nicht mehr sicher war, wie die Ereignisse sich wirklich zugetragen hatten, denn durch immer reichlichere Ausschmückung waren sie inzwischen zur Hälfte Phantasieprodukte. Sie kam sich manchmal verrückt vor, wenn sie daran dachte, wie viel Zeit sie damit zubrachte, Ereignisse immer wieder zu durchleben und zu überarbeiten, die Zach und Jeff zum großen Teil vergessen haben mussten, sie so lange zu überarbeiten, bis sie selbst nicht mehr sicher war, was sie erinnerte und was sie dazuerfunden hatte.

Während sie nach Hause trabte, um die Bücher abzuladen, und dann zum Fleischer um Lammkoteletts und zum Gemüsehändler um Broccoli, wenn es welchen gab, und Blumenkohl, wenn nicht, dachte sie, dass es vielleicht sogar noch einen Hauch erträglicher war, neben Errol Flynn mit einem Säbel zwischen den Zähnen von Pirat zu Pirat zu springen, als ständig zu jenem Paradies zurückzukehren, als sie sich ihrem Bruder und Zach kurzzeitig anschließen durfte. Oft träumte sie, dass sie flog. Sie träumte sich zurück an die Instrumente von Zachs Aeronca, legte sie in die Kurve, drückte sie in den Sturzflug, drehte sie in Kunstflugrollen. Letzte Woche war sie in der Nacht weinend aufgewacht. Wie hätte sie jemandem erklären sollen, dass sie weinte, weil sie das Fliegen beherrschte, aber kein Flugzeug hatte? Die Freudianer hätten gesagt, das habe mit sexueller Frustration zu tun, aber von Sexualität wusste sie nichts, und fliegen war für sie wirklicher, als des Professors Koteletts zu braten.

Eigentlich hätte sie Zach dafür hassen müssen, dass er ihr großmogelig das Fliegen beigebracht hatte, doch sie hatte nicht widerstehen können; es war das einzige Kosthäppchen vom Paradies, das ihr je zuteil geworden war. Sie hatte damals für ihn geschwärmt, doch sie war sich auch bewusst, dass sie nicht mehr Chancen bei ihm hatte als ein großer wolliger Hund. Er war gern mit ihr zusammen. Es amüsierte ihn, Jeffs aufgeweckter, unansehnlicher, gutmütiger Schwester das Fliegen beizubringen. Ihre Anhänglichkeit und ihre Anbetung waren ihm wohlgefällig wie dargebotener Weihrauch einem jeden Gott.

Zach war ein Geschöpf aus einer anderen Welt, aus dem gleichen Grund nach St. Thomas verbannt wie viele Jungen. Zach war nicht unheilbar dumm; er bekam schlechte Noten, weil er an allem Akademischen wenig Interesse hatte. Schulstunden bewegten sich nicht rasch genug durch die Luft. Zach hatte sturzbetrunken ein Auto zu Schrott gefahren. Am St. Thomas tat er das wieder, in einem Morgan, den er in der Haarnadelkurve des Jumpers Mountain demolierte.

Jeff hatte ihn aus dem Auto gezogen, bevor es in Flammen aufging. Jeff war von einem Rendezvous im Heuschober mit der mittleren Garfinkle-Schwester heimgeradelt. Nachdem er den blutenden, bewusstlosen Zach aus dem rauchenden Wrack gezogen hatte, war er zu den Garfinkles zurückgefahren und hatte ein Pferd ausgeliehen oder gestohlen, auf das er Zach lud und ihn so ins Bentham Center-Krankenhaus verfrachtete. Dann brachte er das Pferd zurück und radelte, aufgekratzt und mit sich zufrieden, heim, um ihr die Geschichte zu erzählen.

Dieser Unfall hatte Zach aus der Footballmannschaft katapultiert und seinen Alkoholkonsum reduziert. Außerdem hatte er aus den beiden Jungen Freunde gemacht, und Bernice war mitgezockelt, wenn sie sie ließen. Zach liebte sportliche schnelle Autos und sportliche schnelle Yachten, aber während er sich von vier Knochenbrüchen erholte, vertrieb er sich die Zeit, indem er fliegen lernte. Als Zach fliegen lernte, lernten auch seine Freunde fliegen – auf seine Kosten natürlich. Alleinsein war für ihn ein ungenügender Zustand, der sofort berichtigt werden musste. Trommelt die Truppen zusammen. Bringt die Begleiter herein. Ruft die getreuen Gefolgsleute. Er brauchte bei seinen Eskapaden Gesellschaft, und für sie war das Fliegen zur Leidenschaft, zum Mittelpunkt geworden.

Warum bildete sie sich ein, dass eine Verkehrspilotenlizenz sie befreien würde? Sie hätte immer noch die Pflicht, für ihren Vater zu sorgen. Luftrennen zu gewinnen, Flugzeuge zu testen wie Jacqueline Cochran war so weit entfernt wie das Mitsegeln auf einem Piratenschiff.

Sie schälte die Kartoffeln und schaute dabei zum Kalender. Noch drei Tage bis Sonntag, dem siebenten, ihrer nächsten Injektion der Kinodroge. Zwanzig Tage bis Weihnachten. Wann kam Jeff? Heute Abend, nach dem Abwasch, würde sie ihm schreiben, ihn drängen, ein Datum für seine Heimkunft festzumachen. Sie hatte schon Professor Horgan, der Kunstgeschichte lehrte, überredet, als Weihnachtsgeschenk für Jeff in Boston eine Tube Kadmiumrot und Kadmiumgelb zu besorgen, teure Farben, die er liebte und sich oft nicht leisten konnte. Er würde sich freuen.

 

Mit kleinen Bestechungen, kleinen Versprechungen, mit endlosen Tagträumen brachte sie sich dazu weiterzumachen. Was gab es sonst? Was sonst würde es je geben für Professor Coates’ Tochter, die die Betreuung und Verpflegung ihres Vaters geerbt hatte, die ihm den Haushalt führte und dessen Haushalt ihr Kost und Logis gewährte? Bernice, die im Schlaf flog und nur beim Aufwachen weinte, kurz, denn sie war zu vernünftig, um das, was nicht zu ändern oder zu umgehen war, lange zu beweinen.

Jeff 1
Emplumado

Es war dumm gewesen, sich mit Quinlan zu prügeln und ihm eine blutige Nase zu verpassen. Aber es brachte Jeff aus Taos heraus, und es war ihm eine Wohltat, einiges von dem Zorn losgeworden zu sein, den er in den vergangenen Monaten angehäuft hatte.

Wie überrascht Quinlan gewesen war, in dessen Kopf feststand, dass der wohlerzogene, künstlerische Jeff jede Beleidigung schluckte. Dabei prügelte er sich, wenn es sich denn nicht vermeiden ließ, ganz gern. Er mochte es, seinen Körper zu fordern. Mit dem Rucksack in die Berge zu klettern, was nach Ansicht seiner Bekannten in Taos zwangsläufig zu Stürzen von Steilwänden führte oder in die Irre. Zum ersten Mal war er in Österreich geklettert, dann in der Schweiz. Er hatte festgestellt, die Berge um Taos waren faszinierend, aber nicht übermäßig anspruchsvoll. Er hatte festgestellt, Quinlan war leicht niederzuschlagen.

Quinlan hatte sich von Anfang an wie ein Schinder aufgeführt. Er leitete die Ferienranch im Auftrag eines Konzerns, und Jeff vermutete, dass er so viel nur irgend ging in die eigene Tasche wandern ließ, indem er bei der Pflege der Tiere, den Unterkünften und dem Essen der Hilfskräfte kürzte, neben ärgerlichen kleinen Einsparungen wie der, dass es auf der Latrine für die Hilfskräfte nie Toilettenpapier gab.

Das Schimpfwort, mit dem Quinlan ihn belegt hatte, war nicht der Grund, ihn niederzuschlagen, nur der Vorwand. Quinlan, dem jedes Talent für Kraftausdrücke abging, schimpfte ihn einen roten Homo. Rot, weil Jeff Anhänger von Roosevelts Wirtschaftspolitik war, obwohl der Präsident sie für sein Gefühl nicht energisch genug durchsetzte. Homo, weil er es vermied, mit Mrs. Terwilligher ins Bett zu steigen, die reich war, ebenso widerwärtig wie Quinlan und für ihn sicherlich genauso wenig empfand wie er für sie. Jeff hatte sich angewöhnt, so zu tun, als verstünde er nicht, dass die Hilfskräfte den Urlaubern auch sexuell zur Verfügung zu stehen hatten, dass auch sexuelle Bedienung von den Kellnerinnen erwartet wurde, von den Zimmermädchen und den sogenannten Fährtenburschen, die die Überfressenen auf bequemen Rundblickpfaden umherführten.

Dabei hatte Jeff im Prinzip nichts gegen dieses Arrangement. Als er die Schützlinge seines Vaters, des Professors, auf ihren Kulturreisen begleitet hatte, waren sie für ihn ein Harem gewesen, aus dem er sein Bett bestückte. Der Professor war wohl nie dahintergekommen, auch wenn Bernice Bescheid wusste. Für eine Jungfrau war sie überraschend verständnisvoll. Arme Bernice. Sein Brachvogel in einem sehr schlichten Käfig.

Er gab die beiden Bilder, die er für die besten hielt, zusammen mit seiner französischen Staffelei an Bernice auf, nachdem er seine Schulden mit Leinwänden bezahlt und für alle Fälle drei in der Galerie gelassen hatte. Falls sie verkauft wurden, sah er bestimmt nie sein Geld, aber wenigstens wurden sie ausgestellt. Als Landschaftsmaler, der in relativ kleinen Formaten arbeitete, war er definitiv aus der Mode, aber nicht unverkäuflich. Trotzdem hatte er seine besten Arbeiten nicht in Taos gemacht. Er sah immer wieder Arbeiten anderer Maler, die das formale Wesen der Landschaft erfassten, wie O’Keeffe oder Dasburg, oder die dramatischen Wechsel von Himmel und Stein, wie sie Marin gemalt hatte, immer den Heiligen Berg. Er hatte Taos nicht zu seinem Eigen gemacht. Die Klarheit von Taos hatte sich bei ihm nicht herauskristallisiert. Er wanderte aus der Stadt hinaus und fuhr per Anhalter nach Denver.

Er trug seine wenigen Habseligkeiten in einem Rucksack, leichter zu tragen als ein Koffer, aber kein Amerikaner sonst schien einen Rucksack zu benutzen. In Denver fand er beim Bahnhof eine billige Absteige. Er angelte sich aus einer Mülltonne eine Zeitung. Die Russen unternahmen allem Anschein nach eine Gegenoffensive in den Vororten von Moskau. Zach hatte aus London geschrieben, wohin er mit der Idee gegangen war, in die Royal Air Force einzutreten, doch die hatte ihn abgelehnt. Zu viele alte Verletzungen? Vielleicht fanden sie Zach mit achtundzwanzig jenseits seiner besten Jahre. Nicht, dass Zach die Nazis hasste. Die politischen Ansichten seiner Familie gingen durchaus in die gleiche Richtung. Jeff konnte sich ohne weiteres vorstellen, wie Zachs Vater – Zachary Barrington Taylor der Dritte, so wie Zach der Vierte war – sagte: »Dieser Hitler ist eine Spur ordinär, aber er versteht es, die Arbeiter auf Vordermann zu bringen«, und anschließend Geld für die Parteikasse spendete. Zach ging einfach dahin, wo es aufregend war. Er liebte das Fliegen. Er war mit Träumen von Kampffliegerduellen im Weltkrieg aufgewachsen und wollte sich mit dem Roten Baron messen. In den letzten Jahren hatte Zach irgendetwas Langweiliges im Versicherungsunternehmen seiner Familie in Chicago getan; genauer gesagt, hatten die Taylors die Mehrheitsbeteiligung an diesem Konzern wie an vielen anderen, ganz zu schweigen vom Barrington-Familienimperium in Textilien und Zucker. Zach war seinen Familienpflichten nachgekommen, hatte geheiratet und ein Kind gezeugt. Jeff hatte nichts mit der respektablen Seite von Zachs Leben zu tun. Man würde ihn dort nicht einmal zur Tür hereinlassen.

Zach drängte ihn, nach England herüberzukommen, unterließ es aber, ihm Fahrkarten zu schicken, was hieß, dass es ihm nicht ernst war. Zach musste wissen, dass Jeff nicht einmal das Geld hatte, um nach Hause zu fahren, geschweige denn nach Europa. Was hatte die Depression für Zach bedeutet: mehr Gesindel auf den Straßen? Jeff, dessen Leben von der Depression zu Bruchstücken aus Hilfsarbeit und Arbeitslosigkeit in etlichen Städten und Landstrichen zerhackt worden war, der zum hundertsten Mal in der Flohkiste einer Absteige schlief, der bei diversen Notprogrammen der Regierung gearbeitet und Steine für den Straßenbau gebrochen und Weizen geerntet hatte, verspürte einen stechenden Groll, stark genug, um seinen Freund zu durchbohren wie ein Dolch aus Eis.

Aber Zach kam mit seinem Vater nicht besser aus als Jeff mit dem Professor; Zach war früh in die Rolle des zweiten, des schlechten Sohnes, des schwarzen Schafs gefallen. Er hatte nie in das Leben hineingepasst, das für ihn zurechtgelegt war wie der Gesellschaftsanzug von einem Kammerdiener. War er endlich entronnen?

Jeff wollte nach Hause. Nicht zu seinem Vater, dem kalten Zwangsneurotiker, den nur seine eigene Arbeit und seine eigene Bequemlichkeit kümmerten und der ihm das Gefühl gab, ein unartiges, pflichtvergessenes Kind zu sein. Nach all den Jahren, die der Professor damit verbracht hatte, Schützlinge durch die Museen Europas zu schleifen, hatte er kein Verständnis für einen Sohn, der malte. Jeff wollte nach Hause zu Bernice, die seine Mutter war und auch wieder nicht. Natürlich war sie es nicht, denn sie hatten eine richtige Mutter gehabt, jenes Geschöpf aus Fleisch und Intellekt und Humor und Betriebsamkeit, die beste Köchin des Lehrkörpers, die Gedichte liebte und sie ihnen statt alberner Kinderbücher vorlas, die ihnen die Ilias in der Übersetzung von Alexander Pope vorlas und manchmal in Griechisch rezitierte, deren Schoß es nie an Platz und Wärme fehlen ließ.

Bernice war in einem anderen Sinne seine Mutter, denn sie war alles, was ihm danach geblieben war. Sie hatten einander großgezogen. Wenn sie doch nur sein Zwillingsbruder gewesen wäre, ein Junge, der zu einem Mann heranwuchs, dann würden sie sich zusammen in der Welt umtun. Bernice hätte einen ansehnlichen Mann abgegeben. Doch für eine Frau war sie zu groß, eins fünfundsiebzig und grobknochig, eine Frau, die einen Pflug ziehen konnte. Zu einer anderen Zeit wäre sie anders angeschaut worden. Bei den großen quadratischen Frauenakten aus Picassos klassischer Periode musste Jeff an seine Schwester denken.

Jetzt wollte er bei ihr sein, umfangen von der intelligenten Wärme, die nie ohne Urteil war, aber nie destruktiv. Er wollte verhätschelt werden. Er wollte die Abenteuer mit ihr teilen, die seit seiner Kindheit beim Erzählen fast beglückender waren als beim Erleben. Nichts war ganz wirklich, bevor Brachvogel es erfuhr. Stattdessen saß er hier in Denver.

Wenn er es bis Boulder schaffte, konnte er eine Mitfahrgelegenheit bekommen, sobald die Schulen in die Weihnachtsferien gingen, aber der Gedanke, so lange zu warten, ließ ihn vor Selbstmitleid einschrumpfen. Er wollte die letzte Leinwand betrachten, die er vollendet und Bernice geschickt hatte. Er wollte morgens auf dem felsigen Jumpers Mountain malen, wenn Schnee die Landschaft bestäubt hatte.

Entweder ließ er sich von Lastwagen mitnehmen, oder er schmuggelte sich auf der Eisenbahn durch, aber er bat nie um Geld von zu Hause. Das Gehalt des Professors reichte kaum zur Haushaltsführung. Der Krieg hatte den Sommerexkursionen, die so viel eingebracht hatten wie neun Monate Unterricht, ein Ende bereitet. Bernice kam zurecht, aber Jeff wusste, wie sparsam sie wirtschaftete. Er selbst hatte dieses großbürgerliche Sommerleben in vollen Zügen genossen, Hotels, Restaurants, Museen, den Künstler spielen zu können, der er in Wirklichkeit war. In Taos vermischten sich die Gesellschaftsschichten in der ortsüblichen Uniform aus Levi’s, buntem Halstuch und Stiefeln, dennoch lebte er als Landarbeiter und nicht als Maler. Das tat weh.

Bernice war erlaubt worden, am College-Unterricht teilzunehmen, aber einen Abschluss hatte ihr St. Thomas nicht zugestanden. Der Professor wollte ihr nicht erlauben, einer Arbeit nachzugehen, selbst wenn sie die Ausbildung dafür gehabt hätte. Er, Jeff, würde immer auf die Füße fallen. Er war kein Mann, der mit der Sicherheit elterlicher Monatswechsel auf Abenteuer ging. Er war frei. Wenn er nach Hause fuhr, dann, weil er sich nach seiner Schwester sehnte, nicht, weil er irgendetwas von ihnen erwartete. Jetzt musste das kleine Problem gelöst werden, wie dorthin gelangen.

Dolores hatte ihm anfangs diesen Hafen geboten, den warmen Ort, den er bei Frauen suchte. Frauen schienen ihn stets aus einer Menschenmenge, aus Festgedränge herauszufischen. Eine der unangenehmen Begleiterscheinungen des Landstreicherlebens war, dass seine Tagelöhnerarbeiten ihn oft in reinen Männerenklaven festhielten, und in Wahrheit hatten die meisten Männer keine Ahnung, wie man lebte. Sie bauten keine Nester, sie schufen keine Behaglichkeit, sie machten das Schlimmste aus ihren Unzulänglichkeiten. Er mochte es, zu einer Frau zu ziehen.

Mit Dolores hatte er nicht eigentlich zusammengelebt, denn zu seiner Anstellung bei Quinlan gehörte eine eigene Unterkunft, und Dolores achtete sehr auf die Meinung der Nachbarn. Trotzdem hatte sie oft für ihn gekocht, und er konnte sich in die Gemütlichkeit ihres weiß gekalkten Adobehauses einkuscheln. Er hatte sie gerne angeschaut, sogar ein paar Zeichnungen gemacht, obwohl er wusste, wenn er eines seiner wenigen Porträts malte, dann verwandelten Menschen sich in Landschaften. Ihr Gesicht war faszinierend asymmetrisch. Dolores war sich nicht bewusst, dass die eine Seite ihres Gesichts eckiger war und die andere weicher. Schatten, die darüber hinspielten, hatten nie aufgehört, ihn zu fesseln. Ihr Körper war von gefälliger Üppigkeit, mit dem herausgestreckten vollen Hintern, den in barocker Rundung sich wölbenden Hüften mit den zwei deutlich unterscheidbaren Einbuchtungen. Im Dunkel ihrer Haut fanden sich Bernsteintöne und ein schwaches Grün.

Dolores hatte zu ihm gesagt, er sei ein alter Kater, un gaton, der sich daran gewöhnt habe, umherzustreichen und Mahlzeiten zu schnorren. Dann hatte sie Druck auf ihn ausgeübt, sich häuslich niederzulassen. Warum taten Frauen das? Sie erkoren ihn wegen seiner Ausstrahlung des Weitgereisten, seiner romantischen Aura des rastlosen Wanderers, der morgen fort ist, und dann versuchten sie ihn für die Häuslichkeit zu gewinnen.

In normalen Zeiten hätte er das College abgeschlossen und dann hier oder im Ausland eine Kunstakademie besucht, wäre zurückgekommen, um zu unterrichten und zu malen, zu heiraten und Kinder zu haben. Aber es war kein Geld da gewesen und keine Arbeit. Er hatte sich aufgemacht, mit der Armee der heimatlosen Männer von Güterzug zu Amüsierviertel zu Arbeitsvermittlung zu wandern. Als er dann schließlich den Wettbewerb eines Notprogramms der Regierung zur Ausschmückung von Postämtern mit Wandbildern gewonnen hatte, war er es schon gewohnt, seine Sachen zu packen und weiterzuziehen, sobald sich Schwierigkeiten auftaten.

 

Eines Tages würde er sich niederlassen, aber nur, wenn er den richtigen Ort fand, den passenden Ort, seine eigene Landschaft und eine Frau, die die Schönheit von Dolores mit der Eigenständigkeit und Intelligenz von Bernice verband. Er war wie einer, der aus Notwendigkeit, um die Schmerzen zu nehmen, auf Morphium gesetzt und süchtig geworden war. Weiterzuziehen war ihm zur Gewohnheit geworden, aber er träumte ständig von einer Gefährtin. Einer, die wusste, wie es in der vorigen Stadt oder im vorigen Land gewesen war, die Barcelona kannte, bevor Franco herrschte, und London vor dem Blitz und Paris, bevor die Nazis es besetzt hatten. Ein gemeinsames Koordinatensystem. Nicht einmal die Angst vor dem Krieg konnte das herstellen. Die meisten Leute schienen davon auszugehen, dass er nie kommen würde. Die einzig gemeinsame Kultur schienen Filme und Comicstrips zu sein. Jeder redete über Gasoline Alley, Li’l Abner, Dick Tracy. Vielleicht war das der Grund, warum er unbedingt nach Hause musste, jetzt, sofort. Bernice war seine Schatzkammer. Alle Geschichten endeten in ihrem Kopf.

Am Donnerstagmorgen säuberte er sich am Bahnhof und stiefelte zu einem Fernfahrertreff. Er wurde fast sofort fündig. Ein firmenunabhängiger Fahrer, der eine Fuhre Reifen abholen und nordwärts nach Cheyenne fahren sollte, erklärte sich bereit, ihn zum Auf- und Abladen mitzunehmen. Er war froh, einen Schritt näher zu kommen. Diese Reise war ein Schachspiel, in dem er der Springer war, der jedes Mal zwei Schritte vorwärts und dann einen Schritt zur Seite tat. Die Reifen stellten sich als riesig heraus, für Erdbewegungsfahrzeuge. Der Mann schaute ihn zwar anfangs skeptisch an, aber Jeff hatte keine Zweifel an seiner Fähigkeit, ungefüge Gegenstände zu wuchten. Er war kräftiger, als er aussah, ohne ein Gramm Fett; und er verstand etwas von Balance.

Während sie nach Norden durch die Einöde fuhren und er leichtfüßigen, erdfarbenen Antilopen zusah, spielte er mit dem Gedanken, Mittelamerika zu erkunden oder vielleicht nach Brasilien zu gehen. Er malte sich die scharfen, zerklüfteten Rottöne der Mittelmeerfelsen aus, aber vor dem Hintergrund der gespenstisch pulsierenden Grüntöne eines Urwalds. Er nahm sich vor, in der Bibliothek über Orte im Süden nachzulesen, derweil er sich an Bernices guter Hausmannskost sättigte. Sie würden auf den Jumpers Mountain steigen, um einen Baum zu stehlen. Sie würden die alten Kartons mit Christbaumschmuck hervorholen, die tschechischen Prismen, die deutschen Kugeln mit dem eingeätzten Goldflitter, die Holzpferdchen und bemalten Trommler, die Rauschgoldvögel. Er würde seinen früheren Bildern an den Wänden von Bernices Zimmer und seinem Zimmer einen Besuch abstatten. Sein Versagen in Taos hatte sein Selbstvertrauen angenagt. Er brauchte es, seine besten Arbeiten zu sehen.

Was oder wem hatte er denn eigentlich in Taos nachgeschnüffelt, dem Geist von D. H. Lawrence? Jeder zeigte ihm die Relikte, die Stätten, an denen Lawrence dieses oder jenes Unflätige oder Bedeutsame, Unsinnige oder Prophetische gesagt oder getan hatte. Die gefiederte Schlange mochte er von Lawrences Romanen am wenigsten, auch wenn ihn die Bildersprache faszinierte. Eine Schlange mit Federn fesselte seine Phantasie. Vielleicht hatte er in Taos solch ein Bild gesucht, eine Möglichkeit, den Flug und die Erdgebundenheit miteinander zu verknüpfen. Schlangen hatten ihn nie angewidert, sondern er hatte sie immer gefangen, Kletterschlangen und Milchschlangen und hübsche kleine Strumpfbandnattern.

Er hatte eine Morris-Graves-Ausstellung gesehen, die ihn ungeheuer bewegt hatte, aber die Landschaften, auf die er ansprach, waren das Gegenteil von jenen nebligen, gischtübersprühten Visionen, die er bei Graves bewunderte. Er brauchte intensives Licht, harte Trennlinien, Fels und starke Formen. Warum hatte er dann in Taos so versagt?

Sie hielten zum Mittagessen. Er kaufte sich einen Teller Chili. Der Fernfahrer spendierte ihm einen Kaffee. Es schien ihm zu gefallen, dass Jeff nicht versucht hatte, sich von ihm das Essen zahlen zu lassen. Er hatte ein interessantes Gesicht, alles platte Flächen, die auf verschiedenen Ebenen gegeneinander abgesetzt waren, ein Gesicht wie mit dem Meißel gemacht oder wie eine von Braques kubistischen Collagen. Als sie wieder im Sattelschlepper saßen, fragte er, ob Jeff so ein Ding fahren konnte. Als Jeff bewies, dass er es konnte, kletterte der Fernfahrer in den hinteren Teil des Führerhauses und legte sich schlafen.

Es schneite ein wenig. Die Berge im Norden waren im oberen Drittel weiß. Staub mischte sich eine Weile mit Schnee und übersäte die Windschutzscheibe mit Pusteln. Er musste an einen Traum von einer Frau denken, deren Schenkel gefiedert gewesen waren. Blau und grün und golden schimmernde Federn, die sanft wehten, als er ihre Schenkel teilte. Ihr Haar war so jettschwarz gewesen wie das von Dolores. Allein beim Gedanken an sie erigierte sein Penis. Er stellte im Radio leise die Nachrichten ein und hörte nur halb hin.

Seit 1939 hatte er in dem Bewusstsein gelebt, dass jeden Augenblick Krieg sein konnte. Die Nazis waren für ihn weitaus realer als für die meisten Amerikaner, denen er begegnete, und weit furchterregender. Er teilte nicht die Erheiterung seiner Bekannten über Hitler, den ehemaligen Tapezierer, der komische Fratzen zog und lächerliche Reden hielt, während seine Legionen im Stechschritt auf die Schnauze fielen. Er hatte sie auf den Straßen von Heidelberg und Berlin und Frankfurt gesehen. Sie waren trunken von Gewalt und Macht. Sie fühlten sich überlegen, weil sie zusammen waren, und zusammen fügten sie Leid zu. Sie hatten die Willkürherrschaft unter einem sichtbaren Gott für sich entdeckt. Er hatte einer Nazikundgebung beigewohnt und mit angesehen, wie Massen choreografiert, manipuliert und hypnotisiert wurden, bis sie in Ekstase und Blutrausch tobten und die Aufstachelung zu diesem Taumel liebten.

Er erwartete den nächsten Schachzug von den Göttern oder seiner Schwester oder seinen Freunden. Er verließ sich darauf, aus seiner Langeweile errettet zu werden, aber er wusste nicht, wer es diesmal tun würde. Zach konnte es, immer. Es hatte ihn nicht überrascht, von Zachary Barrington Taylor zu hören, auch wenn er ihn seit wann – seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Irgendjemand würde ihm ein Angebot machen, so wie sich die Mitfahrt nach Cheyenne ergeben hatte.

Ihm war nicht bestimmt, in Cheyenne, Wyoming, stecken zu bleiben, wo der Schnee von den Big Horns herunterwehte. Jeff hatte das Urvertrauen derer, denen Dinge einfach widerfahren. Er brauchte sich nur im Freien hinzustellen, davon war er überzeugt, denn so war es ihm passiert, und jemand sprach ihn an oder machte ihm ein Angebot oder bat ihn um einen Gefallen oder warf sich ihm an den Hals oder machte ihm einen Antrag, denn Jeff war allzeit bereit, und zwar wesentlich ernsthafter als die Pfadfinder. Er glaubte fest daran, dass die Götter ihn liebten und ihm bestimmt ein interessantes Abenteuer schickten, wenn er einfach nur wartete, mit leeren Händen und mit jener Bereitschaft von Körper und Seele, die seiner Vorstellung vom Zustand der Gnade entsprach.

Wegen dieses Moments von Glück und Gnade hatte er sich in die Landschaftsmalerei verliebt. So ging er hinaus auf ein freies Feld, an einen Strand, auf einen Hügel, und richtete sich ein. Und während er den Blick auf die Szene vor ihm, um ihn herum richtete, die Szene, deren Teil er war und in der er Wurzeln schlug, erwachte sie zu immer intensiverem Leben, bis jedes Blatt und jede in der Sonne schimmernde Fliege und jedes Stäubchen seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Dann fühlte er sich völlig offen, verbunden, schutzlos, ein Gefühl besser als die Liebe und ehrlicher. Um gut zu malen, musste er von aller Herrschaft ablassen. Alles veränderte sich ständig um ihn her, und alles bewegte sich, und er stand in einem wirbelnden Chaos und redete es demütig an. Was er auch auf der Leinwand festhielt, es war unzulänglich, wie die Liebe.

Inne książki tego autora