Er, Sie und Es

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8Shira
Wie soll ich dich anreden?

Als Shira in Avrams altes Labor im ersten Stock eines ehemaligen Hotels eingelassen wurde, wollte sie wissen: Ist Gadi noch da? Sie wünschte, sie könnte einfach hineingehen und Avram ohne Umschweife fragen, denn sie würde sich wesentlich befreiter konzentrieren können, war das erst einmal abgehakt. Das Gebäude beunruhigte sie. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ihre Hände ballten sich zu feuchten Fäusten. Sie fühlte sich, als sei sie wieder siebzehn, unwissend, bange, ein Geschöpf ganz aus stürmischen Gefühlen und Schmerz.

Ein Standard-Dienstroboter, mit aufrechtem Gang, aber mit Gesichtsplatte und vier Metallhänden, ließ sie ein. »Ich bin Gimel. Folge mir bitte.« Die Stimme war so ausdruckslos wie ein Fahrstuhl oder ein Speiseautomat. Gimel war das dümmliche Cyborg, den Avram in ihrem letzten Jahr daheim gebaut hatte. Sein Gesicht und seine Hände waren nicht mehr mit künstlicher Haut verkleidet. Vielleicht hatte Avram es aufgegeben, verbotene Cyborgs zu bauen, die Menschen ähnelten. Sie musste im äußeren Labor warten, während Gimel im verschlossenen inneren Labor rückfragte.

Gimel führte sie durch eine Reihe von Sicherheitsschleusen. Als sich die Tür schließlich öffnete, stand ein dunkelhaariger Mann auf der anderen Seite, von mittlerer Größe und kräftigem, gedrungenem Körperbau – offenbar eine Sicherheitswache, denn er stand unmittelbar bei der Tür in geduckter Verteidigungshaltung, die Hände schlagbereit. Sie war genug übersensibilisierten, reizbaren Sicherheitsaffen begegnet, um sofort stehen zu bleiben, unwillkürlich hielt sie den Atem an, hielt die Hände vollkommen still und sichtbar. Zuletzt hatte sie einem Affen gegenübergestanden, als sie sich über Aris Verbringung auf die Pazifika-Plattform beschweren ging. Dr. Yatsuko, der korpulente Leiter der Abteilung für Künstliche Intelligenz, hatte sie persönlich empfangen, zum allerersten Mal, seit sie dort arbeitete. Es war fast ein Skandal, vor ihn gebracht zu werden, aber sie war viel zu sehr außer sich vor Kummer und Sorge. Zwei Affen hatten ihm während ihres vierminütigen Wortwechsels zur Seite gestanden, als könnte ihre empörte Mutterliebe sie dazu verleiten, mit Zähnen und Nägeln über ihn herzufallen.

»Yod! Es besteht keine Notwendigkeit, mich zu verteidigen.« Avram kam auf sie zu und rieb sich munter die Hände. Sein Haar war vollkommen weiß und seine Augen blitzten so hart und hell wie in ihrer Erinnerung. »Willkommen, Shira.«

Der Wachmann zog sich an die Wand zurück. Seine Augen blieben auf die Tür gerichtet, bis sie zuging und die Schlösser automatisch einrasteten. Sie drückte sich, immer noch etwas ängstlich, an ihm vorbei. Sie hoffte, Avram würde den Wachmann wegschicken, damit sie ohne seine rastlose Anwesenheit reden konnten. Niemals hatte es in der Zeit, als sie dort aufwuchs, professionelle Affen in Tikva gegeben. Die meisten Bewohner übernahmen Wachpflichten, und der Sicherheitsbeauftragte wurde in einer Stadtversammlung gewählt. Sie war enttäuscht, dass professionelle Sicherheit hier Einzug gehalten hatte.

Avram nahm ihren Ellbogen und lenkte sie zu seinem Arbeitstisch. »Yakamura-Stichens Verlust ist mein Gewinn. Ich brauche deinen Sachverstand, Shira. Ich biete dir Vergleichbares zu dem, was du dort gemacht hast – das habe ich dir schon gesagt.«

»Aber was kann ich tun … Dr. Stein?« Sie dachte an ihn als Avram, aber wenn sie für ihn arbeitete, konnte sie ihn nicht so anreden.

»Ich habe deine Arbeiten gelesen über das Felddichte-Schocksyndrom in der Projektion und über das Schwinden des Zeitgefühls bei ausgebrannten Benutzern. Zu dem, was du hier tun kannst – du hast ja mein Projekt bereits kennengelernt. Yod: Tritt vor!«

Der Wachmann betrachtete sie unverhohlen. Die Neugier stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass sie sich fragte, ob er ein wenig einfältig war. Sein Blick war offen, eindringlich, fragend. Die Regenbogenhaut seiner Augen war dunkelbraun mit grünen Tupfen und hob sich von dem ungewöhnlich porzellanartigen Weiß ab. Sein Haar war fast so dunkel wie ihr eigenes; sein Teint oliv. Er wirkte keineswegs ungewöhnlich unter den verschiedenen Erscheinungstypen in der kleinen Stadt. Er schien mediterraner Abstammung.

Avram stand seitlich zwischen ihnen. »Shira, das ist Yod.«

»Yod? Ein seltsamer Name …«, begann sie, dann brach sie ab, weil sie begriff. Yod war der zehnte Buchstabe des hebräischen Alphabets. Alef, Bet, Gimel … Yod. »Es ist ein Cyborg?«

»Der Cyborg«, verbesserte Avram voll Genugtuung. Er gab Yod einen Klaps auf den Rücken. »Darauf habe ich hingearbeitet. Endlich. Und gerade noch rechtzeitig, wie du bald erfahren wirst. Unsere Situation hier verschlechtert sich radikal. Unsere Basis wird von Informationspiraten angegriffen.«

Sie ging näher, beugte sich vor, um seine Wange zu berühren. Die künstliche Haut fühlte sich warm an, der Oberfläche menschlicher Haut sehr ähnlich, wenn auch trockener. Sie spürte, wie das Cyborg sich unter ihren Fingern spannte, was sie überraschte. Es gab ihr ein Gefühl, als benähme sie sich ungehörig, aber das war absurd. Man fragte einen Computer nicht um Erlaubnis, wenn man ein Programm aufrief. Computer zuckten nicht zusammen, wenn man sie anfasste. »Verkaufst du es an Olivacon?«

Als Reaktion wandte sich Yod zu Avram und schaute ihn entsetzt an. Avram hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet beim Einbau einer Entsprechung feinster Muskulatur in den Gesichtsbereich der Maschine, damit ein Scheinbild menschlicher Reaktionen geboten werden konnte. Sie war neugierig auf die Programmierung, die das Cyborg wählen ließ, welche Reaktion es in halbwegs angemessener Weise zu produzieren hatte. Malkah hatte mit Avram gearbeitet; war dies das Projekt gewesen? Offensichtlich hatte Avram die hochkomplizierte Technologie menschlicher Implantate, Ersatzorgane und -glieder beim Bau des Cyborgs angewandt, aber er hatte alles ihr Bekannte weit übertroffen. Natürlich, angesichts der Geheimniskrämerei der Konzerne konnten Forscher nie wissen, was sich wirklich auf ihrem Gebiet im Verborgenen bei einem anderen Multi tat. Industriespionage war ein höchst lohnendes Geschäft.

Avram nahm sie fest beim Arm. »Yod ist ein Geheimprojekt von mir selbst. Was soll Olivacon mit ihm? Die haben ihre Sicherheit, schießwütige Affen, die mit Steroiden und Adrenophin großgezogen wurden. Yod wird unsere Sicherheit sein, unser Beschützer. Wenn wir schon keine Waffen haben können, so haben wir jetzt eine Ein-Mann-Armee.«

»Aber Roboter sind darauf programmiert, sich selber zu zerstören, bevor sie jemanden verletzen. Wie kann ein Roboter kämpfen?«

»Yod ist ein Cyborg, kein Roboter – eine Mischung aus biologischen und maschinellen Bestandteilen. Er ist darauf programmiert, uns zu beschützen – unsere Stadt, ihre Einwohner, unsere Basis. Das ist seine Hauptaufgabe. Aber um sie auszuführen, kann er nicht so naiv und ungeschickt bleiben, wie er jetzt ist. Da bist du gefordert.«

»Avram, meine ganze Arbeit bisher drehte sich um Megahirne in öffentlichem oder Konzernbesitz. Ich habe im Grunde keinen Sachverstand zu bieten, wenn ich mit geringerer als menschlicher –«

»Meine Speicherkapazität liegt im Bereich der künstlichen Gehirne, mit denen du gearbeitet hast, und ich kommuniziere mit solchen Computern wesentlich besser, als ein Mensch es je könnte«, sagte Yod und verschränkte die Arme. »Ich habe ebenfalls deine Arbeiten gelesen, die im Netz zur Verfügung stehen.« Es hatte eine angenehme, nicht allzu tiefe Stimme, die sie im Zweifelsfall nicht von einer menschlichen hätte unterscheiden können. »Soll ich meine Fähigkeit zur Computerkommunikation jetzt demonstrieren?«

»Später. Yod hat umfangreiche kybernetische, mathematische und systemanalytische, wahrscheinlichkeitstheoretische sowie auf den neuesten Stand gebrachte naturwissenschaftliche Kenntnisse von enzyklopädischen Ausmaßen. Er ist ferner programmiert mit Weltgeschichte, vierzig Sprachen, der Tora, dem Talmud, dem halachischen Recht – wir können ja schließlich keinen Sicherheitsexperten haben, der bei den Leuten Anstoß erregt. Aber du wirst dich zweifelsohne in den nächsten Wochen durch seine Programmierung hindurchfinden.«

Shira war erstaunt, aber skeptisch. Yod war ein ungeheurer Durchbruch, aber Avram schrieb seinem Cyborg Dinge zu, die ihr unglaubwürdig vorkamen. »Du nennst das Cyborg ›er‹, wie mir auffällt. Ist das nicht Vermenschlichung? Mir wäre es lieb, wenn wir uns darauf einigen könnten, objektiv vorzugehen und nicht in Form von Wunschdenken.«

Yod sprach wieder. »Wie soll ich dich anreden?«

»Ich habe dir gesagt, sie heißt Shira«, sagte Avram. »Es ist dir gar nicht möglich, etwas zu vergessen.«

»Mir sind verschiedene Anredeformen aufgefallen. Sie hat dich erst mit Dr. Stein und dann mit Avram angeredet. Dadurch stellt sich die Frage, wie sie von mir angeredet werden möchte. Ich denke, wir sollten ihr erklären, dass es korrekt ist, von mir als einem ›er‹ zu sprechen. Ich bin kein Roboter, wie es Gimel jetzt ist. Ich bin eine Verschmelzung von Maschine und laborerzeugten biologischen Bestandteilen – ähnlich wie Menschen häufig Verschmelzungen aus Fleisch und Maschine sind. Einer von uns sollte auch erklären, dass ich anatomisch männlichen Geschlechts bin, so wie du mich geschaffen hast.« Das Cyborg schien Avram fast ein wenig pikiert anzureden. Es hatte sich von ihr abgewandt. Ihr würde es wohl ebenso schwerfallen wie offensichtlich Avram, stets zu bedenken, dass menschliche Gestalt noch kein menschliches Geschöpf ausmachte.

»Tatsächlich? Warum hast du das getan?«, fragte sie Avram. Ja, was hieß es eigentlich, davon zu sprechen, dass ein Maschinenwesen überhaupt ein Geschlecht hatte? Gewiss urinierte es nicht durch seinen Penis, und womit wollte es denn Geschlechtsverkehr haben, vorausgesetzt, eine Maschine konnte wollen, was sie ihr nicht zubilligen mochte. Maschinenverhalten richtete sich nach fallweise variierenden Zuständigkeiten und Prioritäten. Sie hatten über- und untergeordnete Aufgabenstellungen und versuchten sie auszuführen. Aber ›wollen‹ war ein Wort, das auf Biologie beruhte, auf dem Bedürfnis nach Essen, Wasser, Schlaf, dem Vermehrungstrieb, dem Verlangen nach sexueller Befriedigung.

 

Avram sah leicht verlegen aus. Er schaute weder zu Yod noch zu ihr, sondern zur Decke und hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Ich war der Überzeugung, je mehr er einem menschlichen Wesen gleicht, desto geringer ist die Gefahr seiner Entdeckung. Es wird für ihn notwendig sein, sich unter Menschen zu begeben, und er muss ihnen so gleich erscheinen wie möglich. Ich musste häufig die Leistungsfähigkeit einer überzeugenden Fassade und überzeugendem Benehmen opfern. Ich konnte keinen Grund erkennen, ihn … verstümmelt zu erschaffen.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Yod. Die Stimme klang beleidigt.

»Wenn wir zusammen arbeiten werden, kannst du mich ebenso gut Shira nennen. So nennt mich mein Haus.«

»Shira. Das heißt Lied.«

»Du kannst Hebräisch?«

»Natürlich.« Es sagte das genau so, wie Avram es getan hätte. Sein Tonfall.

»Das ist genau der Punkt«, sagte Avram und trat zwischen sie, »wo ich deine Hilfe brauche. Ihm muss beigebracht werden, wie er mit Menschen reden soll, wie er sich in Gegenwart anderer verhalten soll, wie er mit seinen Funktionen umgehen soll. Er muss bestehen können, verstehst du? Ich bin schon furchtbar im Rückstand mit meiner Vertragsarbeit für Cybernaut. Ich kann mit ihm höchstens zwei oder drei Stunden am Tag arbeiten. Er schläft nicht, und er muss die ganze Zeit über beschäftigt sein, lernen. Als Gadi hier war, konnte ich ihn überhaupt nicht runterbringen –«

»Also ist er abgereist.« Shira hatte das Gefühl, der Raum wurde plötzlich weiter. Vielleicht war die Arbeit ganz interessant, zumindest als Übergangsbeschäftigung, während sie verhandelte, wahrscheinlich zuerst mit Olivacon und Cybernaut. Sie würde sich einen Monat der Entspannung gönnen und dann auf Stellensuche gehen.

»Vor zwei Tagen.« Avram konnte ein erleichtertes Lächeln nicht unterdrücken. »Jetzt sollte ich in der Lage sein, meine Vertragsarbeit nachzuholen, und trotzdem noch ein bisschen Zeit haben, um mit Yod zu arbeiten.«

»Gadi weiß also nichts von dem Cyborg?«

»Natürlich nicht. Wozu sollte er auch?«

»Wer weiß es denn?«

»Malkah. Ich brauchte ihre Hilfe beim Programmieren. Sie hat die seltene Gabe der Diskretion, weißt du«, sagte er, als verriete er Shira ein großes Geheimnis über ihre Großmutter. »Malkah redet zu viel, aber sie redet nicht über das, was sie für sich behalten möchte. Das ist ungewöhnlich für eine Frau.«

»Ich würde denken, das ist ungewöhnlich für einen Mann. Aber was ist aus David geworden? Deinem Assistenten. Er weiß Bescheid.«

»David hatte einen Unfall. Er weilt nicht mehr unter uns.«

Während sie redeten, schaute Yod vom einen zum andern, der Kopf ging hin und her wie bei den Zuschauern eines Tennisspiels. Im Ruhezustand drückte seine Miene nervöse, gespannte Neugier aus. Yods Gesichtszüge waren wohlgestaltet und fein modelliert. Es ähnelte nicht dem, was sie von Gimel erinnerte, als das noch ein Gesicht gehabt hatte, also musste Avram wohl irgendwann eine neue Matrix entwickelt haben. Es war mit weiten, hässlichen Kleidungsstücken angezogen, in grellen Farben, Orange und Gelbgrün und matt glänzend, von der Art, wie sie unathletische Männer trugen, die sportlich wirken oder kundtun wollten, dass sie im Urlaub waren. Immer wenn Yod sich bewegte, machten seine Hosen leise, raschelnde Geräusche wie ein Mäusenest. Vielleicht war das Allererste, ihm neue Sachen auszusuchen und ihm beizubringen, wie man sich kleidete. Sie hatte das für Josh tun müssen. Ein Cyborg konnte kaum weniger Sinn für Kleidung haben als ihr Exmann. Hätte sie Josh doch auch umprogrammieren können!

»Was ist aus den Modellen zwischen Gimel und diesem hier geworden?« Sie nahm an, er hatte bei Alef angefangen und sich durch das hebräische Alphabet gearbeitet. Yod fuhr auf ein Geräusch von außen hoch, sprang über den Tisch zur Wand, presste sich dagegen und lauschte. Kam langsam zurück, lauschte dabei weiter. Diese Schreckhaftigkeit würde schwer zu ertragen sein. Sie fragte sich, ob Avram es überhaupt abschalten und seine Energiequelle herunterregeln konnte. Ein hyperaktives Cyborg. Es erinnerte sie an einen jungen Wachhund, einen unreifen Dobermann, außer dass es sich mit erstaunlicher Grazie bewegte. Es bewegte sich nicht wie der andere Roboter, Gimel, langsam und offensichtlich nach einem algorithmischen Programm für die Bedienung jedes Fingers. Es bewegte sich wie eine große Katze, schneller als menschliche Reaktion, aber geschmeidig. Diese Geschwindigkeit und diese Grazie waren unbehaglich bei etwas Mechanischem, aus welchen Bestandteilen es auch immer gebaut war.

»Die hatten alle Funktionsstörungen«, sagte Avram. »Einige waren unkontrollierbar gewalttätig. Deshalb habe ich schließlich Malkah bei der Software hinzugezogen. Es war aberwitzig teuer, bis mir Yod gelang. Bisher macht er sich gut.«

Yod sagte leiser, als es zuvor gesprochen hatte: »Ich bin der Erste, der die Aufträge meines Vaters ausführen kann.«

»Deines Vaters?«

Avram zuckte die Achseln und sah verlegen drein. »Seit Yod mit dem Studium menschlicher Gesellschaftsorganisation begonnen hat, bezeichnet er mich manchmal so. Schließlich habe ich ihn gemacht, und bei ihm habe ich mich besser angestellt als bei Gadi, das muss ich sagen. Zu schade, dass Gadi nicht ein Viertel von Yods Fähigkeit hat, sich zu konzentrieren und zu lernen.«

»Jedenfalls bin ich nicht deine Mutter«, sagte Shira unverblümt. »Ich habe einen Sohn.«

»Avram ebenfalls«, sagte Yod. »Außer mir. Aber es ist mir verboten, Gadi kennenzulernen. Werde ich deinen Sohn kennenlernen?« Es überwachte ständig den Raum, es verhielt sich, als rechnete es damit, dass ein Stuhl sie ansprang und attackierte.

»Es wäre schön, wenn das möglich wäre«, sagte sie. »Er ist mir weggenommen worden.«

»Malkah hat mir davon erzählt«, sagte Avram. »Eine Schande. Aber immerhin hat dich das hergebracht, nicht wahr?«

»Es hat mich hergebracht, ja.« In einer Anwandlung heftiger Verzweiflung wandte sie sich von beiden ab. Als sie heranwuchs, war ihr Avram nie wie ein richtiger Vater vorgekommen, so wie die Väter ihrer Freundinnen, er war vielmehr genial, fremd, gepanzert. Sie selbst hatte nie einen Vater gehabt. Deshalb hatte sie beschlossen, dass ihr Kind beide Eltern haben sollte, auf altmodische Art. So viel zu diesem Hirngespinst. Jetzt betrachteten alle beide sie mit gleicher, hellwacher Neugier, kalt, eindringlich, aber distanziert: der Blick eines Jagdfalken. Dennoch, wenn dieses Yod nur ein Zehntel so intelligent war, wie Avram voreilig behauptete, versprach ihre Arbeit für eine Weile interessant zu sein. Das würde ihr die Zeit vertreiben, sie beschäftigen. Wenn sie sich ein wenig hineingefuchst hatte, konnte sie sich nach richtiger Arbeit umsehen, bei einem neuen Multi. Sie musste immerhin zwei Jahre überstehen; zwei Jahre, um sich wieder in Stellung zu bringen für den Kampf um Ari, sobald er zur Erde zurückkehrte.

9Shira
Das Familienalbum wird umgeschrieben

Shira war angenehm überrascht, dass Malkah sie nahezu ohne jeden Vorwurf willkommen hieß. Sie hatte vergessen, wie viele Freundinnen Malkah hatte, andere Frauen, die mit kleinen Geschenken vorbeikamen, mit Geschichten, mit Problemen, mit Klatsch. Sie hatte sich ihre Großmutter als alleinlebend vorgestellt, aber sie war selten allein, außer sie wünschte es – und sie schätzte das Alleinsein. Malkah beteiligte sich auch an unterschiedlichsten Diskussionsforen und Spielen im Netz. Shira sah Malkah oft im gefilterten Sonnenlicht des Hofes sitzen oder unter dem Pfirsichbaum in ihrem Lieblingssessel, mit geschlossenen oder halb geschlossenen Augen, und sie dachte dann, dass die alte Frau döste, bis sie merkte, dass Malkah ins Netz eingestöpselt war und umherstreifte oder in der Basis arbeitete und die ausgetüftelten Schimären konstruierte, die einer der Exportartikel von Tikva waren, gekauft von Multi- und Stadtbasen als Schutz.

»Ich flirte mit allen möglichen Leuten«, sagte Malkah. »Keiner kann mich sehen, es sei denn, ich will es.«

»Du verrätst ihnen also nicht dein Alter?«

»Einem sage ich dies, anderen das. Die meisten fragen nicht. Das ist ein Kongress der Köpfe, nicht der Körper.«

»Also hast du geistige Liebhaber?«

»Liebhaberinnen auch. Hast du nie dein Geschlecht gewechselt, Shira, nicht mal für einen Abend? Ich habe eine Freundin in Foxdale, der ich den Hof mache und die mich für einen Mann von zweiundvierzig hält. Sie würde mich umbringen, wenn sie mir begegnete, von Feindin zu Feindin, aber in den Freiräumen des Netzes spielen wir miteinander.«

»Mit Ari habe ich ununterbrochen gespielt. Ich war wieder Kind.« Shira legte die Arme vor ihre Brüste. »Eine Mutter ohne ihr Kind ist ein Karren, der versucht, auf drei Rädern zu rollen«, sagte sie zu Malkah, die in ihrem tiefen Lieblingssessel saß und Shira mit zufriedenem Gesichtsausdruck betrachtete.

»Ein Dreiradkarren ist ein Schubkarren und er funktioniert einwandfrei. Du wirst deinen Sohn zurückbekommen. Am Ende werden wir sie schlagen. In der Zwischenzeit hast du die kostbare Familienfruchtbarkeit. Krieg noch eins.«

»Ich will nicht noch eins.« Sie hatte gestern Abend erneut versucht, ihn übers Netz zu erreichen, aber wieder einmal war der Ruf nicht angenommen worden. »Ich will Ari.«

»Hast du je erwogen, mit deinem Dybbuk ein Kind zu haben?« Shira wusste sofort, dass Malkah Gadi meinte. »Ach, ist Gadi tot, dass sein Geist in mich fährt?«

»Er ist tot auf die gleiche Art wie du, meine Shira. Er kann sich auf keine Frau einlassen, und du kannst keinen anderen Mann wirklich lieben.«

Shira zuckte zusammen. Bittere Widerworte füllten ihren Mund, dann schluckte sie sie hinunter. »Vielleicht ist das schlimmste Schicksal für eine Frau, den Mann, den sie will, zu früh zu kriegen. Wir konnten nicht zusammenbleiben – wir waren Kinder. Aber ich kann niemand anders gehören, nicht so, wie ich mit ihm zusammen war.«

»Ich wollte nie jemandem gehören. Ich wollte sie mir nur eine Weile ausleihen, für das Vergnügen, die Zärtlichkeit, ein bisschen Lachen.«

»Wie viele Liebhaber hattest du?«

Malkah blickte versonnen. Sie schwieg einen Augenblick. »Ich weiß nicht. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gezählt. Ich erinnere mich, als ich wesentlich jünger war, bin ich in schlaflosen Nächten davon eingenickt, dass ich sie gezählt habe. Und ich bin nie bis zu Ende durchgekommen, weil ich immer überlegt habe, ob der eine, an den ich mich kaum erinnern konnte, nun wirklich mein Liebhaber war oder nicht. Ich bestand darauf, chronologisch vorzugehen, also musste ich, wenn ich merkte, ich hatte einen ausgelassen, ganz von vorn anfangen. Es hat immer funktioniert und mich zum Einschlafen gebracht.«

Sie betrachtete erstaunt ihre Großmutter, versuchte, in der untersetzten Frau mit den Zöpfen um den Kopf, aus denen am Nacken und über den Ohren ein paar Haare ausbrachen, eine Femme fatale zu erkennen, die ihre Liebhaber nicht zählen konnte. »Malkah, ich hatte nur fünf. Insgesamt.«

Malkah lachte, dann hielt sie sich verlegen die Hand vor den Mund. »Ich muss sagen, ich hatte fünf, bevor ich zwanzig war. Ich war immer neugierig auf den Geschmack eines neuen Mannes, wie er sein würde. Ich wollte in ihn hineinbeißen.«

Sie war überrascht und ein wenig schockiert, dass ihre Großmutter so offen mit ihr redete. Vielleicht sah Malkah jetzt, da sie verheiratet gewesen war und ein Kind bekommen hatte, in ihr eher eine Gleichrangige. »Also wie viele gab es?«, drängte sie. »Zwanzig? Dreißig? Zweihundert?«

»Um die fünfzig, würde ich schätzen. Ich müsste sie mal zusammenzählen. Ich leide immer noch an Schlaflosigkeit, aber jetzt erzähle ich mir Geschichten, statt Männer zu zählen.«

»Aber so viele … Warst du hinter ihnen her? Bist du auf sie zugegangen und hast ihnen einen Antrag gemacht?«

Malkah lachte. »Ich war nie eine Schönheit. Du bist viel hübscher, als ich je war. Aber ich hatte einen guten Körper und riskierte gern ein Auge. Sie kamen immer auf mich zu, wenn ich das wollte … Avram war ein ganz schöner Rumtreiber, bevor er sich in Sara verliebt hat, weißt du. Bevor er mit ihr nach Kalifornien ging.«

 

»Avram? Das glaube ich nicht.« Nein, sie konnte es nicht glauben. Kalt, getrieben.

»Er war einfach von blendender Schönheit als junger Mann. Ich muss sagen, wenn ich Gadi anschaue, dann sehe ich Avram, wie er einmal war.«

»Du hattest nie was mit Avram, sag mir, dass du nichts hattest.«

»Ich kann dir sagen, dass ich nichts mit ihm hatte. Hatte ich aber. Einen Sommer lang trafen wir uns immer im Weinberg und breiteten zwischen den Rebstöcken versteckt eine Decke aus. Als er Sara begegnete, verliebte er sich heftig in sie. Ich glaube nicht, dass er je eine andere Frau angeschaut hat.«

Er hat mich angeschaut, dachte Shira mit etwas Widerwillen. Er schaut immer meinen Körper an.

»Als die Dinge aufgrund ihrer Krankheit zwischen ihnen verdorrten, starb, glaube ich, der Sex in ihm. Einige Menschen haben weiter Verlangen danach, solange sie leben, aber andere Menschen, sie lassen ihn los, als wäre es ein Kleidungsstück, das verschlissen ist. Ich finde, das sind Narren.« Malkah nickte zum Nachdruck heftig. »Ich bin voller Freude, dass du bei mir zu Hause bist, Shira. Das verleitet mich dazu, Unsinn zu schwatzen.«

»Es wird jetzt anders zwischen uns sein, nicht wahr?«

»Warum soll alles immer gleich bleiben?« Malkah zog ihren Sessel näher und beugte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu Shira. »Also, was hältst du von Yod?«

»Avram stellt astronomische Behauptungen auf über seine Intelligenz und Leistungsfähigkeit.«

»Yod ist erstaunlich. Aber naiv. Oi, ist der naiv! Deine Aufgabe ist, ihm beizubringen, wie er mit Menschen umgehen soll. Bei seiner Kraft und seinem Verstand kann er, ohne es zu wollen, eine Menge Schaden anrichten, wenn er nicht richtig erzogen wird. Ich bin verantwortlich für seine interpersonelle Programmierung, aber er hat keine Gelegenheit gehabt, diese Fähigkeiten auszuprobieren.«

»Ein Gerät zu erziehen ist kein Konzept, das mir sonderlich einleuchtet. Er – jetzt hast du mich so weit. Es ›er‹ zu nennen.«

»Er ist eine Persönlichkeit, Shira. Keine menschliche Persönlichkeit, aber eine Persönlichkeit.«

»Nachdem du ein Leben lang mit künstlicher Intelligenz gearbeitet hast, wie kannst du da ein Cyborg vermenschlichen? Du könntest genauso gut glauben, das Haus sei wirklich eine Frau, wie es kleine Kinder tun. Oder deinem Reinigungsroboter einen Namen geben und mit ihm reden. Für einen kleinen Jungen wie Ari ist es angemessen, seinen Koalaroboter für ein lebendiges Kuscheltier zu halten und eine emotionale Bindung dazu zu entwickeln, aber wir sollten Erwachsene sein.«

»Die großen Wale – wir hatten sie gerade so ziemlich alle ausgerottet, da begannen wir, ihre epische und lyrische Dichtung zu übersetzen. Waren sie Personen? Waren die Affen, die lernten, sich in der Zeichensprache mitzuteilen, intelligente Wesen? War Hermes eine Realpräsenz?«

»Er hatte eine Persönlichkeit, gewiss. Sogar eine starke. Es ging mir so schlecht, als du mir von seinem Tod geschrieben hast.«

»Er war ein alter Kater, Shira. Er ist zwanzig Jahre alt geworden. Zuletzt hatte er einen Gehirntumor und er war zu schwach, um noch einmal operiert werden zu können.«

»Malkah, du hast dein ganzes Leben lang mit Computern gearbeitet. Ein gutes heuristisches Programm kann eine künstliche Intelligenz befähigen, stichhaltige Pläne zu machen und Strategien und Taktiken zu entwickeln, aber um Zielsetzungen oder Verhaltensweisen abzuwandeln, musst du die Programmierung ändern.«

»Beim Netz und den Basen-KIs sind Art der Programmierung und Umfang der zugelassenen Unabhängigkeit eng begrenzt. Avram ist darüber hinausgegangen, und ebenso, mein Liebes, bin ich es. Ich betrachte Yod als Person. Ich genieße seine Gesellschaft.« Malkah warf ihr ein so spitzbübisches Grinsen zu, dass Shira sicher war, ihre Großmutter führte sie an der Nase herum. »Jetzt, wo ich keine verantwortliche Erwachsene mehr bin, die ein Kind erziehen muss, kann ich unbekümmert und leichtsinnig sein. In seiner Programmierung sind einige abenteuerliche Joker. Von einigen weiß nicht mal Avram, dass sie da sind.«

»Malkah, du versuchst mich mit einem Trick dazu zu kriegen, dass ich diese Arbeit übernehme. Warum? Warum sozialisierst du es nicht selber?« Shiras Stirn runzelte sich vor Argwohn.

»Ich habe Yod gegeben, was ich ihm zu geben hatte. Überdies habe ich dir alles gegeben, was ich zu geben hatte, Shira.« Malkah seufzte. Sie legte ihre Hände auf die Knie und setzte eine fast grimmige Miene auf. »Jetzt, wo du erwachsen bist und ein paar Schläge einstecken musstest, kann es sein, dass deine Mutter dir etwas zu geben hat.«

»Meine Mutter? Riva?« Shira war überrascht und ein wenig aufgebracht. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich zum Studium fortging. Wir reden nicht mal über das Netz miteinander.«

»Es kann sein, dass sie herkommt. Es ist noch nicht ganz klar, aber möglich.«

»Ist sie nicht bei Alhadarek? Warum sollten die sie denn hierherschicken?«

»Sie ist nicht bei denen.« Malkah sprach ärgerlich ausweichend.

»Kommt sie, weil sie erwartet, Ari zu kriegen? Oder weil sie mir seinetwegen Vorwürfe machen will?«

»Nein, nein! Ich könnte mir denken, dass du sie eine interessante Frau findest, Shira. Aber wir wollen sehen, was geschieht. Sprich zu niemandem darüber.«

»Warum nicht? Was soll die Geheimniskrämerei? Angst, dass ein anderer Multi sie kidnappt?«

»Oh, sie ist ungeheuer gesucht. Aber nicht, um sie anzuheuern.«

»Du hörst dich an, als gäbe es einen Preis auf ihren Kopf.«

Malkah nickte. »Riva ist eine Informationspiratin, Shira. Sie spürt verborgenes Wissen auf und befreit es.«

»Riva?« Shira hatte wenig Erinnerungen an ihre Mutter. Als sie klein war, war ihre Mutter oft gekommen. Dann, als Alhadarek sie kaufte, war sie nach Kapstadt versetzt worden, und sie sahen sich nur einmal im Jahr, an Shiras oder Malkahs Geburtstag. Bei Shiras Hochzeit hatte ihre Mutter sich entschuldigt. Sie hatte Riva seit zehn Jahren nicht gesehen. Riva war einige Zentimeter größer als sie beide, aber grundsätzlich erinnerte Shira sie als hektische, verhuschte Frau, die immer mit vielen Geschenken kam, alle nicht eingewickelt und im Gepäck versteckt. Dass solch eine Frau Informationspiratin sein sollte, war nicht zu glauben. Industriespionage war bis zu einem gewissen Umfang Bestandteil des Systems, Multi gegen Multi, aber die Piraten waren völlige Außenseiter, Abtrünnige, die Standardschurken in den Stimmies. Zuerst war das Cyborg eine Person, und jetzt das! Malkah nahm sie entweder auf den Arm oder wurde langsam senil und konnte Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.

Malkah grinste. »Ich bin nicht verrückt, Shira. Komm, ich zeige dir was.«

Shira folgte ihrer Großmutter zum Hauptterminal. Alle in der Stadt wechselten sich beim Wachdienst ab und in schwierigen Zeiten trug jeder verbotenerweise, was sie an Waffen besaßen. Sicherheitsinformationen standen allen offen. Alle Welt hatte Zugriff auf diese Netzdatei, die Malkah jetzt aufrief. Während Shira immer noch über Malkahs Geisteszustand grübelte, erschien eine Liste der Verbrechen von Riva Shipman auf dem Bildschirm, dazu eine Warnung vor der Gefahr, die sie für die bestehende Konzernordnung darstellte. Sie hatte die Basen der Hälfte aller großen Multis infiltriert und geplündert. Sie wurde verantwortlich gemacht für den Zusammenbruch des Allevium-Marktes: Allevium hatte sich als wirksam erwiesen gegen die neueste Form der Kisrami-Seuche – die Krankheit, die Malkahs eigene Mutter dahingerafft hatte. Riva hatte offenbar die Medikamentenformel gestohlen und ins Netz gestellt, damit alle sie benutzen konnten. Jede kleinere Region hatte daraufhin ihr eigenes Heilmittel produziert.