Bergfriedhof

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2

Der Einzige, der in meiner Wohnung konstant arbeitet, ist mein Anrufbeantworter. Vom Kühlschrank abgesehen, aber der hat schließlich nichts mit meinem Beruf zu tun. Ich selbst liege auf dem Sofa, mache Besorgungen, starre auf den Fernseher oder denke mir Fälle aus, die nur ich zu lösen imstande bin – nicht unbedingt ein nachhaltiger Beitrag zum deutschen Bruttosozialprodukt. Meinem Anrufbeantworter ist das egal, er wacht stumm auf dem Schreibtisch und kommentiert meinen Lebenswandel nicht. Unliebsame Anrufer hält er hin, sein Band ist immer dann voll, wenn ein flüchtiger Bekannter seine Handynummer hinterlassen möchte, und blinkend verbreitet er gute Laune. Solche Mitarbeiter braucht man als selbstständiger Unternehmer, keine sonst.

Wozu auch? Den Rest der Arbeit erledige ich schon alleine. Ich bekomme selten Aufträge, und davon nehme ich nur einen Teil an. Manchmal passt mir die Nase eines Kunden nicht, dann schütze ich Überlastung vor, ein andermal ist mir die Sache zu widerwärtig. Dass eine Arbeit meine Kräfte überstiegen hätte, ist mir leider noch nicht passiert. Auf diesen einen spektakulären Auftrag, auf die große persönliche Herausforderung warte ich bislang vergebens. Was passiert schon bei uns in der Provinz? Eine Brieftasche wird vermisst oder ein Schoßhündchen, hier und da verliert ein gestresster Bankdirektor den Überblick über die aktuellen Liebhaber seiner Frau, zweitklassige Firmen lassen das Privatleben drittklassiger Bewerber durchleuchten, bevor sie sie nicht einstellen. Das wars. Keine Erpressungen, keine Entführungen, kein Mord im Halbweltmilieu, geschweige denn eine Halbwelt – und falls doch, rücken sofort die Bullen an, froh, dass sie auch mal was zu tun bekommen.

Unter die Privatdetektive geriet ich eher zufällig. Einige Jahre arbeitete ich ganz klassisch als Taxifahrer, für einen Ehrenmann aus dem Pfaffengrund, der sich jeden Sonntagmorgen mit Küsschen von seinen Kindern verabschiedete, um sich erst in den Gottesdienst und anschließend in den Puff zu begeben. Seine Angestellten verachtete er, mich ganz besonders, weil ich vorlaut war und meine Nase in Dinge steckte, die mich nichts angingen. Eines Tages aber kam ihm das gerade recht, er bestellte mich in sein Büro und gab mir die Anweisung, seiner Frau hinterherzuschnüffeln. Gegen ein Extrahonorar. Nun, ein Zubrot verdiente ich mir gerne, und wenn sich gleichzeitig ein Brandsatz in das morsche Ehegebäude meines Chefs legen ließ, umso besser. Also stellte ich der Frau nach, zu Fuß und im Taxi, mit einer geliehenen Kamera. Ich erwischte sie tatsächlich mit einem Liebhaber – schwer war es nicht, sie knutschten auf offener Straße –, später mit einem zweiten; einen dritten und vierten erfand ich hinzu. Meinen Chef traf fast der Schlag, als er meinen Bericht hörte. Und erst die Fotos! Natürlich ließ er sich nicht scheiden, der Feigling, er verprügelte seine Frau nicht einmal, wie er es sonst hin und wieder tat, und angeblich reduzierte er sogar seine Puffbesuche. Genau weiß ich das allerdings nicht, denn da hatte ich die Firma bereits verlassen. Mit dem Typen war es einfach nicht auszuhalten.

Anschließend tat ich eine Zeit lang nichts, ging meiner damaligen Frau auf die Nerven und hasste alle Welt. Bis mir klar wurde, welchen Ertrag das bisschen Schnüffelei gebracht hatte und dass mein natürliches Interesse an meinen Mitmenschen (beziehungsweise an deren Schwächen) ein Pfund war, mit dem ich wuchern konnte. Warum diese Begabung nicht zu meinem Beruf machen? Als ehemaliger Taxifahrer kannte ich die Stadt wie meine Westentasche, ich kannte die Verhältnisse, die Typen, die hier lebten, und was mir an Intelligenz fehlte, ersetzte ich durch Frechheit. Was sprach noch dagegen?

Gesagt, getan. Ich richtete ein Zimmer unserer Wohnung als Büro ein – das heißt, ich räumte meinen Schreibtisch auf – und schaltete eine Zeitungsannonce: Max Koller, Ermittlungen aller Art. Dann harrte ich der Dinge, die da kommen sollten.

Als Christine das sah, hielt sie mich endgültig für übergeschnappt. Ein knappes Jahr später trennten wir uns.

Ob das eine mit dem anderen etwas zu tun hatte, meine berufliche mit unserer persönlichen Neuorientierung nämlich – keine Ahnung. Es hat mich nicht interessiert. Die Sache ist vorbei, gegessen. Natürlich fand Christine mein Privatflic­abenteuer kindisch, aber so urteilte sie über vieles, was ich anpackte. In dem einen Jahr, das wir noch gemeinsam verbrachten, hatte ich vielleicht ein Dutzend Aufträge. Für den Anfang ganz ordentlich; um einer ehrgeizigen Frau zu imponieren, jedoch viel zu wenig. Schwamm drüber.

Inzwischen hat sich die Zahl meiner Aufträge auf niedrigem, aber konstantem Niveau eingependelt. Ich komme über die Runden, das kann in Zeiten der Rezession nicht jeder von sich behaupten. Und im Gegensatz zu vielen, die ich kenne – an erster Stelle meine Exfrau – arbeite ich mich dabei nicht tot. Die freie Zeit nutze ich für Radtouren durch den Odenwald, für eine Schachpartie oder für ein Gespräch über Gott und die Welt im Englischen Jäger, meiner Lieblingskneipe. Mehr Aufträge könnte ich mir möglicherweise gar nicht leisten, höchstens besser honorierte.

Und die Konkurrenz? Bescheiden. Da gibt es eine Mannheimer Detektei, die regelmäßig in den Heidelberger Zeitungen und Anzeigenblättchen inseriert. Zwischen Discountern und Heimwerkermärkten, und genau da gehört sie auch hin. Wer ein paar Jungs braucht, die anpacken können, liegt bei ihr goldrichtig. Schließlich arbeitete ihr Geschäftsführer früher bei einer Sicherheitsfirma. Das Kontrastprogramm bieten zwei Einserjuristen in der Heidelberger Altstadt, jung, smart, gepflegte Büroräume, gepflegter Auftritt. Arbeit unter freiem Himmel gehört nicht zu ihren Spezialitäten, dafür der Bereich Wirtschaftskriminalität: globaler Wettbewerb, Industriespionage, Betriebsgeheimnisse, Patentklau und so weiter. Am liebsten durchforsten sie dickleibige Gesetzeskommentare und die Marianengräben des Internets. Nicht mein Ding. Ich kann keine Fälle am PC lösen, nur Daten und Zahlen vor Augen und als Dialogpartner eine Handvoll flimmernder Bits. Immerhin, der Laden der beiden scheint zu laufen. Sie sind auch privat ein Paar, heißt es, führen ein schickes Leben und verbringen die Hälfte des Jahres auf Bali. Abwechselnd, vermutlich.

Dann gibt es noch einen älteren Kollegen in Handschuhsheim, einen ehemaligen Polizisten, dessen Beine nicht mehr so recht wollen. Ein harmloser Kerl, beliebt bei der Klientel über 60, im Nebenberuf Winzer. Seine einzige erwähnenswerte Qualität besteht im Besitz eines badehandtuchgroßen Wingerts oberhalb der Bergstraße, den er seit drei Jahrzehnten eisern bewirtschaftet, trotz seiner Beine. Und zwar mit erstaunlichem Erfolg. Das Tröpfchen, das er seiner Handvoll Trauben abpresst, ist ein Gedicht; Wildschweine und Spaziergänger hält eine Selbstschussanlage Marke Eigenbau von seinen Rebstöcken fern. Gemeinsam nehmen wir manchmal einen zur Brust, und wenn er dann mit einer seiner heiligen Flaschen aus dem Keller (noch so ein Hochsicherheitstrakt) gehumpelt kommt, seine Frau ins Bett geschickt hat und im Westen eine rote Herbstsonne hinter den Pfälzer Bergen versinkt, erzählen wir die Geschichte vom Malteser Falken neu und wie wir an Nicholsons Stelle die Fortsetzung von Chinatown gedreht hätten.

So viel zu den schönen Momenten eines Privatfliclebens in der Kurpfalz.

Und die weniger schönen? Die gibt es natürlich auch: wenn sich über Wochen niemand mit einem Auftrag bei mir meldet, keine kühle Blondine in hochhackigen Schuhen, kein zwielichtiger Zigarrenraucher mit vernarbter Wange. Nicht einmal der besorgte Vater einer pubertierenden Tochter; man wird ja bescheiden. Auch in Heidelberg fällt das Geld nicht vom ewig blauen Himmel, und soll ich vielleicht meine Nachbarn zum Verbrechen ermuntern, nur damit bei mir die Kasse klingelt?

Ich nehme daher von Zeit zu Zeit einen dieser fragwürdigen Jobs an, bei denen fürs Leben zu wenig und fürs Sterben zu viel herausspringt und auf die sie drüben in den USA so stolz sind. Helfe bei der Spargelernte, klebe Plakate für die FDP, spende Thrombozyten. Manchmal, wenn sich mir die Waagschale der Konjunktur unverhofft zuneigt, darf ich Medikamente vor ihrer Markteinführung ausprobieren und frage mich anschließend, ob man von Placebos Zungenbläschen bekommt. Beklagt habe ich mich noch nie über dieses Leben. Dazu besteht kein Anlass. Nur, dass mein forscher Unternehmergeist so wenig gesellschaftliche Anerkennung findet, verstimmt mich ab und zu.

Aus diesem Grund bedeutete der Auftrag, der mir an jenem Freitagabend erteilt wurde, eine mehr als kleine Überraschung für mich. Ich war gerade zur Tür hereingekommen, Auberginen, Okraschoten, Olivenöl und Lammhack unterm Arm, als das Telefon klingelte. Kurz überlegte ich: das Gespräch meinem Anrufbeantworter überlassen oder selbst rangehen? Es hätte mein Freund Fatty sein können, also stellte ich das Olivenöl beiseite und nahm den Hörer von der Ladestation.

»Herr Koller?«

»Am Apparat.«

»Sind Sie heute Abend frei? Ich brauche Ihre Hilfe in einer dringenden Sache.«

Ich ging hinüber zum Kühlschrank und stieß ihn mit der Fußspitze auf. »Heute Abend? Wäre machbar. Worum geht es denn?«

»Das erzähle ich Ihnen später. Unter vier Augen.«

»Aha. Darf ich Ihren Namen erfahren?«

»Der Auftrag an sich ist nicht ungewöhnlich«, sagte der Anrufer, als habe er meine Frage überhört. »Es geht um einige Nachforschungen zu einer Person, um die ich Sie bitte. Mir ist nur eines wichtig: Diskretion.«

»Oh, ich kann wahnsinnig diskret sein«, lachte ich und begann, meine Einkäufe mit einer Hand in den Kühlschrank einzuräumen.

»Genau das verlange ich. Mein Name tut nichts zur Sache. Dafür garantiere ich gute Bezahlung. Verdoppeln Sie Ihren üblichen Satz.«

 

»Den kennen Sie doch noch gar nicht.«

»Verdoppeln Sie ihn. Und kommen Sie bitte heute Abend Punkt 23 Uhr zum Bergfriedhof, nicht zum Haupteingang, sondern oben zu der kleinen Seitentür am Steigerweg. Dort warte ich auf Sie, und dort können wir alles Weitere besprechen.«

»Wie bitte?« Ich blieb verdattert an der geöffneten Kühlschranktür stehen. »Auf dem Bergfriedhof soll ich Sie treffen? Was haben Sie denn da vor?«

»Erkläre ich Ihnen dort«, antwortete er müde.

»Moment, so einfach geht das nicht. Ich werde mich doch nicht mitten in der Nacht mit einem Unbekannten auf einem Friedhof …«

»Warum nicht?«

»… ohne zu wissen, um was es geht und was ich zu tun habe!«

»Warum nicht, Herr Koller? Ich möchte Sie beauftragen, aber anonym bleiben. Das ist alles. Und dass wir uns auf dem Bergfriedhof treffen, hat seinen Grund, den ich Ihnen vor Ort erläutern werde. Die Sache ist dringend, deshalb biete ich Ihnen ein doppeltes Honorar. Nehmen Sie an?«

Ich schwieg. Was war denn das für ein seltsamer Typ? Jedenfalls keiner, der lange um den heißen Brei herumredete. Klare Bedingungen, klare Gehaltsvorstellungen. So vergab man professionell Aufträge. Ja, wahrscheinlich hatte der Anrufer sein ganzes Leben lang Aufträge erteilt, und nun war eben Max Koller dran. Er klang völlig anders als später bei unserer Begegnung auf dem Bergfriedhof, ohne Sarkasmus, ohne Schärfe in der Stimme, eher gelangweilt, der Sache überdrüssig – so, als habe er sich die Finger wund gewählt und wolle endlich zu einem Ende kommen. Nehmen Sie an oder lassen Sie es, Herr Koller.

Dabei brannten mir verschiedene Fragen auf der Zunge. Warum erklärte er mir den Auftrag nicht am Telefon? Warum dieser alberne Treffpunkt mitten in der Nacht? Wie konnte der Anrufer anonym bleiben, wenn ich ihm gegenübertreten würde? Vielleicht wohnte er ja um die Ecke. Und was war so wichtig, dass er mir so viel Geld bot?

Liebend gerne hätte ich ihn all das gefragt. Aber es war klar, dass ich keine Antwort bekommen würde.

»Was ist, Herr Koller? Sind Sie interessiert? Oder soll ich mich an die Konkurrenz wenden?«

»Vergessen Sie die Konkurrenz«, entgegnete ich, und das war ja nicht einmal übertrieben. Wenn sich jemand auf seine haarsträubenden Bedingungen einlassen würde, dann nur ein Hallodri wie ich. »In Heidelberg werden Sie niemanden finden, der Ihre Spielchen mitmacht, das gebe ich Ihnen schriftlich. Für mich stellt sich ein anderes Problem.«

»Die Sache ist völlig ungefährlich. Da brauchen Sie …«

»Das meinte ich nicht«, unterbrach ich ihn. »Wenn ich Sie heute Abend treffen will, muss ich einen Termin verschieben. Und je nachdem, wie Ihr Auftrag sich gestalten sollte, wird das in den nächsten Tagen immer wieder der Fall sein. Ich habe schließlich nicht nur einen Kunden.«

»Natürlich«, sagte er, und vielleicht glaubte er mir sogar.

»Da ist mir die mündliche Honorarzusage durch einen Mann, der anonym bleiben will, ein bisschen dürftig, wenn ich ehrlich bin.«

Der Anrufer zögerte nicht eine Sekunde. »Sie bekommen heute Abend von mir 2000 Euro bar auf die Hand; und wenn ich Ihnen einen doppelten Tagessatz verspreche, dann bleibt es auch dabei. Um solche Peanuts zu feilschen, ist mir zu dumm.«

Peanuts! Er sagte es tatsächlich. Mir blieb der Mund offen stehen. 2000 Euro bar auf die Kralle, und er sprach von Peanuts. Hatte er die Scheine unterm Briefbeschwerer liegen? Am liebsten hätte ich ihm in die Fresse geschlagen. Von diesem Augenblick an war mir der Unbekannte zutiefst unsympathisch.

Nur die 2000 Euro waren mir nicht unsympathisch, die nicht.

»Und wenn ich den Auftrag, nachdem ich ihn kenne, nicht übernehme?«, hakte ich nach.

»Dann behalten Sie das Geld als Aufwandsentschädigung«, versprach er, und zum ersten Mal schwang ein wenig Ärger in seiner Stimme mit. »Was ist nun, Herr Koller? Kommen Sie oder kommen Sie nicht?«

»11 Uhr am Steigerweg? Die Seitenpforte?«

»Richtig.«

Die Kühlschranktür stand immer noch offen und ich davor. Meine Knie wurden allmählich kalt. Mit dem Lammfleisch wollte ich morgen die Auberginen füllen, vielleicht mit den Okraschoten als Beilage. Das Zeug war teuer gewesen, außerdem musste ich ja irgendwann eine Entscheidung treffen. Ich warf die Kühlschranktür zu.

»Okay«, sagte ich. »Ich komme. Zum Bergfriedhof.« Verdammt, war ich neugierig!

»Bis später«, erwiderte er und legte auf.

3

»Selbstmord?«, fragte ich. »Selten so gelacht. Wer hat Ihnen das denn eingeredet?«

»Für alle die beste Lösung. Keine Fragen, keine Nachforschungen. Niemand wird behelligt, weder ein Privatdetektiv von mäßigem Leumund noch sonst jemand.«

Mäßiger Leumund? Möglich. Aber woher wusste er das? Hatte er Erkundigungen über mich eingezogen oder sah man mir meinen Ruf an? Denkbar war beides. Es war sogar denkbar, dass sich der Mann gezielt an mich gewandt hatte: an einen Ermittler, der ab einer bestimmten Summe jeden Auftrag akzeptieren würde.

»Selbstmord«, nickte er nachdenklich. »Ich denke, damit können wir alle gut leben.«

»Wir, ja. Nur der Mann auf dem Grab nicht.«

Er schmunzelte leicht und nahm den Fuß vom Gas­pedal.

Wir saßen im Wagen des Alten, einem beigefarbenen BMW mit schwarzen Ledersitzen und Furnierholz am Armaturenbrett. Seine bläulich-weißen Lichter strichen über die Stämme des Heidelberger Stadtwalds. Ab und zu kam uns ein Auto entgegen. Noch einige 100 Meter, dann würden wir auf Höhe des Schlosses in die Klingenteichstraße einbiegen. Der Weg hinab in die Stadt war kurvig. Mit einer Hand hielt ich mich am Griff über dem Beifahrerfenster fest.

»Ich möchte meinen Auftrag umformulieren«, sagte der Mann am Steuer. »Auch wenn Ihnen das ungewöhnlich vorkommen mag. Mein neuer Auftrag an Sie lautet: keine Nachforschungen. Vergessen Sie, dass wir uns begegnet sind. Das Treffen hat nie stattgefunden. Genießen Sie das Wochenende und den Feiertag. Das Wetter soll ja schön werden.«

»Quatsch«, sagte ich. »Es ist Regen gemeldet.«

»Dann ist eben Regen gemeldet. Auch gut.«

»Auch gut«, echote ich wütend. »Auch gut, Mister Unbekannt. Nun passen Sie mal auf: Mit mir haben Sie Pech. Ich bin neugierig. Eine Berufskrankheit, unheilbar. Genau wie Ihre Allergie.«

Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und schaltete vor der nächsten Kurve einen Gang zurück.

»Verdammt neugierig sogar«, sagte ich. »Wer der Mann auf dem Grab ist, interessiert mich nämlich brennend. Mich interessiert, warum er da liegt und weshalb ich nachts um 11 auf dem Bergfriedhof erscheinen sollte. Meinen Sie wirklich, Sie können mir diese Neugier abkaufen?«

Nun gönnte er mir einen ausgiebigeren Blick.

»Natürlich«, sagte er verwundert. »Was denn sonst?«

Ich lachte.

»Natürlich kann ich das«, behauptete er in einem Ton, als hätte ich bezweifelt, dass zweimal zwei vier ist. »Ich beauftrage Sie, Ihre berufsbedingte Neugier, für die ich im Übrigen größte Sympathie hege, ausnahmsweise zu unterdrücken. Nur dieses eine Mal. So lautet mein Auftrag, und dafür zahle ich. Wenn Sie mein Honorar nicht akzeptieren, verhandeln wir. Sehen Sie, ich bin ein alter Mann …« – verdammter Lügner, dachte ich, denn er war alles Mögliche, aber nicht das, was man sich unter einem alten Mann vorstellte – »Ich bin ein alter Mann, Herr Koller, und mir ist meine Ruhe einiges wert. Wenn Sie einmal mein Alter erreicht haben, werden Sie das verstehen.«

»Ich bin gerührt. Darf ich Ihnen die Schnabeltasse reichen?«

Gelangweilt zuckte er die Achseln. Antworten wie diese hatte er wohl schon tausendmal in seinem langen Leben vernommen.

»Gut«, sagte ich. »Nehmen wir an, ich lasse mich auf den Deal ein und schnüffle anschließend trotzdem hinter Ihnen her. Was dann?«

»Warum sollten Sie das? Was bringt es Ihnen?«

»Keine Ahnung.«

»Eben. Also können Sie es auch gleich lassen. Wenn Sie hoffen, mir etwas anhängen zu können – vergessen Sie es. Mit der Leiche auf dem Grab habe ich nicht das Geringste zu tun. Ich wollte Sie in einer Familienangelegenheit um Ihre Hilfe bitten, aber nun ist mir die ganze Sache zu heikel geworden. Reichen Ihnen diese Informationen?«

»Wer ist der Tote?«

»Ich weiß es nicht.«

»Natürlich wissen Sie es. Ein alter Studienfreund vielleicht? Ein Kumpel aus dem Lions Club?«

»Herr Koller, bitte …«

»Oder hat Sie der Mann letzte Woche in der Fußgängerzone angeschnorrt?«

Ohne den Blick von der Straße zu wenden, verzog mein Chauffeur das Gesicht zu einer Grimasse, als würde ihm gleich ein Backenzahn gezogen; meine Anwesenheit schien ihm physische Schmerzen zu bereiten. Ein paar Sekunden verharrten seine Gesichtszüge in dieser Stellung, dann entspannten sie sich wieder. »Sehen Sie, Herr Koller …«, begann er. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und tastete in dem Fach unterhalb des Radios nach einer Bonbondose. Auf der Hand wuchsen dunkle und einige schon ergraute Haare. Lange, starke Haare.

»Sehen Sie …«, wiederholte er, dabei gab es nichts zu sehen. Er kramte weiter in dem Fach herum und ließ die Fahrbahn nicht aus den Augen. Endlich wurde er fündig und warf ein Hustenbonbon ein.

»Es war ein anstrengender Tag, Herr Koller. Ich würde ihn gerne zu einem guten Ende führen. Akzeptieren Sie meinen Vorschlag, und ich werde Sie weiterempfehlen. In meinem Bekanntenkreis benötigt man immer mal wieder die Dienste eines verlässlichen Detektivs. Wenn ich ein gutes Wort für Sie einlege, werden Sie sich vor Aufträgen kaum noch retten können.«

»Leichen auf dem Bergfriedhof inklusive?«

»Apropos: Ich weiß nicht, ob Sie die Polizei über diesen … diesen Vorfall informieren möchten.«

»Erste Bürgerpflicht, finden Sie nicht?«

»Dann rate ich Ihnen, anonym zu bleiben. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, verstehen Sie? Die Behörden hegen gewisse Vorurteile gegen Ihren Berufsstand.«

»Wer hegt die nicht?«, lächelte ich. »Was arbeiten Sie eigentlich, Herr …?«

»Oh, ich bin Rentner«, wehrte er ab. »Ich habe mein Berufsleben lange hinter mir.«

»Also doch Schnabeltasse. In welchem Altersheim verdämmern Sie wohl Ihren Lebensabend?«

Nun brachte er ein kleines Lächeln zustande; nicht zu viel, nicht zu wenig, gerade richtig, seiner Ansicht nach. Vermutlich fand er mich recht drollig und bemitleidenswert, weil ich so weit unten am Fuß der Gesellschaftspyramide beheimatet war, Lichtjahre von seiner eigenen Position entfernt.

»Es gibt mehr suizidgefährdete alte Menschen, als man ahnt«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Sein Bonbon wanderte von einem Mundwinkel in den anderen. Er war überhaupt nicht nachdenklich, tat aber so.

»Und seine Waffe?«, brummte ich. »Die hat er wohl verschluckt?«

»Die wird sich finden. Vielleicht haben Sie sie eingesteckt.«

»Habe ich. Und deshalb verraten Sie mir jetzt Ihren Namen, sonst gibt es ein Blutbad.«

»Oder es war ein Unfall. Nachts, im Dunkeln, wer weiß … Die Polizei wird es herausfinden, da vertraue ich auf unsere Behörden.«

Mir gefiel nicht, wie er ›unsere‹ sagte. Wahrscheinlich verachtete er Polizisten genauso wie Privatflics. Hielt sie wohl beide für käuflich. Natürlich, er als geschröpfter Steuerzahler, an dessen starke Schulter sich Vater Staat in Zeiten der Rezession lehnte. Ermittelt wurde immer mit seinem sauer verdienten Geld. Mit seinen Steueralmosen und seinen Honoraren. Deshalb verachtete er uns. Zugeben würde er das freilich nicht, beschwor vielmehr wortreich die Gemeinschaft der Werktätigen, holte uns alle in sein großes Wir-Boot, ohne dabei rot zu werden. Er musste ja nicht ewig lügen. Noch fünf Minuten, dann war er mich los.

Der Wagen surrte zufrieden. Unter uns leuchteten die Lichter der Altstadt. Wir hatten diesen Umweg nehmen müssen, weil der Steigerweg, der zur Seitenpforte des Bergfriedhofs führte, einseitig gesperrt war. Die halbe Straßenbreite hatten sie wegen Kanalarbeiten aufgerissen. Auf dem Hinweg war ich durch die Weststadt gekommen und am Alois-Link-Platz von der Rohrbacher Straße abgebogen. Der Rückweg führte uns notgedrungen weiter bergan, durch den Wald Richtung Schloss und in engen Serpentinen hinab in die Altstadt. Wir erreichten die Friedrich-Ebert-Anlage und bogen links ab. Die Straßen waren menschenleer, nur hinter den erleuchteten Fenstern strich ab und zu ein Schatten vorbei.

Wenn es wenigstens in dem BMW einen Hinweis auf den Besitzer gegeben hätte! Aber der Innenraum des Wagens war penibel aufgeräumt, da hing nicht einmal ein Talisman vom Rückspiegel. Ich sah mich um. Keine Musikkassette, die Hutablage verwaist, die Heckscheibe ohne einen einzigen Aufkleber. Nur die dämliche Bonbondose und ein paar Autokarten in den Türfächern. Der BMW erwies sich als genauso verschwiegen wie sein Besitzer.

 

Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, den Friedhof zu verlassen. Ich hätte den Toten untersuchen können; irgendein Hinweis auf seine Identität hätte sich bestimmt gefunden. Aber der Silberrücken hatte zum Aufbruch gedrängt. Er wollte fort von der Leiche, runter vom Friedhofsgelände. Mein Geld liege im Wagen, hatte er behauptet. Ich war ihm schließlich gefolgt. Wenn es eine Chance gab, seinem Namen auf die Spur zu kommen, dann jetzt. In seinem Wagen, im Gespräch mit ihm, an seiner Seite. Der Tote würde noch die ganze Nacht auf seinem Grab liegen. Auch wenn es gar nicht sein Grab war.

So kam es, dass ich in den BMW des Unbekannten eingestiegen war. Wenn ich während der Fahrt nichts über den Mann in Erfahrung bringen konnte, musste ich mir halt das Nummernschild des Wagens merken. Mein Fahrrad blieb einsam an der Friedhofsmauer zurück.

»Suchen Sie etwas?«, fragte der Alte, als ich mich im Innenraum des Wagens umschaute. Wir näherten uns bereits dem Bismarckplatz.

»Suchen wir nicht alle irgendetwas?«, murmelte ich und fixierte das verschlossene Handschuhfach. »Sind wir nicht ständig auf der Suche?«

»Wenn es um Ihr Honorar geht, machen Sie sich mal keine Sorgen. Ist Ihnen Barzahlung recht?«

In diesem Fall wäre mir ein Verrechnungsscheck mit Namenszug lieber gewesen. Ich öffnete das Handschuhfach, entnahm ihm ein Buch und einige Papiere. Lauter belangloses Zeug, das sah man auf den ersten Blick.

»Was soll das, Herr Koller?«, protestierte der Alte. »Das bringt doch nichts. Unsere Abmachung war …«

»Welche Abmachung?«, schnitt ich ihm das Wort ab. Bei dem Buch handelte es sich um die übliche technische Beschreibung des Wagens, die Papiere gingen in die gleiche Richtung. Was tun im Notfall? und So funktioniert Ihr Airbag.

»Nun lassen Sie doch die Finger von den Sachen!«, schimpfte er.

Fort mit dem Zeug. Es lagen noch weitere nichtssagende Zettel im Fach. Die neue fondorientierte Mittelkonsole, made in Germany. Ein alter Parkschein, bunte Prospekte, ein kleiner Faltplan der Frankfurter Innenstadt. Nichts, überhaupt nichts. Es war zum Heulen.

Der BMW kam zum Stehen. Wir waren jenseits des Neckars in Neuenheim angelangt, kurz hinter dem Brückenkopf. Nur wenige Fahrzeuge huschten über die sonst so stark frequentierte Brückenstraße mit ihren rundum erneuerten Straßenbahngleisen.

»Verdammt noch mal!«, herrschte mich der Alte an, aber nicht einmal diese Erregung schien mir echt. »Wollen Sie nun auf mein Angebot eingehen oder nicht, Herr Koller? Dann hören Sie auf, hier herumzusuchen. Es hat Sie nicht zu interessieren, wer ich bin und was ich ursprünglich von Ihnen wollte. Mein Auftrag lautet: Es hat nie einen Auftrag gegeben, verstanden? Also: Nehmen Sie an, ja oder nein?«

Ich grinste ihm ins Gesicht. »Es gibt nichts, was ich lieber täte«, sagte ich. »Ich werde meinem Wohltäter ewig dankbar sein und ihm eine Kerze anzünden, sobald ich zu Hause bin.«

»Ich bin nicht Ihr Wohltäter«, entgegnete er und schnallte sich los. »Ich will bloß meine Ruhe.«

»Richtig, Sie sind ja ein alter, pflegebedürftiger Mann.«

Er griff in die Innentasche seines Mantels und hielt mir einen Umschlag unter die Nase. »Das hier sind 5000 Euro, Herr Koller. 5000. Mein Honorar für Ihr Stillschweigen. Ich vertraue Ihnen.«

Er vertraute mir, wie schön. Ich musterte den Mann. Er hatte ein großes, quadratisches Gesicht, leicht gerötet und von weißen Haaren gekrönt. Eine markante Nase, rechteckige, randlose Brillengläser. Die wässrigen Augen eines Greises. Er benutzte ein würziges Aftershave oder eine Gesichtslotion, und er trug ein blaues, geblümtes Seidentuch. In der Hand hielt er einen Umschlag mit 5000 Euro, für ihn ein Klacks, aber ein satter Betrag für einen arbeitsscheuen Privatflic.

Zugreifen, sagte eine innere Stimme.

Und dann? Stillhalten? Die Hände in den Schoß legen?

Mal sehen. Seit wann zählt ein Versprechen gegenüber so einem Typen, der jede Menge Dreck am Stecken hat?

»Na los, nehmen Sie schon«, sagte der Alte. »Ich werde Sie weiterempfehlen. Diskretion ist ein wichtiges Argument, wenn man einen Privatdetektiv benötigt.«

Diskretion, da war das Wort wieder. Ich nickte und streckte eine Hand aus. Der Umschlag war dick und fühlte sich angenehm an. Sollte ich ihn öffnen? Nachzählen? Auf ein Scheinchen mehr oder weniger kam es dem Mann wohl kaum an.

»Ich vertraue Ihnen«, wiederholte er. »Trotzdem, Herr Koller … Es tut mir leid.«

Ich wandte den Kopf und blickte in die Mündung einer kleinen Spraydose. Als es zischte und ich die Augen schloss, war es bereits zu spät. Ich schrie auf. Das Zeug brannte wie Feuer, im ersten Moment glaubte ich, es würde mir die Pupillen wegätzen. Anstatt den Alten zu packen oder wenigstens wild um mich zu schlagen, krümmte ich mich und wischte wie ein Wahnsinniger in meinen Augenhöhlen herum. Mein Sicherheitsgurt wurde geöffnet, dann die Beifahrertür, und ich spürte seine Hände an meiner linken Seite. Im nächsten Moment lag ich auf dem Bürgersteig.

Er war wirklich alles andere als altersschwach, der Silberrücken.

Inne książki tego autora