Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Naomi 1
Naomi/Nadine ist nur die eine Hälfte

Die Stiefel knallten im Gleichschritt aufs Pflaster. Maman drängte Rivka im Hauseingang an die Wand, damit sie nichts sah. Als sie protestieren wollte, brachte Maman sie unsanft zum Schweigen und drückte sie fest gegen die kalten Steine. Durch ein Gitterfenster starrte eine Concierge sie aus feindseligen Knopfaugen an, eine Kröte in ihrem Käfig, die darauf wartete, mit Fliegen gefüttert zu werden. »Macht, dass ihr wegkommt, ihr gehört hier nicht her«, schnauzte die Concierge sie an. »Solche wie euch wollen wir hier drin nicht.«

Maman beachtete die Concierge nicht und hielt Rivka immer noch fest an die kalte Wand gepresst. Immer noch hämmerten die Stiefel vorbei, dass das Pflaster davon dröhnte wie eine Kesselpauke.

Als Naomi wach wurde, hörte sie, wie Ruthie im Etagenbett unter ihr sich im Schlaf bewegte und leise stöhnte. Boston Blackie schlief, alle viere von sich gestreckt, auf ihren Füßen, denn sie hatte ihn in den letzten Monaten aus Ruthies Bett hochgelockt. Unten im Keller hörte sie den Heizkessel rumoren, Onkel Morris Kohlen schaufeln und die heiße Luft mit mächtigem Zischen aufsteigen, sobald die Wärme einsetzte. Dann konnte sie hinunterklettern, um sich an die Heißluftklappe zu stellen, wo sie gestern ihre eiskalten Sachen ausgelegt hatte. Sie konnte ihre Unterwäsche anwärmen, ihren Schottenrock und die Kniestrümpfe und die weiße Bluse und die rote Strickjacke, ihre Halbschuhe: alles neue Sachen, die Tante Rose mit ihr in der Innenstadt in Sam’s Billigkaufhaus erstanden hatte, wo Ruthie arbeitete.

Wenn sie zu schnell aufwachte – wenn es draußen laut krachte, ein Lastwagen eine Fehlzündung hatte, die Müllmänner mit den Tonnen polterten –, dann packte sie im Dunkeln panischer Schrecken, und sie wusste nicht, wo sie war, und schrie mitunter in Französisch: »Maman, qui est là? Maman, tu es ici? Rivka!« Aber sie spürte, dass Rivka nicht da war. Zu Hause hatten sie ihr ganzes Leben lang in einem Dreiviertelbett geschlafen, in dem Alkoven der salle à manger, in einem Bett, das sich zu einem Diwan zusammenklappen ließ. Rivka lag immer an sie geschmiegt. Wurde eine von ihnen nachts wach und tappte über den Flur zum WC, so schlich die andere hinterher. Jetzt drückte sie den Kater an sich, wenn sie aufwachte.

In den ersten Nächten hier im Haus ihrer Tante und ihres Onkels in Detroit im vergangenen Juni war sie aus dem oberen Bett gefallen, weil sie auf der Suche nach ihrem Zwilling im Dunkeln herumgerollt war. Alle, die ihr hier begegneten, sahen nur sie, aber sie wusste es besser. Sie war nur eine Hälfte. In der Nacht spürte sie manchmal ihre andere Hälfte. Sie wusste inzwischen, dass sie darüber nicht sprechen durfte, mit niemandem, nicht mal mit ihrer lieben Kusine Ruthie, zu der sie aus Respekt und Zuneigung Tante sagte, die sie trösten, sie hätscheln, aber die sie nicht verstehen würde. Sie war auch so schon zu fremd. Sie arbeitete hart daran, sich anzupassen.

Sie gewöhnte sich langsam an die Nachtgeräusche hier. Es war eine lärmige, unruhige Nacht, eine Haut, die sich nie ganz bilden konnte. In Paris war es vielleicht auch einmal so gewesen, aber sie erinnerte sich vor allem an die stille, gefährliche Zeit, als jeglicher Verkehr aus der Stadt verschwunden war und auch nie mehr richtig wiederkam. Alle, die reich genug waren, ein eigenes Auto zu besitzen, sprangen hinein und fuhren vor den deutschen Soldaten davon. Überall in ihrem Viertel konnte man Hunde und Tauben hören. Dann waren Rivka und sie vor den Deutschen weggeschickt worden. Mit Mamans Chef, dem Kürschner, waren sie nach Süden gefahren, hinein in den dichten Stau aus Wagen und Fuhrwerken, auf den die Flugzeuge schossen.

Jetzt sprach Naomi nie mehr Französisch, nur noch mit Boston Blackie, wenn sie mit ihm allein war. Dann schnurrte er. Sie fühlte sich, als schwebten losgelöst in ihr alle möglichen Lumpen, die einmal gute Kleider gewesen waren, Papierfetzen, die einmal kostbare Bücher gewesen waren, Geschirrscherben, die einmal die Teller mit den gelben und blauen Blümchen gewesen waren, von denen sie täglich gegessen hatten. In der Schule hielt man sie für lernschwach. Sie schaute das Ding an, das sie an ihrem Fuß zuschnürte, und als Erstes kam ihr das französische Wort dafür in den Sinn, chaussure, und dann kam das jiddische schich, und dann drehte sich Leere in ihrem Kopf, und wenn sie Glück hatte, kam schließlich das englische Wort für Schuh, für Halbschuh.

Anfangs lachten die Kinder sie aus, weil ihr Englisch die falsche Sorte Englisch war. Sie sprach die Wörter so aus wie die Engländer, einmal, zweimal, aber nicht dreimal. Sie ahmte nach. Sie gab sich große Mühe, und oft ging es daneben, aber sie war dankbar. Die Siegals hatten sie aufgenommen, was ihnen weniger bedeutete als ihr. Eines Tages würde Papa kommen und sie holen und zu Maman und Rivka und ihrer älteren Schwester Jacqueline zurückbringen. Papa hatte ein Motorrad, und so sah sie ihn kommen, auf dem Motorrad knatterte er durch die Straßen von Detroit.

Sie hatte jetzt drei Vornamen. Zwei Vornamen hatte sie schon immer gehabt, Naomi zu Hause, ihren hebräischen Namen, und Nadine in der Schule und in ihren Papieren. Die Art, wie ihre neue Familie Naomi aussprach, machte daraus einen neuen Namen: Näi-ou-mih, aber dafür trug sie hier überall ihren hebräischen Namen. Jetzt musste sie sagen, dass ihr Familienname Siegal war und nicht mehr Lévy-Monot, denn die Siegals hatten sie angeblich adoptiert, aber Papa hatte gesagt, das war nur eine Formalität, um die Einwanderungsbehörden an der Nase herumzuführen, und sie blieb immer seine Tochter. Siegal stand jetzt in ihren Papieren, genau wie bei Ruthie Siegal, Onkel Morris Siegal, Tante Rose Siegal und ihren Vettern Duvey und Arty. Alle Papiere waren jetzt Lügen. Nur so kamst du über die Grenze. Als Jude durftest du nie deinen richtigen Namen verraten, höchstens einem anderen Juden, aber oft nicht mal dann. Naomi wusste, sie musste sich jeden Tag große Mühe im Nachahmen geben, damit niemand merkte, dass sie ein Flüchtling war.

Papa war im Süden – nicht, was hier gemeint war, wenn Onkel Morris sagte, reiche Juden fuhren den Winter über in den Süden. Damit war hier Florida gemeint. Sie glaubte nicht, dass es reiche Juden gab. Sie hatte davon gehört, war aber nie welchen begegnet. Alle Juden aus ihrer Pariser Umgebung arbeiteten in kleinen Fabriken, kleinen Werkstätten. Sie arbeiteten für Kürschner oder in Damenmodegeschäften oder als Schneider oder als Buchbinder; sie verkauften Lederreste oder Stoffreste oder Fisch. Am ehesten kam noch Papas älterer Bruder Onkel Hercule in Frage, der im Elsass ein Restaurant hatte, bis die Deutschen kamen und es ihm wegnahmen. Die Deutschen waren eingefallen, und das starke französische Heer, von dem sie in der Schule gehört hatte, la grande Ligne Maginot, war verschwunden wie ein ausradierter Bleistiftstrich, und Papa war in Gefangenschaft geraten.

Der Süden, damit meinte Naomi das Licht, die Gerüche, die Hitze der Provence. Jedes Jahr im August fuhren sie nach Fréjus am Mittelmeer, in die kleine Pension mit der Bougainvillea, die über die Terrasse wuchs, auf der sie immer frühstückten, Maman, Papa, Rivka, die in der Welt Renée genannt wurde, und sie. Yakova, die sogar zu Hause darauf bestand, Jacqueline genannt zu werden, schlief dann noch. Über Jacqueline sagten alle als Erstes, sie sei hübsch, und als Zweites, sie sei sensibel, aber Rivka und Naomi fanden, sie war meistens eine Pest. Naomi und Rivka liebten es, wie die Bienen in den Blumen herumkrabbelten, aber gegen Ende des Frühstücks wurden sie beide ungeduldig. Maman und Papa trödelten immer in den Ferien, les grandes vacances. Rivka sagte, die Bienen summten, weil die Blumen für sie wie Eiscreme schmeckten. Die Eiscreme im Süden war besser als die in Paris, und in den Ferien bekamen sie immer Eiscreme. Sogar Jacqueline mochte Eiscreme. Sie sagte, die Liebe sollte wie Eiscreme sein, war es aber wahrscheinlich nicht.

Ruthie unter ihr rührte sich. Ihre schlanken Beine streckten sich heraus und tasteten nach den fusselnden, ausgetretenen Pantoffeln, die sie Puschen nannte. Sie hängte sich ihren eine Nummer zu kleinen, karierten Morgenmantel um, ging durchs Zimmer, spähte um das Rouleau herum nach dem Wetter und fuhr dabei in die Ärmel. Naomi sah von ihr nur den fest um die vollen, hohen Pobacken gezogenen Morgenmantel und das dunkle, halb vom Rouleau verdeckte Haar. So wie sie seufzte, dachte Naomi, gefiel ihr das Wetter nicht. »Schneet es?«, fragte sie.

»Schneit es?«, verbesserte Ruthie geduldig und lächelte ihr über die Schulter zu. »Wie auch immer, zazkele, ja. Weißt du, wie man einen Schneemann macht?«

Naomi turnte schon hinunter. Im Dezember war es hier dunkler als daheim in Paris, aber hier schneite es viel mehr. Einmal war der Schnee daheim zehn Zentimeter hoch gewesen. Papa war mit ihnen in den Park Les Buttes Chaumont gegangen und hatte Rivka und ihr geholfen, eine Burg zu bauen. »Zeigst du es mir?« Bei dem Gedanken an den Park mit dem künstlichen Berg in der Mitte und den hohen, aufregenden Brücken, die über das Wasser hinweg zu ihm führten und durch die Bäume den Blick auf die umliegenden Häuser freigaben, an den Wasserfall, unter dem sie und Rivka durchlaufen konnten, an die Waffelverkäufer und an das Karussell hätte sie am liebsten geweint.

»Es wird zu dunkel sein, wenn ich heimkomme. Aber am Wochenende, wenn der Schnee so lange liegen bleibt, und diesmal sieht es danach aus.«

Ruthie arbeitete in der Innenstadt bei Sam’s in der Abteilung für bessere Kleider ab 3,98 $, deshalb bekam sie auf Kleidung Rabatt. Ruthie hatte auf der Highschool die Fächer gewählt, die aufs College vorbereiteten, aber dann war doch kein Geld für ein richtiges Studium da, und jetzt belegte sie Abendkurse an der Wayne-Universität und fuhr viermal die Woche abends mit der Woodward-Straßenbahn hin. Ruthie hatte in der Highschool auch Schreibmaschine und Stenografie gelernt, aber keine Stellung in einem Büro gefunden. Nur jüdische Firmen stellten jüdische Mädchen ein, und es gab nicht viele, die junge Sekretärinnen suchten. Naomi hatte Ruthie zu Arty sagen hören, sie überlegte, ob sie protestantisch in die Bewerbungen schreiben sollte, aber dann merkten sie es doch an ihrem Namen und ihrem Aussehen. Außerdem kamen sie ihr drauf, wenn sie sich an den Feiertagen freinahm.

 

In der Küche hatte Tante Rose Hafergrütze gekocht und zum Warmhalten auf einen Topf mit heißem Wasser gestellt. Onkel Morris hatte schon früher gegessen und war dann zum Chevrolet-Werk gefahren. Duvey schlief immer noch. Die Großen Seen waren jetzt nicht mehr schiffbar, und er war arbeitslos. Sonst arbeitete er auf den Erzfrachtern. Ihr anderer Vetter Arty frühstückte in der Wohnung oben mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern, aber Abendbrot aßen alle zusammen.

Das Holzhaus kam Naomi groß vor, so dass sie anfangs dachte, ihre amerikanische Familie müsse reich sein; die Wohnung der Familie Lévy-Monot in Paris hatte außer der salle de bains und dem WC nur drei Zimmer: die winzige Küche, die große salle à manger, in der nachts die Mädchen schliefen und die auch als Wohnzimmer diente, und das Schlafzimmer ihrer Eltern. Jacqueline hatte früher auch in der salle à manger geschlafen, aber Maman hatte eine der ehemaligen chambres de bonne oben unter dem Dach für Jacqueline gemietet, als sie fünfzehn wurde.

Die Siegals bewohnten ein zweigeschossiges Holzhaus mit einer Veranda nach vorn und zusätzlich einer überdachten Außentreppe mit kleinen Veranden zur Hintergasse. Das Haus stand hinter einem anderen Haus, ebenfalls aus Holz und dreigeschossig, mit einem kleinen Hof dazwischen, auf dem sie mit Sandy Rosenthal aus der Parterrewohnung im großen Haus und mit Sandys kleinem Bruder Roy spielte. Eine große Ulme breitete ihre Zweige darüber wie ein ganzer Wald. Sie hatte noch nie einen eigenen Baum gehabt. Die nächsten Bäume daheim standen in einem kleinen Park beim lycée von Jacqueline.

Hier war nichts hoch, erst wenn sie in die Innenstadt fuhren, da waren sehr hohe Gebäude, die Wolkenkratzer hießen, so hoch wie der Eiffelturm, aber aus Mauerwerk. Zu Hause war fast jedes Wohnhaus sechs oder sieben Stockwerke hoch. Hier waren die Häuser ganz verschieden groß, als wären sie alle anders gewachsen, wie Menschen, aber die meisten hatten nur zwei oder drei Geschosse. Die Leute schienen zu bauen, wie sie Lust hatten, jedes Haus anders, viele sogar aus Holz, wie ihrs. Anfangs war Detroit für sie eine Spielzeugstadt, Kartenhäuser, die plötzlich umfallen konnten.

Während sie ihre Hafergrütze mit braunem Zucker aß, musste sie daran denken, wie ihre Eltern einmal davon geredet hatten, dass Madrid gefallen war, und sie sich ein Erdbeben vorgestellt hatte. In einem amerikanischen Film hatte sie nämlich gerade ein Erdbeben gesehen. Papa hatte sie und Rivka mitgenommen in den Film, wo unten in Französisch stand, was alle sagten, aber er hatte ihnen befohlen, das nicht zu lesen, damit sie ihr Englisch schulten. Naomi hatte damals gedacht, die Mauern von Madrid wären umgefallen, aber als dann Paris fiel, war sie zehneinhalb und wusste es besser. Boston Blackie saß neben ihrem Stuhl und hoffte auf ein Häppchen. Der aß auch wirklich alles, sogar Hafergrütze.

»Mame«, sagte Ruthie gerade, »bei dem Schnee kannst du nicht draußen rumrennen. Du holst dir noch den Tod.«

Tante Rose war eine rundliche Frau, molliger als Maman und viel älter, eine der vier Schwestern aus Kozienice in Polen. Ihr Haar war immer noch lacklederschwarz, aber ihr Gesicht war verrunzelt wie eine Backpflaume. Onkel Morris war mit zwölf Jahren rübergekommen, und alle sagten, er sprach, als wäre er in Amerika geboren, aber Tante Rose war erst mit achtzehn in die Vereinigten Staaten gekommen und sprach mit einem Beiklang, der sie verriet. Sie hatte eine tiefe, würzige Stimme. Naomi liebte diese Stimme, wenn Tante Rose nicht gerade schimpfte, eine Stimme, bei der sie an würziges Winternaschwerk denken musste. Nelken, Schokolade, Zimt.

»Ich will nur zur Markthalle und sehen, was heute günstig ist. Zwei kleine Fahrten mit der Straßenbahn. Heute ist Mittwoch, die harte Mitte der Arbeitswoche. Ich dachte an ein Stück Rind für gedempte flaisch oder wenigstens ein Schmorgericht.«

»Mame, tu mir einen Gefallen. Kauf das Fleisch an der Ecke.«

»An der Ecke ist es pro Pfund zwei Cent teurer.«

»Bei dem Schnee heute kauf es an der Ecke. Bitte, Mame. Mir zuliebe.«

»Gut«, sagte Tante Rose und strich ihrer einzigen Tochter über den Kopf. Naomi wusste, Tante Rose wartete, bis Ruthie die Woodward-Avenue-Straßenbahn zur Arbeit genommen hatte, und ging dann mit ihren Einkaufstaschen los, um für ihr weniges Geld so viel wie möglich zu kaufen. »Vergiss nicht das schöne Mittagessen, das ich dir eingepackt habe.«

Naomi stellte das letzte bisschen Hafergrütze für den Kater hinunter, der alles rasch und leise verschlang. Sie verstanden sich gut.

Jeden Tag aß Ruthie hastig ihre Brote aus der braunen Tüte im Frauenaufenthaltsraum. Dann eilte sie in die Stadtbücherei, um zu lernen. Ruthie hatte immer ein Buch in der Handtasche, das sie las, wenn sie Straßenbahn fuhr, wenn sie Suppe umrührte, wenn alle anderen Radio hörten.

Naomi war neugierig, ob Tante Rose daran gedacht hatte, ihr Pausenbrote zu machen, aber zu schüchtern, danach zu fragen. Ruthie sah sie an und schien ihre Gedanken zu lesen. »Mame, hast du Naomis Pausenbrote gemacht?«

»Warum soll ich sie nicht gemacht haben? Nur, weil ich’s einmal vergessen habe. In meinem Alter, kann mir da ein kleiner Fehler nicht vergessen und verziehen werden?«

»Was kriege ich?«, fragte Naomi. Maman würde jetzt sagen, sie sei frech, aber sie war neugierig. Hier rügte sie niemand für ihre Fragen, obwohl Onkel Morris sie ein bisschen aufzog, wenn er sie fragen hörte. Jeden Morgen machte Tante Rose drei verschiedene Mittagspakete, in drei verschiedenen Brotbüchsen und Thermoskannen.

»Heute wegen des Schnees schöne heiße Kohlsuppe. Dazu Brot und ein stickl Käse.«

Das war bestimmt der Borschtsch nur aus Roten Beten und Kohl, nicht der mit Rindfleisch. Naomi aß ihn gern, aber sie bekam davon Heimweh, weil Maman auch solch eine Suppe machte: eine Familiensuppe, von den Eltern gelernt. Sie konnte sie wahrscheinlich auch kochen, wenn sie wollte. Aber sie wollte nicht. Sie wollte sie gekocht bekommen, von Maman.

Sie zog ihre Gamaschen und Galoschen an, knöpfte ihren Mantel zu, nahm ihre Schreibhefte und den Ranzen für Bücher, die Thermoskanne, rot und mit einem Bild von Superman, und machte sich auf den Weg zur sechs Straßen entfernten Schule. Draußen war es noch dunkel, und die Laternen brannten, aber der Himmel wurde schon langsam hell.

Der Schnee fiel in großen, trägen Flocken, als hätte er alle Zeit der Welt, um die Stadt zuzudecken. Die geparkten Autos waren schon beschichtet. Erwachsene fuhren hier nicht Fahrrad oder Motorrad, sogar Fabrikarbeiter hatten Autos. Onkel Morris hatte eins, aus seiner eigenen Fabrik. Jeden Monat zahlte er dafür Geld, wie Miete, obwohl es nicht neu war und die Stoßstange schon eine Delle hatte und rostete. Papa hätte gerne ein Auto gehabt. Er konnte fahren. Früher, bevor die Nazis alles so schwer machten, waren sie manchmal mit Georges, dem Autoschlosser, in seinem alten Renault mit seiner Frau und seinem dicken, gutmütigen Sohn Razi aufs Land gefahren. Dann hatten ihre Eltern sich benommen wie Kinder, hatten gekichert und sich gekabbelt. Alle aßen Hühnchen und tranken Rotwein. Papa spielte Mundharmonika, und sie sangen in Französisch und Jiddisch.

Sie trabte vorbei an der koscheren Fleischerei von Brillen-Rosovskys Vater, wo Tante Rose nicht gern kaufte, weil sie ihn zu teuer fand, vorbei an dem Fischgeschäft, in dem Sandys Vater arbeitete, vorbei an dem Eisenwarenladen, an dem guten Brotgeruch von Fenniman’s Bäckerei und dem dunklen Biertunnel der Bar. Hier war der Bürgersteig schon matschig. Sie stapfte in die Schmelzpfützen. Sie errichtete beim Laufen Mauern um sich, rüstete sich für die Schule, wo Englisch schreiben und sprechen und lesen nur ein kleiner Teil ihrer Aufgaben war.

Der schwerste Teil war, wie die anderen Kinder zu sein, die ihr älter und zugleich jünger vorkamen, nur nicht wie zwölf, wie sie. Alle machten sich viel mehr aus Jungens, wussten Bescheid über Autos und Sport und Anziehsachen, über Radioprogramme und Comics. Für die anderen Kinder war der Krieg etwas im Radio, war weit weg und gehörte zu »Terry und die Piraten«, was auch sie sofort nach der Schule anstellte, gefolgt von »Käpten Mitternacht« und »Jack Armstrong, ein echt amerikanischer Junge«. Die waren alle nie mit Bomben beworfen worden. Hatten nie vor Angst gezittert, weil Flugzeuge im Tiefflug auf sie zukamen und mit Kugeln schossen, um zu töten. Hatten nie eine Mutter gesehen, die ein Baby ohne Kopf hielt. Hatten nie Menschen und Kühe tot auf den Feldern liegen sehen wie ekelhaftes, stinkendes Fleisch. Stellten sich den Krieg nicht als Feuersbrunst vor, die aus der Richtung kam, wo die Sonne aufging, so dass das Morgenrot von den Feuern entfernter Bomben zu kommen schien, von brennenden Städten, von einer Angst wie Rauch, den der Wind immer mit sich trug.

Bernice 1
Bernice und die Piraten

Bernice war in der Überzeugung aufgewachsen, ihr Name sei »Bernice-Professor-Coates’-Tochter«, etwa wie Kristin Lavransdatter, fiel ihr auf, als sie den Roman von der Undset las. Zu der Zeit war ihr Name schon seit Jahren zu »Arme-Bernice-Professor-Coates’-Tochter« erweitert worden, der arme, mutterlose Jeff und die arme, mutterlose Bernice.

Mutter war eine mollige, warme, schusselige Frau gewesen, der ständig Schals und Handschuhe herunterfielen und die stets eine voluminöse, aus den Nähten platzende lederne Handtasche, so rund und zylindrisch wie ein Flusspferd, mitschleppte und dazu eine mit Büchern und Strickzeug, Taschentüchern und Arzneien vollgepfropfte Reisetasche, nicht nur auf ihren allsommerlichen Europareisen, sondern auch bei Tagesausflügen nach Boston oder zu Abendbesuchen bei Freunden. Wer den Professor, hager, vorzeitig ergrauend, mit einem Spazierstock, den er hauptsächlich beim Treppensteigen benutzte, neben seiner fülligen, oft nachlässig gekleideten Frau Viola sah, der hielt ihn für den Kopf und sie für den Körper.

Und doch erinnerte sich Bernice, wie sich Viola bei den Donnerstagsessen mit zwei ihrer Freundinnen durch die Ilias und Pindar rezitiert und diskutiert hatte. Violas Latein und Griechisch waren dem des Professors weit überlegen, und Viola war auch keine taube Nuss auf seinem Spezialgebiet, den modernen europäischen Sprachen. Wenn der Professor seine Schützlinge – Studenten oder Klubfrauen oder Rentner oder Schullehrer – jeden Sommer in den Ferien auf eine Bildungsreise durch Europa führte, um die vornehme Armut seines Salärs aufzubessern, kamen aus Violas Tasche die Guides Bleues und die Baedeker, ergänzt durch Geschichte und Kunstgeschichte.

Viola war eine stattliche Frau gewesen, mit weitem Schoß und herzlicher, belustigter Stimme, eine Frau, der niemand zugetraut hätte, innerhalb eines Monats zu sterben, an doppelseitiger Lungenentzündung in einem scheußlichen, unvergesslichen Februar. Bernice war damals elf gewesen, Jeff zwölf und schmächtig für sein Alter, scheu, in Bücher vergraben. Bernice hatte begonnen, den Haushalt zu führen, in tiefer Verwirrung und mit ständigem innerem Gebet, ihre Einsamkeit und ihre Last mögen nicht von Dauer sein. Mutter würde wiederkommen, ebenso unversehens, wie sie entschwunden war, zuerst ins Krankenzimmer, dann ins Krankenhaus, dann in den plötzlich geschrumpften Leib. Ihr Vater hatte immer nur hinter meist verschlossenen Türen gelebt, doch ihre Mutter hatte sie, bei allem Respekt, den sie für ihre Konzentration verlangte, immer auf den Schoß genommen, während sie las oder plauderte.

Das ganze nächste Jahr über wachte Bernice jeden Morgen mit der Hoffnung auf, ihre Mutter würde in der Küche sein und Schinkenspeck braten, Rosinenzimttoast bereiten. Immer wieder wartete sie auf diesen Geruch nach Zimt und Kaffee.

Doch sie kam herunter in eine kalte und leere Küche mit dem Geschirr vom Vorabend, schon von ihr abgewaschen oder auch nicht, um Frühstück zu machen, ein Mädchen, bald groß genug, um an die hohen Borde heranzukommen. Für Jeff und sich machte sie Haferschleim mit einem Drittel Erdbeermarmelade, ihre Erfindung. Sie erfand viele Gerichte in ihrer frühen Kochphase, die meisten davon sonderbar. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag schenkte ihr der Professor ein Fannie Farmer-Kochbuch. Sie hasste es auf Anhieb, seinen ruhigen, gebieterischen Ton, sein Gewicht, seine Schnürschuhmanier, aber sie meisterte es trotzdem. Schlichte, vernünftige Küche. Warum nicht? War das nicht, wie die Leute sie sahen? Ein schlichtes, vernünftiges Mädchen.

 

Jetzt, dreizehn Jahre später, machte sie immer noch jeden Morgen dem Professor das Frühstück. Montags bis freitags mochte er seine Eier pochiert oder als Ochsenaugen auf Zimttoast, mit knusprigem, aber nicht angekohltem Schinkenspeck. Er trank Café au lait mit einem Teelöffel Zucker. Er mochte seine Morgenzeitung, den Globe, zusammengefaltet neben seinem Teller. An Wochenenden bevorzugte er Pfannkuchen mit Ahornsirup, und das Frühstück wurde um neun Uhr serviert.

Der Professor verließ zeitig das Haus, um zum fünf Querstraßen entfernten Campus zu gehen, aber letzte Nacht hatte es geschneit, und er nahm sich zusätzliche Zeit zur Bewältigung der noch nicht freigeschaufelten Bürgersteige. Die Leute dachten oft, sein leichtes Humpeln rührte von einer Kriegsverletzung her, denn er hatte in dem Krieg gedient, der allen Kriegen ein Ende machen sollte. Bernice wusste, dass ihr Vater den Krieg in Washington mit dem Übersetzen deutscher Kommuniqués zugebracht hatte. Sein Fuß war verletzt worden, als ihm eine Kuh drauftrat, auf der Farm ihres Großvaters in Putney, Vermont, als Bernice noch klein war.

Den Eberkopfspazierstock hatte er in Köln erstanden, als Ersatz für einen älteren Hickorystock, der – auch wenn das allen hier unglaubhaft vorgekommen wäre – in einer Straßenschlägerei entzweigegangen war, als der Professor einen jüdischen Heine-Forscher besuchte, mit dem er eine Korrespondenz unterhielt. Beim Verlassen eines Theaters waren die Braunhemden über seinen Freund hergefallen, der kurz zuvor bereits von der Universität gejagt worden war. Bernice sah dieses Abenteuer als die vielleicht beste Stunde des Professors; den jedenfalls hatte sein körperlicher Mut halb überrascht und halb beschämt, denn Schlägereien fand er unkultiviert. Bernice hielt den Eberkopfgriff auf Hochglanz. Deutschland hatten sie danach von ihrer Reiseroute gestrichen.

Bernice stand am Spülbecken und wusch das Frühstücksgeschirr ab. Sherlock Holmes streckte den mageren, sehnigen Arm und injizierte sich die Kokainlösung, die sie sich immer als blaue Flüssigkeit vorstellte, wie Kobalt. Ihre eigene Droge war, sich im Kopf Abenteuerfilme vorzuspielen. Am Sonntagnachmittag war sie mit ihrer Nachbarin Mrs. Augustine im Kino gewesen, um sich Errol Flynn als Pirat anzuschauen. Danach hatte sie diesen Film mit Variationen durchgespielt, während sie das Haus putzte, während sie die Socken des Professors stopfte, während sie die Manuskripte anderer Professoren tippte, aber ihre Vorstellung von sich selbst als herausgeputzter Beutemaid irgendeines Piraten hatte sich innerhalb eines Tages abgenutzt, war eigentlich vom ersten Moment an unglaubwürdig. Seitdem hatte sie sich zu den Piraten geschlagen. Doch, es hatte auch Piratinnen gegeben, Anne Bonney zum Beispiel.

Mit dem Säbel um sich zu hauen und sich durch die Takelage zu schwingen war ihr Schönstes, auch wenn sie an Flynns sinnliches Gesicht und seinen drahtigen Körper mit Wohlgefallen zurückdachte. Bernice handhabte das Rapier mit einiger Fertigkeit, denn sie hatte mit ihrem Bruder in St. Thomas gefochten, unter dessen Eleven immer einige, wenn auch nicht besonders gern gesehene Mädchen waren. Nun rief sie einen Tagtraum auf, von dem sie drei Jahre lang gezehrt hatte. Darin flog sie zum Pazifik und rettete Amelia Earhart von einer unkartierten Insel, auf der sie abgestürzt war. Manchmal führte Bernice die Expedition an, und manchmal flog sie als blinder Passagier mit und übernahm dann an einem kritischen Punkt, erwies sich als beste Fliegerin der ganzen Gruppe: So sehr aus der Luft gegriffen war das gar nicht. Die Burschen auf dem Flugfeld achteten ihr Talent.

Als Nächstes stapfte sie zum Campus mit einer Liste von Büchern, die der Professor haben wollte. St. Thomas war kein katholisches College, denn das hätte es in den Ruch gebracht, von Schülern niederer sozialer Herkunft bevorzugt zu werden. Wenn überhaupt, dann war es episkopal (Teilnahme an den Gottesdiensten war, zumindest auf dem Papier, Vorschrift); im Grunde jedoch war St. Thomas ein College, auf das reiche Eltern die Söhne schickten, die es geschafft hatten, woanders rauszufliegen, Jungen, die sich an Wochentagen betranken, Jungen, die am falschen Ort in der falschen Gesellschaft oder mit dem falschen Geschlecht erwischt worden waren, Jungen, die, um die Prüfungsfragen vorher zu erfahren, den Pedell bestochen hatten und dabei aufgeflogen waren.

Ihr Vater hatte einst den Ehrgeiz gehabt, St. Thomas für etwas Vielversprechenderes zu verlassen, aber die Kombination aus der Großen Depression und Violas Tod hatte ihn dort ein für alle Mal auf Grund gesetzt. Sie saß mit ihm auf Grund. »Wie geht es ihm?«, fragten die Nachbarn sie. Wie es ihr ging, sah man ja. Gesund, immer gesund.

Der Briefträger kam mit der Morgenpost die Straße herauf. Sie wartete auf ihn und entfernte sorgfältig den Schnee von den Rhododendren. »Wie geht es Ihnen heute, Msch Coates?« Aus Taktgefühl vernuschelte er ihre Anrede, denn der Briefträger empfand ihren ledigen Stand als eine Schande, die er nicht betonen mochte.

Sie wurde für ihre Nettigkeit zu den Rhododendren mit einem Brief von ihrem einzigen Bruder Jeff belohnt, inmitten einer Handvoll Briefe aus Europa von Bekannten, die Einwanderungsbürgen oder Hilfe suchten. Vielleicht hatte Jeff auch dem Vater geschrieben, aber er wusste, dass sie täglich die Post in Empfang nahm, und schrieb ihr getrennt.


La Colina Roja
Taos, New Mexico 30. November 1941

Liebster Brachvogel,

es ist kalt hier oben. Letzte Woche hatten wir ein paar Stäubchen Schnee, aber am meisten vermisse ich Neuengland im Herbst und dann wieder schmerzlich, wenn die Feiertage nahen. Es tut mir leid, dass ich zu Thanksgiving nicht heimkommen konnte, aber offen gestanden kann ich nicht zweimal fahren – keine $$ wie üblich, deshalb dachte ich, ich komme zu Weihnachten. (Ich bin halb versucht, nicht hierher zurückzukehren, aber wir werden sehen.)

Sie las nicht weiter und faltete den Brief sorgfältig in ihre kleine, praktische Umhängetasche (was musste sie, gattenlos, kinderlos, beruflos, schon dabeihaben außer ihrer Brieftasche, der Geldbörse, den Schlüsseln und einem kleinen, praktischen Kamm zur Erste-Hilfe-Leistung, wenn der Wind ihren kurzen, praktischen Haarschnitt zerzaust hatte?). Die Zeilen hatten sie aufgewühlt. Jeff war wieder einmal auf dem Absprung in eine neue Richtung. Der Professor würde verärgert, sarkastisch reagieren. Sie hingegen war neidisch auf die Freiheit, die Jeff vielleicht nicht gewinnbringend nutzte, aber immer hatte.

Die Freiheit, eines Morgens seine Sachen zu packen und sich davonzumachen, abzuhauen. Er hatte Freiheit in Hülle und Fülle, und sie hungerte nach einem Krümel davon. Sie empfand auch eine Handbreit Zorn, ein Gefühl, dass sie keine Schwierigkeiten gehabt hätte, sich nützlich in der Welt niederzulassen und ihre Energie, ihre Intelligenz, ihre Kraft einer würdigen Aufgabe zu widmen. Ihr fielen fünfzig Unternehmungen ein, zu denen sie nur zu gerne aufgebrochen wäre.

Inne książki tego autora