Bergfriedhof

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10

Die Küchentür des Englischen Jägers öffnete sich. Ein Tablett, auf dem sich etliche Portionen Pommes frites türmten, wurde hereingetragen; dahinter glänzte der kahle Schädel der Wirtin. Maria musste ihre kurzen Arme ganz ausstrecken und das Kreuz durchbiegen, um unter ihrer Last nicht zusammenzubrechen. Sie zwängte sich durch den engen Gast-raum, am voll besetzten Stammtisch vorbei, verscheuchte einen Langhaarigen, der im Weg stand, schob einen Stuhl mit der Hüfte zur Seite, verlor unterwegs aber nicht ein einziges Pommes-Stäbchen. An unserem Tisch stellte sie das Tablett ab und verteilte die Portionen.

»Ketchup«, sagte Tischfußball-Kurt. »Nicht Mayo, verdammt.«

»Cool«, strahlte der mit der Nickelbrille.

Jeder am Tisch bekam seine Portion. Der eine ertränkte sie in Mayonnaise, der andere bestellte Salz nach. Und natürlich Bier, wegen des Salzes.

»Ich auch ein Bier.«

»Weizen. Kannst gleich zwei bringen. Aber nacheinander.«

»Orangensaft«, bellte Tischfußball-Kurt. »Ohne Eiswürfel, verdammt.«

»Mensch, Maria«, sagte der schöne Herbert, »deine Portionen waren auch schon mal größer.«

Das stimmte natürlich nicht. Marias breite Pizzateller werden immer bis zum Rand gefüllt. Ihre Pommes-frites-Portionen sind Legende, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Das wusste auch Herbert, und deshalb zeigte sich zum ersten Mal so etwas wie Zufriedenheit auf seinem trübsinnigen Antlitz, was er durch seinen Kommentar zu verbergen suchte. Er schnappte sich zwei Pröbchen Ketchup, die Maria in die Mitte des Tischs geworfen hatte, bevor Tischfußball-Kurt sie alle einheimsen konnte, und vergaß für einen Moment sein geliebtes Schachspiel. Kurt moserte noch ein wenig herum, doch seine Lippen glänzten bereits fettig.

»Ich würd auch noch eins nehmen«, sagte ich und hielt Maria mein leeres Bierglas hin. Nickend und stumm die Bestellung memorierend, zog sie sich zurück.

Ich sah ihr nach. Manche Dinge werde ich nie verstehen. Warum tut diese Frau das alles? Warum ist sie so, wie sie ist? Jeden Tag 15 Stunden in einer schäbigen, verqualmten Kneipe, kein Ruhetag, eine Woche Urlaub über Weihnachten, die Klientel fragwürdig, der Verdienst minimal. Einer wie Maria würden die Neuenheimer Wohlstandsbürger nicht einmal die Hand schütteln wollen. Sogar ihre Kundschaft vorne am Stammtisch verachtet sie und kommt nur wegen der günstigen Preise. Maria ist Sizilianerin, sie hat eine Glatze, spricht schlecht Deutsch, und wenn sie irgendwann einmal aufgibt, wird der Englische Jäger sofort in eine Tapas-Bar oder einen Sushi-Treff verwandelt.

Aber sie gibt nicht auf. Für die unteren Einkommensklassen hat die kleine Frau mehr getan als alle Sozialgesetze der letzten 10 Jahre. Sie ist es, die Heidelbergs dritten Stand vor dem Hungertod bewahrt. Inflation, Erhöhung der Mehrwertsteuer, explodierende Preise, sinkendes Durchschnittseinkommen … na und? Marias Fritten kosten immer noch das, was sie kosteten, als ich nach Heidelberg kam. Nur, warum das so ist, konnte mir noch niemand erklären. Weil Maria zum Samariterorden gehört? Weil sie die Gesetze der Marktwirtschaft nicht kapiert hat? Weil sie schwer von Kapee ist? Vielleicht. Nichts davon ist auszuschließen. Vielleicht aber auch, weil sie weiß, dass ihr die paar Cent, die sie ihren Quartalstrinkern und all den anderen Angeschwemmten aus den löchrigen Taschen ziehen könnte, nicht weiterhelfen würden. Oder weil Menschen wie Maria grundsätzlich auf der Verliererseite des Lebens stehen. Ich fände das sympathisch.

Denn, wie es der Zufall will, da stehe ich auch. Kein Mitleid, bitte schön, man muss den Tatsachen ins Auge sehen. Als ich einmal vor der Wahl stand, mit dem attraktivsten Mädchen des Landkreises zum Abschlussball der Tanzstunde oder ohne sie zu einem Europapokalspiel des 1. FC Kaiserslautern zu gehen, baute sich meine Mutter mächtig vor mir auf und fragte mich mit bebender Stimme: Willst du denn ewig auf der Seite der Verlierer stehen, Max? Ich verstand damals nicht, was sie meinte. Die Roten Teufel aber schieden zu Hause gegen eine dieser Knochenbrechermannschaften aus dem Ostblock aus – welche war es noch? Steaua Bukarest? Universitatea Craiova? –, und ich stand heulend in der Westkurve, über die gerade ein Wolkenbruch niedergegangen war. Mein Vater hatte sich an diesem Tag nicht eingemischt, weil er ein grauenhafter Tänzer war und mich als Fünfjährigen in die Kultstätte Betzenberg eingeführt hatte. Seine Stunde schlug zwei Jahre später, als ich durchs Abitur rasselte. Der Sohn eines Pfarrers, und wegen Latein durchgefallen! Das traf ihn tief.

Es traf ihn so sehr, dass er mir wohl am liebsten eine gescheuert hätte. Ich war nämlich zu spät und übernächtigt zur entscheidenden Klausur erschienen und hatte deshalb die nötige Punktzahl verfehlt. Dann aber kam meinen Eltern zu Ohren, dass ich die Nacht vor der Prüfung im Hause des Gemeindebibliothekars, dessen Tochter als läufiges Mädchen galt, zugebracht hatte; und schon regte sich in meinem Vater (der vor seiner theologischen Laufbahn ein echter Schwerenöter gewesen war) ein klein wenig Verständnis für seinen triebgesteuerten Sohn, auch wenn er es nicht zugab. Wieder etwas später jedoch machte ein neues Gerücht die Runde, und dieses besagte, dass es mein bester Freund jener Zeit, unser Schulsprecher, gewesen war, der sich mit dem Mädchen vergnügt hatte, während ich mit ihrem Bruder, dem Sohn des Gemeindebibliothekars also, bis zur Morgendämmerung im Hobbykeller gesessen und gekifft hatte, was die Lunge hergab.

Als mein Vater das hörte, zitierte er mich, schwer getroffen an Körper und Seele, in sein Arbeitszimmer. Er wies auf die vergilbten Fotos, die über seinem Schreibtisch hingen: Schau dir unsere Vorfahren an, sagte er. Sie alle waren Meister darin, erfolglos, nutzlos, verantwortungslos durchs Leben zu stolpern, und nun hast du dich ihrer als würdig erwiesen.

Wieso?, fragte ich. Haben die auch gekifft?

Max, antwortete mein Vater ernst, und man sah, wie schwer es ihm fiel, die richtigen Worte zu finden. Max, sagte er, über unserer Sippe liegt ein Fluch, glaub mir das. Ein Fluch. Wer den Namen Koller trägt, den hat das Schicksal zum Verlierer bestimmt.

Sicher, mein Vater ist Pfarrer, und er hielt sich für die einzige Ausnahme seines unglücklichen Geschlechts. Trotzdem habe ich damals nicht über seine pathetischen Worte gelacht, und genauso wenig lache ich heute darüber. Das Abi holte ich im Folgejahr nach, aber auch das änderte nichts. Leute wie ich mögen schneller sein als ein Streifenwagen, dem Fluch entkommen sie nicht.

Ich betrachtete die Schachfiguren vor mir. Die Partie stand auf Messers Schneide. Meine Türme waren zur Bewegungslosigkeit verurteilt, dafür wurde es für Herberts Dame allmählich eng. Es war ein gutes Gefühl, vor dem Schachbrett sitzen und in Ruhe ein Bier trinken zu können, ein gutes Gefühl, dem Chaos in der Plöck entronnen zu sein – aber was hiervon war mein Verdienst? Was hatte ich dazu beigetragen? Hier lief doch ein Spiel, dessen Regeln mir keiner mitgeteilt hatte. War ich ein Turm, ein Springer? Oder reichte es mal wieder nur zu einem Bauern?

Der schöne Herbert verzog sein Gesicht zu einer leidenden Grimasse. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis er mich matt setzte.

Ich befühlte meine linke Augenpartie. Der Bluterguss über dem Jochbein schmerzte. Es war dreist gewesen, mir in diesen Damenwäscheladen zu folgen und so lange vor der Umkleidekabine zu warten, bis ich aus einem Vorhangspalt herauslugte. Wer tat so etwas? Wer konnte so kräftig und präzise zuschlagen? So präzise, dass ich nicht ohnmächtig geworden war, sondern nur eine Weile bewegungsunfähig auf dem Boden herumgelegen hatte, wie in dicken, wattierten Nebel eingehüllt. Während ich vor mich hinstöhnte, waren in der Ferne gedämpfte Frauenstimmen und das helle Bimmeln der Türklingel zu hören.

Und dann? Irgendwann gelang es mir, mich aufzurappeln. Ich stellte den Hocker wieder hin und ließ mich auf ihn fallen. Rücken und Kopf an die Wand gelehnt, stöhnte ich ein Weilchen weiter, betastete die schmerzenden Stellen und versuchte einen Sinn hinter all diesen absurden Handlungen zu entdecken. Warum hatten es plötzlich alle auf mich abgesehen? Ein Silberrücken mit Pfefferspray, zähnebleckende Streifenpolizisten, ein geheimnisvoller Boxer. Liefen nur noch Verrückte durch die Stadt? War zu viel Testosteron in der Luft?

Es blieb bei diesen stummen Fragen. Keiner antwortete, keiner half mir. Ich richtete mich auf, setzte zwei wacklige Beine in Bewegung, torkelte an der Verkäuferin vorbei und trat hinaus auf die Straße.

Alles ruhig. In der Hofeinfahrt gegenüber lag mein rotes Fahrrad.

Eine halbe Stunde später war ich zu Hause.

»Jaja«, brummte Herbert von der anderen Seite des Schachbretts. »Jaja, schau, schau.« Er wusste längst, dass er das Spiel gewonnen hatte. Zugeben würde er es nicht. Denk doch nur, Max, bei der Eröffnung, bei dem Katastrophenbeginn … Wie soll man da erwarten, dass am Ende … Da hab ich aber noch mal Glück gehabt.

Gegen Herbert zu verlieren, ist keine Schande. Ich machte einen Verlegenheitszug.

Wir saßen zu sechst am Tisch. Die revolutionäre Brigade hatte sich verzogen, nur der lange Nickelbrillentyp leistete uns noch Gesellschaft, unterhielt sich aber hauptsächlich mit seinem Schnaps. Ihm gegenüber kraulte Tischfußball-Kurt seine beiden Dackel, flankiert von einem Intellektuellen mit grauem Rauschebart und einem Zimmermann auf Wanderschaft, der seinen Mund nur für einen gelegentlichen Rülpser öffnete. Maria hatte ein waches Auge auf den Koloss am Stammtisch, während im Hintergrund die drei Penner Skat kloppten; das knutschende Pärchen und der Dicke mit der Limo hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Die Teller mit den Pommes frites wurden mit atemberaubender Geschwindigkeit geleert.

 

Was sich genau auf dem Bergfriedhof abgespielt hatte, hatte ich meinen Zuhörern verschwiegen. Es genügte, wenn sie wussten, dass mich ein namenloser Geldprotz erst beauftragt und dann in die Wüste geschickt hatte – was meinen Glauben an die Menschheit derart erschüttert hatte, dass ich mich mit zwei Fahrrädern gleichzeitig vom Schlossberg hinunter in die Stadt gestürzt hatte. Nachfragen wehrte ich ab. Tut mir leid, Leute, die Sache ist heikel. Ihr wisst ja, als Privatdetektiv … Man kommt da mit unschönen Dingen in Kontakt. Ja, das verstanden sie im Englischen Jäger.

»Okay, Herbert«, sagte ich kurz darauf und kippte meinen König mit dem Zeigefinger um. »Das wars.« Soeben verließ Jessicas Großmutter die Kneipe, nicht ohne mir einen drohenden Blick zuzuwerfen.

»Ach, komm«, machte Herbert enttäuscht. »Schon aufgeben? Schau dir mal deinen Turm da an. Und die zwei Bauern.« Wollte mich noch ein wenig zappeln lassen, der einarmige Bandit.

»Vergiss es. Bin heute nicht bei der Sache. Außerdem brauche ich eine Auskunft von euch.« Ich winkte Maria heran, um ihr und den anderen meinen Auftraggeber so ausführlich wie möglich zu schildern. Beschrieb sein Auftreten, seine Kleidung, seine Stimme und natürlich seinen Wagen. Ahmte seine Haltung nach, seinen Gang, seine Gesten.

»Und? Habt ihr eine Idee, wer das sein könnte?«

»Nee«, sagte Herbert.

»Könnte jeder sein«, rief Tischfußball-Kurt. »In Neuenheim jeder.«

»Aber nicht jeder fährt so einen Wagen. Absolut auffällig, die Karre.«

Einhelliges Achselzucken. Kopfschütteln.

»Überlegt doch mal: so ein satter Rentner, könnte hier um die Ecke wohnen. Ehemaliger Großverdiener, Expolitiker, Manager, Ehrendoktor … na, dämmert euch was?«

Nichts dämmerte. Auch Maria schüttelte den Kopf. »No«, sagte sie. »Nie gesehe, Max.«

»Moment«, sagte der Intellektuelle mit dem Rauschebart. Er hört auf den schönen Namen Leander und ist allgemeiner Einschätzung nach zu gut für diese Welt. »Moment.« Dann schwieg er.

»Wie, Moment?«, fragte ich.

Er sah mich aus wasserblauen Augen an. Sagte aber keinen Ton.

»Was ist? Kennst du den?«

»Ich überlege«, antwortete er würdevoll.

Herbert machte eine abwehrende Geste und trank sein Bier aus. Ich blickte Leander auffordernd an. Er behauptete zu überlegen, sah aber nicht danach aus. Sah eher aus, als durchforste er die Mundhöhle mit der Zungenspitze nach Pommesresten.

»Ich bin ganz Ohr«, meinte ich. Immer freundlich.

Er nickte. Dann kniff er die Augen zusammen und fragte: »Wie, sagtest du, heißt dein Mann?«

»Welcher Mann? Der, den ich suche?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Das versuche ich gerade herauszufinden.«

»Ach so. Verstehe.«

Jetzt schwiegen wir beide. Er musterte mein lädiertes Auge.

»Aber hast du nicht eben …?«, begann er, sah sich hilfesuchend am Tisch um und schnappte nach Luft. »Hast du nicht … geht es nicht um diesen Professor?«

»Was für ein Professor?«

»Na, dieser Soziologie …«

»Soziologieprofessor? Ein Soziologe?«

»Nein, ein … ein Professor der Soziologie, der …«

»Der was?«

»Nicht so hektisch, Max«, warf Tischfußball-Kurt ein und hob einen seiner Dackel auf den Schoß, um ihn abzuknutschen.

»Ja, schon gut. Also, Leander, was für ein Professor?«

»Der mit dieser Villa oben am Philosophenweg … diese schöne Villa … mit der schönen Frau drin …«

»Ach, der«, sagte Herbert. »Fehlalarm, den kenne ich. So’n Männchen mit Halbglatze. Keine ein Meter 60 hoch.«

Leander fing an zu zittern. »Aber seine Frau, eine schöne Frau ist das. Und in der Garage ein Boot, das weiß ich genau.«

»Ja«, sagte Herbert.

»Ein schönes Boot …«

»Schon gut«, meinte ich.

»Damit fährt er jedes Jahr nach Irland, an die Westküste, um zu diesen Inseln im Atlantik, diesen … diesen schönen Inseln …, und zwar mit seinem Boot …« Leanders helle Stimme kippte ins Schrille, als er den längsten Satz, den er an diesem Abend begonnen hatte, nicht zu Ende brachte.

»Jaja«, nickten wir und tätschelten beruhigend seine Hand.

»Seine Frau ist auch dabei«, sagte er abschließend und hatte den Satz also doch noch fast zu Ende gebracht.

»1,58«, murmelte Herbert. »Höchstens.«

»Tut mer leid«, sagte Maria. »Kenn den Mann net.«

Dann ließ Tischfußball-Kurt plötzlich eine Faust auf den Tisch krachen, dass der Dackel auf seinem Schoß jaulend das Weite suchte.

»Verdammt, ich habs«, rief er. »Du musst den Schorsch fragen, Max.«

»Schorsch? Welchen Schorsch?«

»Welchen Schorsch?« Er sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, wo sich die Öffnung einer Bierflasche befindet. »Den Ungarn natürlich!«

»Er meint György«, erklärte Herbert. »Den Rennfahrer.«

»Ja, verdammt, dann halt György, elender Besserwisser!«

»Ach so, György«, sagte ich. »Der Ungar.«

»Sag ich doch die ganze Zeit. Beziehungsweise der Sohn vom Schorsch.« Er fuchtelte mir mit dem Zeigefinger vor den Augen herum. »Schorschs Kleiner, der Dings, na, wie heißt der Depp gleich?«

»Ah, Francesco«, half Maria. Sie warf einen Blick auf die fast blinde Uhr über dem Durchgang zur Küche. »Sì, sì, komme gleich her. Le due. Giorgio e Francesco.«

Dann eben Giorgio e Francesco. Oder Schorsch und Franz. Je nachdem, ob man wie Maria aus Piazza Armerina stammt oder wie Kurt aus Ilvesheim. Im Prinzip sprechen sie alle die gleiche Sprache.

»György«, wiederholte ich. »Das ist doch dieser Typ, der schon ewig hier lebt, nicht wahr? So ein Kurzer, Zappeliger?« Ich kannte den Mann nur flüchtig. Kleine Kanonenkugel nannten sie ihn im Englischen Jäger.

»Und ein Schwätzer vor dem Herrn«, nickte Tischfußball-Kurt. »Wenn alle Ungarn so sind, will ich da nie hin. 1956 hat er rübergemacht.«

»In den goldenen Westen«, brummte Herbert und verdrehte die Augen.

»Richtig, in den goldenen Westen, und seitdem sitzt er da und quatscht dich voll.«

»Und sein Sohn?«

»Der Franz?« Kurt zündete sich eine Zigarette an. »Also, der Franz ist ein Depp. Volldepp.«

»Was heißt das, ein Depp?«

»Na, wie würdest du das nennen, wenn einer ein bisschen gaga ist? Leicht gestört, plemplem, ein Idiot eben.«

»Ein Depp«, nickte Herbert.

»Aber völlig fanatisch, was Autos angeht«, ergänzte Kurt.

»Ach so. Jetzt kapiere ich.«

»Der Junge kennt jeden Wagen in Heidelberg«, sagte Kurt begeistert und aschte versehentlich in Herberts Bier. »Und wenn ich sage jeden, dann meine ich jeden. Der leiert dir die Seriennummern aller Neu­zulassungen runter. Ohne Punkt und Komma. Ein Depp, aber ein Zahlenwunder. Max, der verrät dir, wo dein BMW steht, bevor du piep sagst. Und den Kilometerstand gleich dazu.« Seine beiden Dackel kläfften zustimmend. Er nennt sie Coppick und Hansen, nach zwei berühmten Gladbach-Spielern aus den 70ern, wie er behauptet. Komisch; hießen die nicht Köppel und Jansen? Egal. Jedenfalls verdankte ich Kurt den Tipp mit György und seinem Sohn.

Gut, dann hieß es also nur noch warten. Gedankenverloren schaute ich Coppick und Hansen zu und betastete mein schmerzendes Veilchen. Vielleicht war ein Depp aus Ungarn der erste Hauptgewinn in diesem Spiel.

Es wurde allmählich auch Zeit.

11

Bevor ich mich aufmachte, den Sonntagnachmittag im Englischen Jäger zu verbringen, hatte ich meinen Freund Marc Covet angerufen. Für einen Lokaljournalisten wie ihn musste die Identifizierung meines anonymen Auftraggebers doch ein Klacks sein.

Dem Journalismus widmet Marc allerdings nur die eine Hälfte seiner Aufmerksamkeit, die andere gilt dem Trinken. In beiden Arbeitsgebieten ist er zu Höchstleistungen fähig, bewundert von Chefredakteuren und Kneipiers, gefürchtet von der Konkurrenz. Es hat schon viele gegeben, die ihn aus der Redaktion schreiben oder unter den Tisch saufen wollten und grandios scheiterten.

Außerdem, was heißt das schon: trinken? Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, sich Flüssigkeiten hinter die Binde zu kippen, dass man sie keinesfalls über einen Kamm scheren sollte. Im Englischen Jäger kann man einige von ihnen studieren. Da gibt es den Quartalstrinker und den Dauertrinker, den Gelegenheits- und den Anlasstrinker. Manche trinken Marias Roten, weil er ihnen schmeckt, den alt Eingesessen von der Bergstraße schmeckt er nicht, aber ihr Geiz lässt ihnen keine Wahl. Die einen trinken mit schlechtem Gewissen, die anderen mit gutem. Der schöne Herbert behauptet, er trinke nur, damit Maria einen Verdienst habe; fehlt nur noch, dass Maria eines Tages sagt, sie betreibe ihre Kneipe bloß, damit wir was zu trinken hätten. Mein Freund Fatty gehört zu den Leuten, die sich ein Besäufnis vornehmen wie einen Theaterbesuch; sie schauen in den Kalender, suchen sich einen günstig gelegenen Freitag aus und streichen ihn rot an: Hoch die Tassen! Ich selbst würde mich eher als einen Bauchtrinker bezeichnen, der dann zum Alkohol greift, wenn es die innere Stimme befiehlt. Selbst wenn sie es mitten in der Woche um 10 Uhr morgens befiehlt. Ob das ein Laster ist, sollen andere entscheiden. Christine machte einmal eine Andeutung in diese Richtung, da verwies ich nur auf Tischfußball-Kurt, der niemals Alkohol trinkt. Nie! Dafür Orangensaft in rauen Mengen, pur, als Schorle, im Müsli, auf Vanilleeis, mit Früchten. Grauenhaft.

Bei Marc ist das alles anders. Marc trinkt äußerst ernsthaft, nicht einfach zum gelegentlichen Vergnügen oder nebenher, sondern gründlich, mit Vorsatz und Kenntnis, wie einer, der Bodenproben in einem Naturschutzgebiet nimmt. Bier lässt er in der Regel links liegen, Wein reichen sie ihm bei den zahlreichen Empfängen und Premieren, die er besuchen muss; seine Leidenschaft aber gilt schärferem Zeug, Whisky, Grappa, Aquavit. Über schottische Brennmethoden und französische Destillationstricks weiß er alles. Bevor der Absinth wieder in Mode kam, hielt Marc Covet als einziger Heidelberger – man verzeihe die Formulierung – dessen Fahne hoch. Nicht ohne Eitelkeit übrigens, denn Covet ist ein verdammt selbstgefälliger Snob. Macht gerne einen auf Zyniker und Kunstkenner; und wenn sich in der Nähe ein Weiberrock blicken lässt, läuft er zur Hochform auf: Showmensch Marc Covet. Seine größte Rolle allerdings spielt er, wenn er sich selbst nachahmt. Covet imitiert Covet und lacht sich darüber kaputt: wie er säuft, wie er seine Marotten pflegt, wie er sich über Gott und die Welt beklagt. Alle Achtung, diese Fähigkeit haben nur wenige.

Wahrscheinlich muss er deshalb so viel trinken.

Wie auch immer, attraktiv ist der Mann. Und er weiß das. Rennt Woche für Woche zum Friseur, um diese Attraktivität zu bewahren; sein Bart ist stets auf dieselbe Millimeterlänge gestutzt, seine Lockenpracht immer in dem gleichen satten kastanienbraunen Ton gehalten. So etwas schafft Eindruck. Sein Friseur säuft übrigens auch. Reine Schutzmaßnahme, sagte Marc, als ich ihn wieder einmal wegen seines Schönheitswahns und seines notorischen Durstes aufzog; Präparation von innen und von außen, um gegen die Hässlichkeit dieses Lebens gefeit zu sein. So sagte er und schaute ungewöhnlich ernst drein, aber ich glaubte ihm nicht.

Auch Marc Covet gelang es nicht, die Identität des Pfeffersprayers zu lüften. Dabei kennt er nach eigener Aussage und nach der seines Chefs jeden Stein in Heidelberg, jeden Einwohner, der einmal in der Zeitung gestanden oder einen zähnebleckend aus dem Lokalteil angegrinst hat, kennt sämtliche Affären, jedes Getuschel, jeden Klatsch. Er weiß, was politisch gespielt wird und wer sich mit wem über wen oder was zerstritten hat. Marc Covet ist, mit einem Wort, der Chronist unserer Epoche. Noch ein Grund für seine Sauferei.

Und ein Grund für seinen Arbeitgeber, über seine Eskapaden hinwegzusehen. Zur einzigen Heidelberger Tageszeitung, den stockkonservativen Neckar-Nachrichten, hatte es bis in die 90er-Jahre hinein eine ernst zu nehmende, wenngleich ideologisch kaum unterscheidbare Konkurrenz gegeben; man befehdete sich nach Kräften, und die härtesten Kämpfe wurden auf den Lokalseiten ausgefochten. Irgendein pfiffiger Schreiberling der Neckar-Nachrichten hatte eines schönen Tages die Idee, den jungen Covet in die Lokalredaktion zu berufen, und kurz danach machte das andere Blatt dicht. Es wird nicht allein an dem neuen Redakteur gelegen haben, aber mitentscheidend war dieser Schachzug schon. Marc ist Perfektionist, sein Stil unnachahmlich, und was er schreibt, ist gründlicher recherchiert, stichhaltiger, aktueller als der Rest der Zeitung. Vor allem aber haben seine Beiträge jenes gewisse journalistische Etwas: eine Mischung aus distanzierter Anteilnahme, kumpeligem Schulterschluss und kauziger Selbstironie – Eigenschaften, die sich, so könnte man meinen, ausschließen. Nicht bei Marc Covet. Er hätte ein Lokalblatt im Alleingang aufmachen können, und es wäre der Renner geworden. Aber er wollte noch Zeit für seinen Grappa haben. Und für die Weiber natürlich.

 

Ich erwischte ihn ausnahmsweise zu Hause. Das ist deswegen die Ausnahme, weil er dort nur eine eiserne Ration Alkohol aufbewahrt. Nicht, dass er in den eigenen vier Wänden keinen Tropfen hinunterbekäme; er trinkt nun mal lieber in der Öffentlichkeit, unter den Leuten, die sich tags darauf in seinen Artikeln wiederfinden.

Covet saß also nicht in seiner geliebten Hinterbühne, dem Theatercafé, sondern lag zu Hause auf dem Sofa und lauschte meinem Bericht. Ich beschrieb ihm den beigefarbenen BMW, entwarf ein Phantombild des Alten – er schüttelte nur den Kopf. Jedenfalls denke ich mir das, schließlich telefonierten wir.

»Marc, streng dich ein bisschen an«, sagte ich. »Du hast einen Ruf zu verlieren.«

»Ruf?«, gab er unwirsch zurück. »Ich habe überhaupt nichts zu verlieren und schon gar keinen Ruf.«

»Na, hör mal, du als Heidelberger.«

»Als Heidelberger Lokalgröße, ja? Wolltest du das sagen? Ich danke. Aber jetzt pass mal auf, du komischer Schnüffler: Ich versuche mir die ganze Zeit jemanden aus dem Kreis hiesiger Besserverdienender vorzustellen, der dich engagieren würde.«

»Und?«

»Gibt es nicht.«

»Aber der Typ hat mich engagiert.«

»Ein Widerspruch in sich. Ein Oxymoron. Schwarzer Schimmel.«

»Apropos: Der BMW hatte schwarze Ledersitze. Außen beige. Fällt dir dazu was ein?«

Er gähnte. »Nein, nichts. Was ist das überhaupt für eine Farbe: beige? Die gibt es nicht als Autolack. Wahrscheinlich meinst du ocker oder gelbbraun.«

»Meine ich nicht. Ich meine beige.«

»Eklige Farbe«, murmelte er.

»Wieso eklig? Die gleiche Farbe wie bei deinen Whiskys, die du immer …«

»Was?«, brüllte er. »Gehts dir noch gut? Whisky ist nicht beige! Du hast ja keine Ahnung, Max! Goldgelb, bitte schön, so sieht ein Whisky aus. Oder bernsteinfarben, so wie durchsichtiges Messing, wie der Flaum einer Rotkehlchenbrust. Verstehst du das?«

»Bravo, Marc, so kenne ich dich! Endlich bist du wach. Fangen wir noch mal von vorne an.«

Er seufzte. »Du kannst mich mal, Max …«

Pause. Schenkte er sich ein? Spülte er bernsteinfarbenes Hochlandgold durch seine Hirnwindungen? Oder linste er hinüber zu dem großen Spiegel und kontrollierte seine Frisur?

»Was ist los, Marc? Schlechter Tag heute?«

»Kann man wohl sagen«, seufzte er wieder.

»Hast du Besuch?«

»Leider nicht. Oder Gott sei Dank. In meinem der­zeitigen Zustand … Weißt du, gestern Abend … im Grunde ist Hopper daran schuld.«

»Hopper? Der Schauspieler?«

»Nein, der Maler. Edward, nicht Dennis. Der mit den bunten Schwimmbecken.«

»Verstehe. In einem von denen bist du gestern abgesoffen.«

»So ungefähr. Der Kunstverein hatte Ausstellungseröffnung.« Jetzt gähnte er wieder. »Jugendskizzen von Hopper. Total minderwertiges Zeug, nicht ein Stück von Belang dabei. Das muss er unter der Schulbank zusammengekritzelt haben.«

»Interessant.«

»Superinteressant, du sagst es. Das Beste an der ganzen Ausstellung war der Trollinger, und das Beste am Trollinger war, dass wir ihn um zwei ausgetrunken hatten. Sonst läge ich jetzt noch im Koma.«

»Und wie soll ich da meinen Fall aufklären? Hast du dir das vielleicht mal überlegt, hm?«

»Ich hasse diese Kunstbanausen«, murmelte er. »Beige soll mein Whisky sein, das muss man sich mal …«

»Kunstbanause stimmt«, sagte ich, »aber mit intakter Leber.«

»Spießer. Was wolltest du nun von mir wissen?«

»Denk noch mal nach, wer der Typ vom Bergfriedhof sein könnte. Du kennst doch diese Leute alle.«

»Den nicht. Der muss von auswärts sein.«

»Ein Mann mit Kohle und Einfluss, das kann doch nicht so schwer sein. Ein Politiker vielleicht, mit zu viel Übergangsgeld. Wirtschaft. Rhein-Neckar-Mafia.«

»Mafia?«

»Kurpfälzer Camorra, was weiß ich. Na, komm schon!«

»Tut mir leid, da muss ich passen. Keine Aktennotiz vorhanden. Dieser Mann ist in keinem Heidelberger Verein Kassenwart, kein Straftäter, kein Lokalpolitiker und auch nicht das alles zusammen. Über den habe ich noch nichts geschrieben.«

»Hättest du wenigstens eine Idee, wie ich weitermachen soll? Wo ich mit meiner Suche anfangen könnte?«

»Tja«, sagte er. »Tja.«

Eine schöne Hilfe, dieser Journalistenfreund. Derart fantasielos war er sonst nur in stocknüchternem Zustand.

»Fatty meinte, ich solle es in Neuenheim versuchen. Vorzugsweise die Gegend um die Bergstraße und darüber, am Hang.«

»Ja, klingt vernünftig. Wenn er gegen alle Wahrscheinlichkeit in Heidelberg wohnen sollte, dann dort.«

»Oder im Schlosswolfsbrunnenweg.«

»Nein«, entgegnete Covet, und zum ersten Mal klang er, als wüsste er, wovon er sprach. »Dort oben nicht. Diese Pappenheimer kenne ich alle persönlich, jeden Einzelnen. Samt Vergangenheit. Und Zukunft. Such dir nächstes Mal einen von denen aus, dann erzähle ich dir eine Romantrilogie über deinen Klienten.«

»Werde ich mir merken.«

»Apropos Neuenheim. Hör doch mal in deiner Lieblingskaschemme nach, dem Englischen Jäger. Wenn der Typ dort in der Nähe wohnt, kennt man ihn und seinen unappetitlichen Wagen. Von deinen Proletariern hat bestimmt schon einer gegen diesen BMW gepinkelt.«

»Meine Proletarier«, erwiderte ich, »pinkeln nicht gegen bernsteinfarbene, pardon: beigefarbene Bonzenkarossen. Die haben den bewaffneten Kampf aufgegeben und vertrauen nun ganz auf die Macht des Wortes. Das der liberalen Presse zum Beispiel.«

»Dazu müssten sie lesen können«, murmelte er. Unsere Diskussionen, wie lange Marc noch guten Gewissens der Reaktion (jawohl, der Reaktion, aber natürlich auch der Redaktion) seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen und wann er endlich zur taz oder wenigstens zur Süddeutschen wechseln werde, sind Legion. Wenigstens Freiberufler könnte er doch werden. Tausendmal habe ich ihm vorgerechnet, dass ihm Marc Covets Spirituosenführer Millionen einbrächte. Wenn er ihn nur einmal schriebe. Alles vergebens.

»Im Ernst«, meinte er, »da sitzen doch genug von diesen Eingeborenen rum, die den Neckar nur mit Reisepass überqueren. Hör dich dort mal um.«

»Danke für den Tipp, Marc. Aber auf den Gedanken bin ich selbst schon gekommen.«

»Weil er angesichts von Marias Pommesportionen so naheliegend ist. Klar. Wie würdest du eigentlich die Farbe frischer Pommes frites beschreiben? Ist das auch beige für dich?«

»Nein, whiskyfarben natürlich«, lachte ich. »Wie fritierte Rotkehlchenbrust. Kartoffel im Messingbad.«

»Schade, dass ich keine Flasche Trollinger mehr dahabe. Um sie dir über den Schädel zu ziehen.«

»Das würdest du nicht, wenn du wüsstest, wie ich aussehe.«

»Weiß ich doch. Und zu verschlimmern gibt es da nichts.«

»Hör zu, Hemingway, wenn dir in der Redaktion eine Vermisstenmeldung begegnet, sagst du mir Bescheid. Ein hagerer Mann um die 70, dunkle Augen, Hakennase, leicht verwahrlost. Okay?«

»Jaja.« Er seufzte mal wieder.

»Leute wie dich kann man immer brauchen.«

»Schön wärs.«

Mehr war an diesem Tag nicht aus dem Journalisten herauszuholen. Er versprach mir noch, einen Kollegen zu fragen, der einen kannte, dessen Schwester einen Polizeihauptmeister geheiratet hatte. Oder heiraten wollte. Vielleicht war dort eine Vermisstenanzeige eingegangen, oder es gab Hinweise auf meinen anonymen Auftraggeber. Erwarten solle ich aber nichts, sagte Covet; aus diversen lokalpolitischen Gründen sei die Zusammenarbeit mit der Polizei momentan nicht optimal. Na, wem sagte er das! Wir jammerten noch ein wenig über die schlechten Zeiten, dann legten wir auf.

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