Er, Sie und Es

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Wie lange weißt du schon über meine Mutter Bescheid?«

»Ich kenne sie, seit sie geboren wurde, weißt du«, sagte Malkah mit dem gleichen spitzbübischen, spöttischen Lächeln. »Mir ist seit Jahren bekannt, was sie tut.«

»Warum hast du es mir nie gesagt?«

»Was hätte es dir geholfen, wenn du es gewusst hättest?«

»Was hat es mir geholfen, es nicht zu wissen?«

»Du hast dich dadurch sicherer gefühlt. Es gab dir die Freiheit, deinen eigenen Weg zu wählen.«

»Jetzt werde ich mich immer fragen, ob einer der Gründe für meine Vernachlässigung bei Y-S war, dass Riva als gefährliche Rechtsbrecherin gilt.«

»Nicht ausgeschlossen. Obwohl wir niemals offen miteinander Kontakt haben. Ich könnte mir vorstellen, dass wir sie nicht einmal erkennen, wenn sie kommt – falls sie kommt.«

»Warum denkst du, dass sie jetzt kommen könnte? Hatte sie die Absicht zu kommen, weil sie Ari will?«

»Nein, Liebling, sie hatte nie vor, Ari zu nehmen. Ihr Leben ist zu gefährlich, um irgendein Kind bei sich zu haben. Als du Kind warst, habe ich dieses kleine Märchen über unsere Familie erfunden, um dir zu erklären, warum du bei mir aufgewachsen bist und nicht bei deiner Mutter. Damit du keine Fragen stellst. Deine Mutter ist ein politischer Flüchtling und sie lebt von ihrer Geistesgegenwart und ihren Verbindungen.«

Shira ertappte sich dabei, wie sie die Augen aufriss und ihr der Kiefer herunterfiel. »Willst du mir damit sagen, dass ihr nicht bei euren Großmüttern aufgewachsen seid, seit der zehnten Generation?«

»Es war eine gute Geschichte, stimmt’s?«, sagte Malkah stolz. »Ich hatte den Eindruck, sie gefiel dir.«

Aber Shira hatte ein Gefühl, als ob alle Räume ihrer Kindheit plötzlich die Plätze tauschten. Sie war ärgerlich, sogar wütend auf Malkah, weil sie sie angelogen hatte, weil sie sie zum Narren gehalten hatte. In Kinderbüchern buken bobes Kekse und strickten; ihre Großmutter tanzte wie eine Primaballerina durch die Spinnennetze der künstlichen Intelligenz und zählte sich mit früheren Liebhabern in den Schlaf.

Als Shira an diesem Abend im Bett lag, wirbelten ihr Bruchstücke des Tages durch den Kopf. Jetzt verstand sie ihre ungewöhnliche Position bei Y-S. Wenigstens hatte es nicht an ihren Fähigkeiten gelegen, ihren Arbeitsergebnissen. Durch diese Information fühlte sie sich gerechtfertigt, rehabilitiert, aber gleichzeitig wurde ihre ganze Vorstellung von ihrer fremden Mutter auf den Kopf gestellt. Wenn Riva wirklich bald kommen würde, dann konnte das leicht heißen, dass Shira Ari nie zurückgewinnen würde. Ja, wie konnte sie überhaupt hoffen, ihn Y-S abzuringen? Seine Testergebnisse waren jetzt schon glänzend. Noch auf der Pazifika-Plattform würde Y-S damit beginnen, ihn auszubilden, zu erziehen, zu formen. Auf der Pazifika-Plattform würde es für Josh viel schwerer sein, die Marrano-Identität zu bewahren. Er würde den Einfluss auf Ari verlieren. Y-S würde Ari verschlingen und ihn zu einem ihrer faden Klone machen.

Warum hatte sie Josh nicht lieben können? Es war ihre alte Ruhelosigkeit. Es war der Wurm in ihrem Herzen, der jeden Apfel zerfraß. Was Malkah zu Recht ihren Dybbuk nannte. So würde sie leben, bis sie eine alte, alte Frau war, und immer von dem Leben träumen, das sie mit dreizehn gekannt hatte, und sich immer in ein Paradies zurücksehnen, aus dem sie herausgewachsen war, als sei es ein hübscher Kinderlackschuh, halb so groß wie ihr erwachsener Fuß.

Malkah wollte sie offensichtlich dahaben und versuchte, es ihr schmackhaft zu machen, indem sie so tat, als glaube sie Avrams astronomische Behauptungen über seine Maschine. Vielleicht war Malkah einsamer, als es schien. Shira war aufgefallen, dass sie Probleme mit den Augen hatte. Die alte Frau versuchte, ihr schwindendes Augenlicht zu verheimlichen, aber sie bewegte sich sehr viel rascher im Hellen und sehr viel langsamer im Halbdunkel. Sie sah nicht immer Gegenstände, die Shira von ihrem angestammten Platz entfernt hatte. Das musste bald, aber taktvoll zur Sprache gebracht werden. Avram und Malkah spielten beide immer wieder auf die Gefahr an, aber Tikva machte nicht den Eindruck einer belagerten Stadt. Sie hatte beide im Verdacht, stark zu dramatisieren, um ihr Interesse zu wecken. Unnötiger Wirbel; sie wusste zurzeit sowieso nicht, wohin sie sonst gehen sollte.

10Malkah
War es gut, das zu tun?

Als Riva noch ganz klein war, hatte sie schon einen unbändigen Willen. Selbst als Säugling schwoll sie vor Zorn, sie schrie sich krank oder sie hielt den Atem an, bis ich vor Sorge außer mir war. Mit zwei gewöhnte sie sich an, in höchster Lautstärke Nein zu sagen. Ich sehe sie immer noch in der Mitte des Hofes stehen und dieses eine Wort sagen, bis die Wände davon widerhallten, und dann verstummte sie und weigerte sich, auch nur einen Ton von sich zu geben. Wie sind wir dazu gekommen, uns schon so früh in einem Wettkampf des Willens zu verkeilen?

Sie glich einer Katze darin, dass sie geschlossene Türen hasste. Eine abgeschlossene Schublade, ein unzugänglicher Kasten, ein geschütztes Programm, ein vor ihr verstecktes Buch machten sie unersättlich, so wie andere Kinder nach Bonbons oder Pommes Frites verlangen. Der Tipp, dass etwas ihr Verständnis übersteige, brachte sie dazu, sich jeden Wälzer einzuverleiben. Sie liebte es, sich leise heranzuschleichen, während ich mit anderen schwatzte, nur um Geschichten zu belauschen, die ihr nichts bedeuten konnten, über Leute, die sie kaum kannte. Bereits mit zwölf Jahren wühlte sie in der Basis herum, in jedermanns Personalakte, rein und raus, mein kleiner stupsnasiger Maulwurf. Dann schrie ich sie an: »Das Privatleben ist heilig! Du kannst nicht einfach in anderer Leute Geheimnissen herumstöbern.«

»Das, was wir nicht wissen, macht uns dumm«, sagte sie dann mit trotzig hochgezogenen Schultern. Sie war nicht bereit, sich zu schämen. Wir sollten alle alles wissen.

Wenn ich an mich selber mit zwanzig denke, sehe ich ein leidenschaftliches, konfuses Geschöpf, das nach Gefühlen grapschte und nach Ideen schnappte, so ungeduldig wie mein eigenes Kind nach Antworten und Befriedigung ihrer Neugier. Ich versuchte immer wieder, sie davon zu überzeugen, es so zu machen wie ich, versuchte, ihr Gehorsam einzureden. Meine Worte fluteten über sie hinweg, suchten ihre Granitklippen abzutragen. Ich redete und redete; sie stand stumm, verstockt.

Du hast dich anfangs auch gesträubt zu sprechen. Weißt du noch, Yod? Manche sagen, dass Judahs Golem – was ›Masse, Klumpen‹ bedeutet – nicht sprechen konnte, aber das ist ein Irrtum, der auf anderen Golems der Legende beruht. Er plappert nicht, sondern ist schweigsam, wie es sich für einen Mann aus Lehm gehört. Aber als er in dieser Nacht von Rosch Chodesch im Monat Adar die grauen Augen aufschlägt, fragt er den Maharal: »Vater, war es gut, das zu tun?«

»Es war notwendig. Und du sollst mich nicht Vater nennen.« Der Maharal hatte mit seinem einzigen Sohn, Bezalel, eine Beziehung durchgemacht, die stürmisch genug war. Bezalels Tod ist im Gefühl des Maharal immer noch ebenso bitter wie unnatürlich. Deswegen ist ihm die Anrede des Golems ein besonderes Ärgernis. Ein Sohn sollte seinen Vater begraben, nicht umgekehrt. Bezalel starb an einer Unpässlichkeit, einem Schnupfen, der auf die Lungen übergriff, genau wie Leah. Es war ein absurder Tod, der den Maharal immer noch grämte. Judah hatte versucht, seinen Sohn zu seinem Nachfolger als Hoher Rabbi von Prag bestimmen zu lassen, aber er war gescheitert, und Bezalel war im Zorn gegangen. Dieses Geschöpf, das er ins Leben gerufen hat, ist nicht sein Sohn. »Du sollst mich Rabbi nennen. Dein Name ist von nun an Joseph.«

Der Maharal gibt dem Golem den Überwurf, in den er die Tora eingewickelt hatte, um seine Nacktheit zu bedecken, denn die drei haben ihn als Mann geformt. Sie haben es getan, ohne darüber nachzudenken oder zu sprechen. Der Maharal hätte wahrscheinlich gesagt, er glaube nicht, diese Formgebung verbessern zu können. Sie machten einfach einen Mann aus Lehm.

»Joseph«, wiederholt der Golem gehorsam. Er kommt schwerfällig auf die Füße, schwankt und scheint zu stürzen, während der Maharal Itzak und Jakov vorschickt, ihn von beiden Seiten zu stützen. Sie empfinden offensichtlich Widerwillen, ihn zu berühren. »Kannst du gehen, Joseph? Schau, einen Fuß und dann den anderen. Einfach so.« Der Maharal macht es geduldig vor. »Wir müssen schleunigst vor der Dämmerung ins Ghetto zurück. Kommt, wir müssen ihm helfen. Ich kann die Dämmerung schon riechen. Wir müssen uns beeilen, sonst fangen uns die Wachen.«

Aber niemand tritt vor, den Golem zu berühren. Der Maharal selbst verspürt einen Widerwillen, seine Hand auf dieses seltsame Fleisch zu legen. Würde er kalt sein wie Lehm? Würde er sich anfühlen, als sei er tot? Der Maharal muss mit gutem Beispiel vorangehen, und er legt einen Arm um das riesige Wesen.

Der Golem schwankt vorwärts, den Mund leicht geöffnet, das Gesicht zusammengezogen vor Konzentration auf die Anstrengung. Er biegt sich wie eine Eiche in starkem Wind, er ragt über dem Maharal auf. Er hat kurzes rötliches Strubbelhaar und eine erdige Gesichtsfarbe. Der Maharal hat nicht auf Ansehnlichkeit geachtet, als er ihn machte, doch er ist auch nicht missgestaltet. Er hat einen kräftigen Nacken, breite Schultern, einen vierschrötigen Körper und massige, etwas flächige Züge, die an Tataren erinnern.

Joseph tut zuerst einen Schritt, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt, und wieder muss er gestützt werden. Jetzt endlich nehmen Itzak und Jakov auf beiden Seiten Stellung, bieten ihm Halt. Sein Gewicht wirft sie fast zu Boden. Dann tut er einen winzigen Schritt. Das funktioniert. Er tut noch einen winzigen Schritt. Auf die Art werden sie die ganze Nacht brauchen, um aus dem Wald zu gelangen. Ihn zu tragen steht völlig außer Frage, denn er ist größer als jeder von ihnen, und allein das Gewicht seiner Hand auf ihren Schultern verrät den beiden jüngeren Männern, dass er in der Tat schwer ist. »Ein wenig schneller, Freund«, ächzt Itzak unter Josephs Gewicht.

 

Schließlich lässt Joseph sie los, und mit ungeschickten, ruckartigen Bewegungen geht er endlich. Schritt für Schritt. Dann stolpert er über einen Baumstamm. Er stürzt vornüber, schlägt mit dem Kinn dumpf auf den Boden. Als sie versuchen, ihn hochzuziehen und er sich müht, auf die Beine zu kommen, kracht er hintenüber.

Es braucht alle drei von ihnen, dass er wieder hoch und in Gang kommt. Itzak fragt: »Rabbi, was werden wir den Leuten sagen, wenn sie fragen, wo dieser riesige Mann herkommt?«

»Sagt, aus Galizien. Die Leute glauben alles über Galizier. Seine Mutter hat ihn fortgeschickt, damit er nicht zu den Soldaten musste. Ich habe ihn auf der Straße gefunden, einen schwachsinnigen Bettler. Er wird Schammasch in der Synagoge.« Kürzlich wurden ihrem Schammasch seine Aufgaben zu schwer. Er ist ein alter Mann, er braucht seine Ruhe. Der Maharal wendet sich an den Golem. Er spricht kälter zu Joseph als zu Itzak und Jakov. »Du wirst Holz sägen, Wasser holen, die Feuer anzünden, die Asche hinaustragen, den Boden der Altneuschul fegen, unserer schönen Synagoge. Verstehst du?«

»Ich werde tun, was du sagst. Wie kann Lehm verstehen?«

Der Maharal ist nicht sicher, ob ihn der Golem verspottet, aber er zieht es vor, seinem Zweifel nicht nachzugehen. Er wendet sich um und macht sich auf den Weg zur Stadt, hastig gefolgt von Itzak und langsamer von Jakov, der nur ein kleines Stück vor dem Golem herspaziert und seine Furchtlosigkeit zur Schau stellt. Jakov hat seine Würde zurückgewonnen und ist bemüht, sie nicht wieder zu verlieren. Der Golem schreitet schwerfällig hinterdrein, beglotzt jeden Baum, jeden Busch. Der Flug einer Eule durch die Dunkelheit bringt ihn dazu, mit offenem Munde stehen zu bleiben. Der Maharal spürt seine einundachtzig Jahre, seine Erschöpfung. Diese Nacht hat ihn seiner letzten Kräfte beraubt. Sein Kopf wimmert vor Fieber. Es ist schwer voranzuschreiten, als trüge ihn eine innere Kraft, wenn er sich eigentlich auf die Erde legen möchte. Er kann sich Schlaf nicht einmal vorstellen, denn er ist zu lange von Schlaflosigkeit geplagt, von Ärger, von Sorge, von Gewissensqualen. Seine ganze Hoffnung ist, in Wärme und Trockenheit auszuruhen.

Der Golem hat das Gehen jetzt gemeistert. Er bewegt sich gut und kraftvoll. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen, um seine Arme auszustrecken oder einen über den Kopf zu recken, um den Kopf zu schütteln wie ein Hund, der Wasser abschüttelt, um zu nicken oder zu blinzeln, um den Kiefer zu bewegen, als ob er etwas zerkaue. Dem Maharal wird klar, dass Joseph verschiedene Körperfunktionen ausprobiert, seine großen und kleinen Muskeln bewegt, experimentiert. Er wackelt mit den Ohren und mit der Nase wie ein Kaninchen. Der Maharal hat den Drang, Joseph wegen seiner Grimassen zu ermahnen, wie er es mit einem Jungen im Cheder tun würde, aber er hält sich zurück. Der Golem ist erst ganz kurz auf der Welt. Er wird Disziplin lernen, sobald der Maharal mit seiner Unterweisung beginnen kann, doch so nahe der Stadt müssen sie leise sein.

Als sie an der Stelle in der Mauer ankommen, wo der Bach sich hindurchschlängelt, sehen sie zwei Wächter mit ihren Piken, die darauf warten, sie gefangen zu nehmen. Sie können gehängt werden; sie können gefoltert und dann gehängt werden. Was immer sie erwartet, es sieht nach einem grässlichen Tod aus, es sei denn, die Männer können bestochen werden. Der Maharal hat ein paar Kupfermünzen in der Tasche, einen prächtigen Gürtel mit goldener Schnalle, aber das ist es auch. Er denkt nicht, dass sie das loskaufen wird. Wächter bekommen einen Anteil an dem Vermögen der Männer, die sie verhaften.

»Joseph«, sagt er sacht zu dem Geschöpf, das ihn überragt. »Wir sind in Gefahr. Diese beiden Wächter wollen uns nicht zurück ins Ghetto lassen. Wir werden sterben, es sei denn, du kannst sie kampfunfähig machen. Sie haben uns nicht gesehen und sie kennen dich noch nicht. Schau, ob du dich anschleichen und ihnen eins auf den Kopf geben kannst, damit sie nicht sehen, wie wir durch die Mauer in Sicherheit gelangen.«

»Ich gehorche«, antwortet der Golem. Rasch und geräuschlos gleitet er durch die Dunkelheit. Die Wächter drehen sich um und sehen ihn erst, als er sich auf sie stürzt. Sie haben nur Zeit, einmal aufzuschreien, bevor er sie packt, jeden in einer Hand, und ihre Köpfe gegeneinanderschmettert. Er lässt sie fallen.

Der Maharal läuft hinzu und beugt sich über ihre Körper. Ihre Schädel sind zermalmt. Blut sickert heraus. »Joseph, du hast sie getötet!«

»Sie sind so leicht zerbrochen.« Joseph runzelt verwirrt die Stirn. »Habe ich etwas falsch gemacht? Bist du böse auf mich, Vater Lehrer?«

»Töten ist falsch«, beginnt der Maharal, aber schließlich ist der Golem geschaffen worden, um zu beschützen. »Du solltest nicht mehr Kraft gebrauchen, als jeweils notwendig ist.«

»Aber ich habe dich beschützt. Jetzt können sie nicht darüber reden, wer heute Nacht aus dem Ghetto kam.«

»Aber ihre Leichen vor der Mauer werden auf den geheimen Ausgang aufmerksam machen. Juden werden die Schuld an dem Mord bekommen. Joseph, du sollst uns vor Schwierigkeiten bewahren, nicht uns in Schwierigkeiten bringen.«

»Lass ihn sie zum Fluss bringen und hineinwerfen. Dann wird uns nichts mit ihnen verbinden«, sagt Jakov. »Ich gehe mit ihm, Rabbi. Warte drinnen.«

Itzak und der Maharal verbergen sich im Gebüsch und warten. Schon ist der Himmel durchsetzt mit dem bleichen Grau der ersten Dämmerung, nicht, als ob das Licht käme, sondern als ob die Dunkelheit sich abnutzte. Der Wind hackt bitterkalt auf sie ein und schneidet durch ihre Kleider. Der Maharal fühlt sich schwach. Er lehnt sich an Itzak. Sein langes Fasten hat ihn eingeholt.

Itzak nutzt die Schwäche des Maharal, um zu sagen: »Lehrer, vielleicht war das ein Fehler. Wir könnten ihn leicht sofort in Lehm zurückverwandeln und niemand würde je davon erfahren. Niemand außer uns hat ihn gesehen.«

»Bis auf die Wächter«, sagt Judah leise. Die Morde haben ihn tief erschüttert. Natürlich hat er gesehen, wie Leute auf dem Marktplatz hingerichtet oder von Raufbolden überfallen und erschlagen wurden; dies sind gewalttätige Zeiten und niemand mit Augen im Kopf kann vermeiden, frische Leichen zu sehen. Aber an diesem Verbrechen fühlt er sich beteiligt, und das ist neu und erschreckend.

»Maharal, wir können ihn wieder zu Lehm machen. Als hätte es ihn nie gegeben.«

Judah nimmt seine Kräfte zusammen, um sich aufzurichten. In wenigen Augenblicken wird er in sein eigenes warmes Bett sinken und Perl wird ihn umsorgen. Perl wird ihn erwarten, das weiß er. Sie wird ihn schelten, weil er sich so verausgabt, weil er die ganze Nacht draußen bleibt, weil er sich zu Tode hungert. Sie wird ihn mit warmer Suppe füttern, sie wird ihm einen warmen Ziegelstein ins Bett legen und ihn mit einem Federbett zudecken. Er wird nicht mehr frieren und er wird schlafen. »Was ich getan habe, ist richtig. Mir wurde eine Vision geschickt und gesagt, was ich zu tun habe. Er ist unser Beschützer. Er wird lernen. Und er ist gehorsam. Wir müssen nur Acht geben, was wir ihm auftragen – wir müssen genau sein, wir müssen sorgfältig darauf achten, was wir sagen. Denn was wir befehlen, wird er ausführen.«

Der Maharal ist unsicher, ob er wirklich froh ist, den Golem aus der dünner werdenden Dunkelheit schreiten zu sehen, oder ob er insgeheim hoffte, der Golem sei in die Nacht entschwunden und nur Jakov käme zurück.

»Joseph«, beginnt der Maharal, sobald sie drinnen in Sicherheit sind. »Töten ist falsch. Du wurdest geschaffen, um für uns den Frieden zu wahren.«

»Ich habe dich beschützt. So, wie ich es muss.« Der Golem steht da, plattfüßig, geduldig. Er schaut aus, als könne er den ganzen Tag so stehen und die Mauern anstarren, die Steine der engen, gewundenen Gasse. Die Häuser der Armen sind aus rohen Baumstämmen gebaut; die besseren Häuser aus behauenem Holz oder Stein. Alles fasziniert ihn: eine Katze, die über eine Mauer in Sicherheit schlüpft, ein paar Grashalme, die zwischen den Pflastersteinen hervorbrechen. »Warum bist du böse auf mich?«

»Du musst vorsichtiger sein, Joseph. Deine Kraft ist groß, aber dein Geist ist schwach.«

»Vielleicht kann er wachsen, Lehrer. Vielleicht kann mein Geist auch stark sein. Aber ich muss dich schützen.«

So beginnt der Dienst des Golems für die Juden von Prag, während der Maharal von bitterem Zweifel erfüllt ist. Was hat er ins Leben gerufen? Welche Gewalt hat er auf die Welt losgelassen? Er ist ein Mann des Friedens. Er will nur seine Herde behüten. Alle Gewalt in seinem Leben war die Gewalt der Worte. Die Gebete, die er in der Synagoge führt, sprechen unablässig vom Frieden – schalom, schalom –, obwohl der Frieden für die Juden selten anhält. Was sie an Frieden kennen, ist der Friede der wenigen ohne Macht oder Waffen, umgeben von den vielen mit beidem. Thaddeus predigt jede Woche gegen sie. Die mächtigen Handwerksgilden haben schon ein Opfer gefordert, Chaim den Silberschmied, dessen verstümmelten Körper – jeder Nagel ausgerissen, das Auge auf der zerfetzten Wange baumelnd, zahnlose Kiefer, zerschmetterte Füße – er unwillkürlich sieht, wenn er die Augen schließt. Niemand, der das Ghetto verlässt, entgeht Schmähungen, vereinzelten Überfällen in den Straßen der Stadt. Etwas gärt und brodelt, etwas, das von warmem, frischem Blut lebt wie eine Zecke.

Judah hat seine rabbinischen Nebenbuhler mit Worten bekämpft. Mit Worten zertrümmert er ihre Schlussfolgerungen, mit Worten drischt er auf ihre Werke aus Worten ein, ihre Bücher, ihre von Hand zu Hand gereichten Manuskripte, ihre Predigten und Vorträge. Mit Worten schuf er diesen Golem. Aber dieses Ungeheuer kämpft nicht mit Worten.

11Shira
Er, Sie und Es

Yods Augen waren seltsam, dachte sie, obwohl die Farbe keineswegs ausgefallen war, ein Braun, heller als ihre Augen, mit grünen Tupfen in der weiten Iris. Aber die Augen fixierten sie mit ungerührtem und durchdringend neugierigem Blick, rund, glänzend und hart wie die eines Falken. Wäre das Cyborg eine große Katze oder ein sehr großer Vogel gewesen, sie hätte sich vorstellen können, dass es sich fragte, ob dieses Ding, nämlich sie, wohl gut zu fressen sei. Während es auf Eingaben wartete, hatte es da Gedanken in irgendeinem Sinn, den ein Mensch verstehen konnte? Saß es nicht vielmehr leer und untätig da wie jede andere Maschine vor dem Startbefehl?

Yod hatte eine Präsenz, vielleicht hatte Malkah das gemeint, als sie es eine Person nannte. Gimel war einfach bloß, mit ebenso wenig Ausdruck wie ein Reinigungsroboter oder ein Getränkewagen. Yod hingegen stellte eine ganze Reihe von Forderungen, einfach, indem es sie mit diesen hungrigen Augen fixierte und wartete … worauf? Wissen, Beachtung, Kenntnisse, die es verschlingen konnte: Schließlich war sie dazu da, um dies zu vermitteln. Aber sie mochte nicht als übergroßes Kind an es denken, dem sie Gouvernante sein sollte.

Sie begann jedoch, wie sie es bei einem Kind getan hätte, mit einer Versuchsreihe. Für den Rest des Tages plante sie die üblichen Tests. Zur Mittagszeit war sie müde, Yod natürlich nicht. Sie hatte das Gefühl, es hätte am liebsten dagesessen und ein ganzes Jahr lang Tests gemacht. Fragen zu beantworten und Information aufzurufen war eine seiner Funktionen, und das konnte es ewig tun. Wie hatte Gadi Prüfungen gehasst! Avram hatte in gewissem Sinn den Schüler geschaffen, den er gewollt und in seinem Sohn nicht bekommen hatte: eine Lernmaschine. In manchen Bereichen intellektueller Entwicklung und Fähigkeit lagen Yods Leistungen weit über menschlichen Grenzen; in anderen war es durchaus innerhalb normalmenschlicher Parameter. Es war wie ein aufgewecktes Kind, vielleicht so ein Kind, wie Josh es gewesen war, frühreif in seinen naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnissen, doch ziemlich zurückgeblieben in seinem Verständnis für menschliche Beziehungen und innere Werte. Metaphorisches Denken schien es aus dem Konzept zu bringen. Es neigte dazu, Gespräche wörtlich zu verstehen.

An ihrem zweiten Tag miteinander begann sie da, wo sie aufgehört hatte: bei metaphorischem Denken, der Fähigkeit, Analogien herzustellen. Sie führte einen einfachen Test durch, der für sehr kleine Kinder vorgesehen war. Yods Resultat war null.

 

Sie probierte das Gedicht von Robert Burns aus:

Oh, mein Lieb ist wie die Rose rot,

Die frisch im Juni blüht.

Oh, mein Lieb ist wie die Melodie,

Die süß zum Herzen zieht.

Es war ein Reinfall. »War er ein Botaniker? Ein Musiker?«

»Yod, denk an eine Rose.«

»Eine Rose ist eine Blume, die mit einer Reihe von essbaren Früchten nahe verwandt ist. Ihre Hagebutten werden manchmal als Suppe oder Gelee gegessen, aber normalerweise wurden sie in der Vergangenheit von Vögeln geerntet. Rosen sind ein übliches Geschenk, um Zuneigung zu zeigen. Sie besitzen Farbe, Duft, Form –«

»Hast du je eine Rose gesehen?«

»Im Lexikonprogramm.«

»Ich meine eine richtige Rose.«

»Nein.« Es gelang Yod, mit seiner tiefen Stimme Bedauern nachzuahmen.

»Rosen wachsen auf der Südseite dieses Gebäudes, alte Rosenstöcke, rot und rosa. Hast du sie nie bemerkt?«

»Ich habe noch nie die Außenseite dieses Gebäudes gesehen.«

»Du bist noch nie aus dem Labor herausgekommen?«

»Ich bin in Avrams Wohnung gewesen, bevor Gadi zu Besuch kam. Fast jede Nacht gehe ich ins Kellergeschoss, wo Avram eine Sporthalle eingerichtet hat. Dort übe ich mit Gimel meine asiatischen Kampfsportarten. Er reicht aus, um mir die Herausforderung zu bieten, die ich von einem menschlichen Partner nicht bekommen könnte.«

»Aber du warst noch nie draußen?«

»Noch nie. Avram sagt immer, ich bin nicht bereit. Kannst du mich bereitmachen?«

»Ich glaube nicht, dass du je bereit sein wirst, wenn wir im Labor bleiben. Ich werde dich gleich jetzt mit hinausnehmen, in mein Haus.« Ihr kam der Gedanke, dass Avram wütend sein würde, aber sie musste auf ihre eigene Weise vorgehen. »Also, auf der Straße haben wir nur zwei Block weit zu gehen – du weißt, was ein Block ist?«

»Der Plan der Stadt befindet sich in meinem Gedächtnis.«

»Solange wir draußen sind, gehst du neben mir und hältst deinen Mund.«

Yod schloss fest den Mund, als müsse es einen großen Happen drinbehalten.

»Ich meine das nicht wörtlich. Ich meine, du sollst zu niemandem etwas sagen außer Hallo, wenn du direkt angesprochen wirst. Wenn ich dich vorstellen muss, heißt du … Yod Oblensky. Du bist ein Vetter von Avram. Ansonsten überlässt du das Reden mir. Hast du verstanden?«

Es grinste so breit, dass sein Gesicht aufzuplatzen schien. »Danke, Shira. Ich habe mich danach gesehnt hinauszugehen. Ich denke jeden Tag daran. Ich habe sogar erwogen, heimlich auf eigene Faust zu gehen, aber Avram schließt mich ein, und ich bin nicht geneigt, das Schloss aufzubrechen.«

»Könntest du das denn? Es ist ein Hochsicherheitsschloss.«

»Ich könnte es aufbrechen.«

Sie war erschreckt von Yods Geständnis, dass es daran gedacht hatte, sich Avram zu widersetzen. Sie hatte immer gemeint, ein Roboter könne sich nicht widersetzen. Letztlich hatte es das auch nicht getan, aber dass es eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehen konnte, erstaunte sie. Sie musste schnellstens herausfinden, ob seine angebliche Fähigkeit, neue Situationen zu meistern, tatsächlich vorhanden war, und ob es in einem Maße lernfähig war, das über das Sammeln und wieder Ausspeien von Fakten hinausging. Yod mit hinauszunehmen war ihr erster Schritt im Erkunden seiner wahren Möglichkeiten.

Wie sie erwartet hatte, waren zu dieser Vormittagszeit wenig Menschen auf der Straße. Das zweite Drittel eines normalen Arbeitstages war angebrochen, und sogar Leute, die in Schichten oder früh oder spät arbeiteten, waren alle an ihrem Arbeitsplatz. Die Kinder waren in Tagesstätten oder in der Schule. Nur ein Reinigungsroboter kam die Straße entlanggeklappert, hielt immer wieder an, um Abfall aufzuheben und zu fegen.

Als das Gerät in ihre Nähe kam, schoss es vor, um Unrat aufzuspießen. Sofort stürzte sich Yod darauf, packte es, schmetterte es gegen die Bordsteinkante. Der Bordstein zersplitterte unter dem Aufprall. »Yod! Das ist ein Straßenkehrer. Komm. Schnell. Ich möchte das nicht erklären müssen.«

Yod beugte sich über den zertrümmerten Apparat. »Es hätte eine Bombe sein können. Jetzt verstehe ich. Ein Reinigungsapparat?«

»Wie fühlst du dich, wenn du so einen Apparat siehst? Fühlst du eine Art Verwandtschaft?« Sie musste drauf und dran sein, ihren Verstand zu verlieren, eine Maschine zu fragen, wie sie sich fühlte.

Yod stand auf und ging zu ihr. Wenn es sich nicht im Sicherheitsmodus befand, bewegte es sich mit erstaunlicher Grazie. »Fühlst du eine Art Verwandtschaft, wenn du Tilapia isst?«

»Warum sollte ich?«

»Du bist biologisch mit diesem Fisch so nah verwandt wie ich mechanisch mit diesem Reinigungsroboter. Vielleicht sogar näher.«

Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Da hast du mir ja schön den Kopf zurechtgesetzt, was?«

»Zurechtgesetzt?« Behutsam griff es an ihre Schläfen. »Sitzt er denn nicht richtig?«

»Ich habe metaphorisch gesprochen. Du sollst gar nichts zurechtsetzen. Geh einfach weiter, bitte.«

Das Cyborg reckte den Hals und spähte umher, plötzlich schoss es herum, um die Straße hinter ihnen zu mustern. Unvermittelt sprang es in Angriffsstellung.

»Du wirst lernen müssen, Metapher und Vergleich anzuwenden, Yod, wenn du dich jemals halbwegs menschlich anhören sollst. Übrigens, das ist ein Hund. Das ist kein Kampfhund, der angreift. Das ist ein Spaniel und er tut mir nichts.«

»Dieses Gleichsetzen von ungleichen Dingen auf eine Weise, die andeutet, dass eine gewisse Gleichartigkeit wichtig ist, verwirrt mich.« Widerwillig wandte sich Yod von dem schwanzwedelnden Hund ab. »Wie willst du wissen, ob dir solch ein Tier nichts tut?«

»Hier drin.« Die Tür öffnete sich auf ihre Berührung. »Kampfhunde greifen an. Vielleicht knurren sie vorher oder sie greifen sofort an. Die meisten Hunde aber wedeln mit dem Schwanz und warten ab, um deine Absichten zu erkennen. Wir verständigen uns mit ihnen von Säugetier zu Säugetier, aber offen gestanden, ich weiß nicht, wie du für einen Hund riechst.«

»Willkommen, Shira«, sagte das Haus. »Was ist das für ein Apparat bei dir?«

»Das ist ein Cyborg namens Yod. Du sollst es wie eine Person behandeln. Beschütze es.«

Das Haus antwortete nicht sofort. Dies war einer der Augenblicke, in denen sie das Gefühl hatte, als sei die Persönlichkeit des Hauses, unverändert seit Shiras frühesten Erinnerungen, keine künstliche, sondern eine natürliche. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass das Haus ihren Auftrag missbilligte. Schließlich sagte das Haus: »Auftrag vermerkt, Shira.«

»Ich danke dir«, sagte Yod. »Das war sehr freundlich von dir. Darf ich jetzt reden?«

»Haus, lass niemand herein außer Malkah. Ja, du darfst reden.«

»Der Himmel ist nicht blau. Aufgrund der Information, die mir in meinem Lexikon gegeben wurde, hatte ich erwartet –«

»Du siehst also Farben.«

»Ich nahm an, du hast Avrams Konstruktionspläne durchgesehen.«

»Yod, das Material darüber ist so umfangreich wie eine komplette Enzyklopädie. Ich habe das Wichtigste quer gelesen.«

»Ich könnte alles in wenigen Stunden durchlesen. Ja, ich sehe Farben so wie du, obwohl ich meine Sicht ändern kann, um, wenn notwendig, auf Infrarot oder Ultraviolett umzustellen – zum Beispiel in einer Überwachungssituation.«

»Der Himmel ist nicht blau wegen des Treibhauseffekts. Wir hoffen, dass der Himmel eines Tages wieder blau sein wird … Warst du enttäuscht?«, fragte sie als Experiment. Sie wollte sehen, ob das Cyborg das Prinzip verstand.

»Er war nicht so, wie ich es erwartete.« Yod machte eine Pause und runzelte die Stirn. Es war mit einer komplexen Programmierung ausgestattet, um Entsprechungen menschlicher Gesichtsausdrücke nachbilden zu können, und zuweilen fand sie sein künstliches Einfühlungsvermögen irritierend. »Ich nehme an, es ist korrekt zu sagen, dass ich enttäuscht bin, wenn Enttäuschung beinhaltet, dass etwas nicht meinen Erwartungen entsprach.«