Die Königin von Verlorenherz

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Kapitel 14

Endlich hatten Til, Narr Silberspiegel und das Mädchen Reggie das Alphabet zehnmal aufgesagt und damit nicht nur alle Buchstabenlöcher zerstört, sondern auch die Menschen auf dem Brotberg zurückverwandelt.

Der König von Brot schaffte es nicht mehr, bis auf den Gipfel seines Brotbergs zu gelangen, denn zu tausenden versperrten ihm die Menschen jetzt den Weg, die er einst in sprachlose Brote verwandelt hatte. Diese Menschen waren nun wirklich sehr böse auf den König von Brot und das ist beileibe auch verständlich.

Zu ihrem Glück hatten die Neuankömmlinge in Verlustig immer nur diejenigen Brote vom Brotberg gegessen, die keine verwandelten Menschen waren, denn die Menschenbrote waren gar nicht essbar gewesen und hatten ganz scheußlich geschmeckt. Außerdem hatte man sie gleich als verwandelte Menschen erkannt, denn kaum hatte man sie angefasst, hatten sie laut aufgeschrien.

Jetzt wurde der König von Brot von unzähligen wütenden Menschen auf dem Brotberg festgehalten, ja sogar seine frühere dickwangige Frau war darunter und schrie wütend: „Haltet das verdammte Brot!“ Alle Menschen hatten ihre Sprache zurückerhalten, nachdem Til, Narr Silberspiegel und das Mädchen zehnmal das Alphabet aufgesagt hatten. Nun herrschte plötzlich ein Stimmengewirr ohnegleichen.

Auf dem Gipfel des Brotbergs, der nun deutlich niedriger geworden war, standen Til, Narr Silberspiegel und das kleine Mädchen Reggie. Til kam das Mädchen nun wirklich sehr klein und ziemlich eigenartig vor – sie konnte nicht älter als vier Jahre sein! Aber sie hatte schönes rotes Haar, das ihr bis zu den Füßen reichte, und Augen, die die unbestimmte Farbe von Wasser hatten – und zudem trug sie ein Sommerkleid mit allen Blautönen der Welt darauf!

Nachdem Til, Narr Silberspiegel und Reggie sich vor Freude umarmt hatten, weil sie nun ebenfalls wieder alle Laute des Alphabets sprechen konnten, rüsteten sie sich zum Abstieg vom Brotberg, um mit den vielen erlösten Menschen zurückzukehren, nach Verlorenherz. Til hielt immer wieder nach seinem Vater Ausschau, von dem er ja hoffte, dass er ebenfalls als Brot verwandelt auf dem Brotberg gewesen war.

„Wie finden wir einen Ausgang aus Verlustig?“, wollte Til wissen, während Reggie, durch die vielen verärgerten und traurigen Menschen um sie herum erschreckt, sich plötzlich fest an ihn klammerte.

„Ich will zu meiner Mami“, sagte Reggie. „Sie heißt Resi Redewendung. Kannst du mich dorthin bringen?“

„Ja, kleines rothaariges Mädchen“, sagte Til, strich ihr übers Haar und sah sie freundlich an, „das mache ich gern!“ Das kleine Mädchen gefiel ihm sehr.

„Wir müssen nach dem Zuggleis suchen, das von Verlustig wieder nach Verlorenherz führt!“, rief Narr Silberspiegel, aber weiter kam er nicht, denn jetzt eilten plötzlich sehr viele Menschen auf ihn zu.

„Du weißt, wie wir hier wieder fortkommen!“, riefen sie alle durcheinander und waren sehr aufgeregt.

„Hört gut zu, Leute!“, rief Narr Silberspiegel und wurde ernst.

Til nahm die kleine Reggie bei der Hand und flüsterte: „Wir finden deine Mama, kleines rothaariges Mädchen!“

Das Mädchen lächelte und sagte plötzlich: „Und wenn wir meine Mama gefunden haben, dann will ich mit dir tanzen, lieber Til!“

„Aber zuerst müssen wir leise sein“, mahnte Til, „und Narr Silberspiegel zuhören!“

„Wenn ich euch aus Verlustig führen soll“, rief Narr Silberspiegel laut über die Köpfe der Menschen hinweg, die nun ganz still wurden, „dann müsst ihr mir sagen, wo hier das Bahngleis ist, das nach Verlorenherz zurückführt!“ Das wusste jedoch keiner der Menschen so genau, weil sich der dichte Nebel noch immer über die ganze Wüste legte. „Dann müssen wir eben im Nebel nach dem Gleis suchen“, sagte Narr Silberspiegel. „Das kann doch nicht so schwierig sein!“

Aus der Menschenmenge riefen einige jetzt plötzlich hervor: „Fragt doch den König von Brot selbst, wie wir das Gleis finden! Er soll den Nebel aus der Wüste fortzaubern!“

Nun hielten die Menschen auf dem Brotberg den König von Brot in die Höhe, der war ein stinknormales katzengroßes Kastenbrot, das aus Leibeskräften schrie: „Lasst mich sofort herunter! Selbst wenn ihr das Zuggleis findet, werdet ihr niemals nach Verlorenherz zurückkommen! Denn das Gleis dehnt sich, wenn man es zurückgeht, so unendlich weit, dass es hundert Jahre dauern würde, ehe man es zu Fuß zurückschafft – ihr müsstet immerfort gehen, gehen, gehen!“

„Du blödes Brot!“, maulte die kleine Reggie und schluchzte.

Und die Menschenmenge rief im Chor: „Nieder mit dem König von Brot! Nieder mit dem König von Brot! Nieder mit dem König von Brot!“

„Keine Sorge, kleines rothaariges Mädchen“, tröstete Til Reggie, „wir finden einen Weg – ganz bestimmt!“

Reggie jammerte: „Eigentlich hat die Fahrt hierher im Zug auch schon sehr lange gedauert – mir kam es vor wie eine ganze Woche!“

Til schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: „Aber nicht doch, kleines rothaariges Mädchen! Das hat doch keine Woche gedauert von Verlorenherz bis nach Verlustig! Ich habe mit Narr Silberspiegel nicht einmal die Bahn benutzen müssen. Wir sind nur einige Meter auf dem Bahnhof von Verlorenherz herumgetanzt, am Gleis entlang, haben an etwas Schönes gedacht und im nächsten Moment standen wir auch schon in Verlustig … Moment mal! Vielleicht ist das ja die Lösung! Vielleicht müssen wir nur lustig sein und am Gleis von Verlustig entlangtanzen – sicher kommen wir dann auch ganz schnell wieder nach Verlorenherz zurück!“

„Du verdammter Schlaumeier!“, brüllte der König von Brot, der Tils Worte gehört hatte, denn er hatte sehr gute Ohren, obwohl er ein Brot war. Er wurde nun so zornig, dass sich sein kastenförmiger Brotlaib zu einer wütenden Brotkugel zusammenballte und rief den Menschen zu: „Traurig sollt ihr sein! Traurig und ohne Hoffnung! Nicht lustig!“

Aber Til wiederholte seine Idee nochmals laut vor allen Menschen in Verlustig. Abschließend rief er: „Nur lustig findet man wieder aus Verlustig!“

Der König von Brot gab sich noch nicht geschlagen: Als wütende Brotkugel schoss er plötzlich wie ein Fußball auf Til zu.

Kapitel 15

„Sag mal, bist du bescheuert, Rafael?“, rief Kenzo. Sie standen auf der vollen Tribüne und guckten aufs Fußballfeld hinunter, wo das Endspiel der Füchse gerade in seiner Schlussphase war. „Das da unten auf dem Fußballfeld ist nicht dein Bruder und dein Bruder heißt nicht Silvan, sondern Til!“

Rafael brüllte wütend: „Ach, hör doch auf, mich zu veräppeln!“ Dann lief er davon, weil er es hasste, veräppelt zu werden.

Rafaels Mama blieb zurück und jubelte mit den anderen Eltern auf der Tribüne den Spielern zu, als das Spiel in diesem Moment endete: Drei zu null für die Füchse – und die Mannschaft feierte jetzt nicht nur ihren Meistertitel, sondern auch den blassen, schmalen Jungen mit dem dünnen schwarzen Haar und den dunklen Augen, die wie Löcher aussahen: als ihren Torschützenkönig Silvan!

Der Junge mit dem Trikot Nummer 11, der Til sein sollte, war nicht Til – Kenzo konnte das selbst kaum glauben! Er verließ die Tribüne, lief davon und schwang sich auf sein Fahrrad.

Auf dem Heimweg in die Innenstadt dachte er angestrengt nach: Ich bin doch nur mit Rafael zum Trainingsplatz gefahren und plötzlich kam dieser Sturm auf und wir standen im nächsten Moment auf der Tribüne des großen Fußballplatzes, wo das Endspiel stattfand, das erst Tage später hätte sein sollen. Warum hat Rafael vergessen, wer sein Bruder ist? Und wo ist Til eigentlich? Warum merken die anderen nicht, dass er verschwunden ist? Was ist denn hier eigentlich los, verdammt?

Viele Fragen spukten in Kenzos Kopf herum, bis er endlich seine Wohnung aufschloss, und als er in die Küche kam, saß seine Mama dort am Tisch und aß Schokoeis. Das tat sie oft: Statt eines Abendbrots aß sie dann nur einen großen Teller mit Schokoeis. Sie hob ihren Kopf kurz vom Teller und sagte leise: „Hallo!“

Und Kenzo sagte nichts – sein Gruß war immer ein Lächeln und dann musste seine Mama auch lächeln. Meistens war seine Mama leider traurig. Oft weinte sie sich in den Schlaf. Sie war so traurig, dass sie nur noch still ihren Haushalt verrichtete, ja sie hatte seit einem Jahr außer „Hallo!“ kaum ein Wort mehr gesprochen und verließ auch kaum mehr das Haus. Sie hatte Angst – vor Menschen. Und das nannten die Nachbarn „depressiv“. Kenzo mochte dieses Wort nicht. Einmal hatte er depressiv im Internet nachgeschlagen, aber dort war es so kompliziert formuliert gewesen, dass er beschlossen hatte, dass seine Mama ganz bestimmt nicht depressiv war: Sie war sehr traurig, aber Kenzo wusste nicht genau, warum sie so traurig war. Sie hatte es ihm nie erzählt.

Kenzo und seine Mama lebten von Sozialhilfe und von dem Geld, das Kenzos Mama von ihrer Mama, also von Kenzos Oma, manchmal bekam. Einmal, als Oma vorbeigekommen war, hatte sie zu Mama gesagt: „Ich war auch mal jung und schön und habe mit einem jungen und schönen Mann was angefangen, das weißt du ja, aber er hat mich nicht geliebt und ich bin auch nicht daran zerbrochen und habe dich allein großgezogen. Also sei endlich stark, Kind!“

„Mein Papa hat mich nicht gewollt“, hatte Mama einmal erzählt. „Das war schlimm. Und meine Mama …“ Da hatte sie nicht mehr weiterreden können, weil sie weinen musste. Sie weinte nur selten vor Kenzo, sondern saß meist still vor ihm.

Mehr hatte seine Mama ihm nicht erzählt über ihre Eltern, aber wenn Oma sie besuchte, dann merkte Kenzo immer, dass diese Besuche kurz und selten waren und Oma meist nur wegen Geld kam: „Ich habe das Geld auch gebraucht, als ich dich allein großziehen musste. Was ich geben kann, das gebe ich gern!“, sagte sie oft zu Mama. Dann redete Oma über die Wohnung von Kenzo und seiner Mama, dass einige Möbel endlich einmal erneuert werden müssten, über irgendwelche Spesen, die viel zu hoch waren, und schließlich noch kurz über das Wetter, das für Oma oft viel zu scheußlich war. Und dann stand Oma schon wieder in der Wohnungstür, um sich zu verabschieden, eine Frau mit strengem Blick und wirrem, weißen Haar, das ihr über die Schultern hing. Aber einmal, da hatte sie anscheinend gar nicht gewusst, was sie zum Abschied sagen sollte, als Mama sie nur traurig ansah. Es gab eine kleine Pause, dann sagte Oma etwas gequält: „Wiedersehen!“

 

Kenzo hat oft nach seinem Papa gefragt. „Er hat uns verlassen“, hatte seine Mama einmal erzählt, „noch vor deiner Geburt“, aber irgendwann sagte sie fast gar nichts mehr, sie hatte nur ständig Angst, wachte nachts auf und nahm irgendwelche Tabletten, damit sie sich beruhigte. Warum hat sie Angst?, überlegte Kenzo manchmal. Sie hatte es Kenzo leider nie gesagt.

Kenzo hatte einmal geträumt, dass sein Papa an der Tür stand, aber seine Mama ihn nur traurig ansah.

Mama ist so verdammt still, sie sagt nie etwas, verdammt!, dachte Kenzo. Das ärgerte ihn immer wieder, aber seiner Mama zuliebe unterdrückte er diese Wut, wenn er bei ihr war. Ein paar Mal schon hatte er einen Jungen vor der Schule verprügelt, aber seine Mama hatte gar nichts dazu gesagt, obwohl die Lehrer gedroht hatten, dafür zu sorgen, dass er in ein Internat käme! Also hatte er damit aufgehört und angefangen, wenigstens jedem Jungen Prügelstrafen anzudrohen, der besser Fußball spielte als er. Kenzos Mama hatte auch nie etwas gesagt, als die Mamas dieser Jungen sich ständig bei ihr über Kenzo beklagt hatten, nicht einmal geweint hatte sie! Sie war einfach durch nichts zu bewegen, und das ärgerte Kenzo unsagbar!

Der Psychiater kam zu ihnen in die Wohnung. „Soziophobie“ nannte er das, was Kenzos Mama traurig machte. Kenzo durfte bei den Sitzungen nicht dabei sein und meistens war er dann in der Schule. „Soziophobie“, fragte Kenzo einmal, „was ist denn das, verdammt?“ Und der Psychiater antwortete: „Angst vor Menschen. Bei deiner Mama ist es vor allem die Angst, dass andere Menschen sie ablehnen könnten, wenn sie sich ihnen annähert.“ „Und wenn schon!“, schnarrte Kenzo mürrisch, „die Menschen reden manchmal wirklich böses Zeug, aber deswegen muss man doch keine Angst vor ihnen haben!“

Kenzo passte gut auf alles auf. Seit einem Jahr erledigte er vieles, was außerhalb der Wohnung getan werden musste, weil seine Mama Angst vor Menschen hatte und einfach fast nie aus dem Haus zu kriegen war. Höchstens zum Sozialamt ging Kenzos Mama, aber auch nur, wenn sie es musste. Und sie zitterte bereits, wenn sie nur in Anwesenheit Anderer ein Formular unterschreiben musste. Sie nahm sich dann wirklich sehr zusammen, fand Kenzo – er sah, wie sie sich auf die Lippen biss und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken. Kenzo bemerkte, wie ihr ganzer Körper bebte, und auf einmal rief er ganz wütend: „Sei still, verdammt!“ Da ließ Mama den Kugelschreiber fallen und lief weinend davon. Kenzo tröstete sie auf dem Heimweg und entschuldigte sich, aber sie ging nur mit gesenktem Kopf in die Wohnung zurück und schloss sich in ihrem Zimmer ein.

Jetzt setzte sich Kenzo zu seiner Mama an den Küchentisch und fragte: „Muss ich etwas einkaufen, Mama?“

„Nein“, sagte seine Mama nur und starrte auf ein Bild an der Wand.

Mama hatte viele Bilder von einem unbekannten Künstler namens Vincent, mit dem sie zur Schule gegangen war, wie sie Kenzo erzählt hatte, und sie blickte diese Bilder oft an. Die meisten davon hingen in ihrem Zimmer und für Kenzo waren sie nichts Besonderes, weil er sie zu verschwommen und undeutlich fand. Mama machte fast gar nichts mehr als diese merkwürdigen Bilder anzustarren – selbst die blöde Hausarbeit blieb jetzt oft an Kenzo hängen, wenn seine Mama zu müde dazu war, obwohl sie nicht viel tat – manchmal kam sie sogar den ganzen Tag nicht einmal aus dem Bett.

„Schau mich nicht so an, Kenzo!“, murrte die Mutter, als sie seinen verärgerten Blick spürte. Da wurde Kenzo noch wütender und ging in sein Zimmer.

Er hätte seiner Mama gern von der unglaublichen Geschichte erzählt, die er erlebt hatte – nun war er ganz allein in seinem Zimmer und wusste nicht, was er anfangen sollte. Am liebsten hätte er jemanden verprügelt. Mit dem Problem meiner Mama bin ich ja schon lange allein – wenn jetzt auch noch Rafael mich hängen lässt, dann muss ich auch das Problem mit dem unheimlichen Jungen selbst in die Hand nehmen, verdammt!, dachte er.

Kapitel 16

In seinem unbändigen Zorn hatte sich der kastenförmige König von Brot zu einer fußballgroßen Brotkugel zusammengerollt, die nun auf Til zuschoss, weil Til die rettende Idee gehabt hatte, wie die Menschen aus Verlustig wieder herausfinden könnten.

Dieser verdammte Schlaumeier!, brüllte der König von Brot vor Zorn, aber gerade seine Verwandlung in eine fußballgroße Brotkugel wurde dem einstigen Kastenbrot zum Verhängnis: Nicht umsonst war Til Fußballer – so schoss er die Kugel mit Leichtigkeit wie einen Fußball in den grauen Nebelhimmel, als sie auf ihn zuflog.

„Du verdammter, verdammter, verdammter Schlaumeier!“, brüllte die fliegende Brotkugel noch, bevor sie für immer irgendwo im Himmel verschwand.

Die Menschen jubelten und die kleine Reggie rief begeistert: „Großartig, Til! Du bist der beste große Bruder!“

„Kleines rothaariges Mädchen“, sagte Til ernst, „ich bin leider nicht dein großer Bruder.“

„Für mich bist du es“, sagte Reggie einfach – und so war es beschlossen. Auch für Til war das in Ordnung, denn er mochte das kleine rothaarige Mädchen sehr. Er spürte, dass sie irgendwie miteinander verbunden waren, auch wenn sie nicht wirklich Bruder und Schwester sein konnten. Aber wenn Til sich eine kleine Schwester hätte wünschen sollen, dann wäre sie genau so gewesen wie Reggie.

Als sie vom Berg stiegen, erlebten sie eine schöne Überraschung: Sie standen in einer weiten Wüste, die sich bis zum Horizont erstreckte – Buchstabenlöcher und Nebel waren fort! Wie jubelte die Menschenmenge – es waren wirklich tausende von Menschen, die sich das Ende der Herrschaft des Königs von Brot herbeigesehnt hatten und nun endlich erlöst waren. Auch der Brotberg hinter ihnen löste sich nun langsam auf und nachdem sie eine kurze Zeit durch die Wüste gewandert waren, die sich ganz kalt anfühlte, fanden die Menschen auch das Bahngleis wieder, welches sie nach Verlorenherz zurückführen sollte. Es war glücklicherweise auch nicht schwierig, die Richtung auszumachen, in der sie dem Gleis folgen mussten: Auf der einen Seite endete das Gleis nämlich im Sand, während es in der anderen Richtung weiter durch die Wüste führte. Sie benötigten auch gar keinen Zug, um zurückzugelangen.

„Nur lustig müssen wir aus Verlustig am Gleis entlangtanzen“, sagte Til.

Narr Silberspiegel klopfte Til stolz auf die Schulter und meinte: „Du bist wirklich ein außerordentlicher Junge!“

Das hatte Til schon so oft von seiner Mutter gehört, dass es ihn fast ärgerte, schon wieder gelobt zu werden. So sagte er einfach: „Ich weiß es nun mal – es muss der richtige Weg sein.“

Nun suchte sich jeder einen Tanzpartner, wobei die kleine Reggie sofort rief: „Til tanzt mit mir, nur mit mir, und wir tanzen so lange am Gleis entlang, bis wir wieder in Verlorenherz sind!“

Nur lustig mussten die Menschen tanzen und das fiel ihnen nicht schwer – jetzt, wo sie wieder erlöst waren! Tausende von Menschen begannen also, am Gleis von Verlustig in Richtung Verlorenherz entlangzutanzen – einige zu zweit, andere allein – und jeder tanzte so lustig, wie er sich gerade fühlte.

Durch ihren schwarzen Zauberspiegel, der jeden in eine ewige Dunkelheit schickte, der hineinblickte, hatte die Königin von Verlorenherz bereits einiges herausgefunden: vom Untergang ihres Bruders, des Königs von Brot, hatte sie ebenso erfahren wie davon, dass die Menschen aus Verlustig befreit worden waren. Allerdings erfuhr sie nicht, wer hinter dieser Tat steckte, weil ihr Zauberspiegel, ein schwarzer Standspiegel mit Rabenflügeln, Narr Silberspiegel und Til nicht sehen konnte. Dies lag daran, dass die beiden selbst im Besitz eines magischen Spiegels waren: des guten Silberspiegels, der sie vor den bösen Mächten der Königin schützte und ihnen weise Ratschläge erteilte.

Zornig wie sie war, atmete die böse Königin erst einmal tief durch, bis sie schließlich zum einzigen Fenster ihres schwarzen Thronsaals ging – einem klitzekleinen Fenster, so klein wie ein Mauseloch, aus dem sie von ihrem rabenschwarzen Palast herab auf ihr ganzes Reich blicken konnte. Bald würde dieses Reich sehr glücklich sein, wusste sie, wenn die verlorenen Menschen aus Verlustig zurückkämen. Wütend biss sie die Zähne zusammen und hätte am liebsten ihren eigenen rabenschwarzen Spiegel in Trümmer zerschlagen, so wütend war sie über die Freude der Menschen aus Verlustig, die ihr der Spiegel offenbart hatte.

Mit diesem schwarzen Spiegel konnte die Königin Menschen in die Ewige Dunkelheit verbannen – das war ein ganz schlimmes Reich, in dem man immerfort schlief und nicht wieder aufwachte, ja nicht einmal mehr träumte! Die Königin zwang denjenigen, der in die Ewige Dunkelheit geschickt werden sollte, in den Spiegel zu blicken – dann war er verloren. Aber die Königin wollte nicht alle Menschen in die Ewige Dunkelheit schicken. Sie wollte vielmehr, dass die Menschen hier in Verlorenherz ihr Leid ertragen mussten, wie sie selbst – und das hatte gut geklappt, solange es noch Verlustig gegeben hatte. Die Menschen waren den ganzen Tag nur mehr in ihren Häusern herumgesessen und hatten um den Verlust ihrer Liebsten geweint.

Seit ihr Gemahl, der König von Weichlieb, sie verlassen hatte, sah die Königin ganz furchterregend aus: Ein Kleid hatte sie an, das wie ein Vogelgefieder aussah. Normalerweise war es rabenschwarz, aber wenn sich die Königin ärgerte, dann glänzte es grün oder blauviolett. In diesem Gefieder konnte sie fliegen und sie besaß eine Flügelspannweite von hundert Metern – wie ein riesengroßer, bedrohlicher Vogel sah sie dann aus. Statt Augen hatte sie schwarze Löcher und eine schwarze Gesichtshaut spannte sich über ihr mageres Gesicht mit garstigen Tränensäcken vom vielen Weinen und Fluchen. An ihrer Kehle wuchsen Federn, die deutlich abstanden, wenn sie ihre Untertanen anschrie. Ihre Lippen waren ganz schwarz angemalt und ihr Haar war ebenso schwarz – es stand ihr zu Berge und war schrecklich verfilzt. Eigentlich sah ihr Kopf wie ein schwarzer Skelettschädel aus, nur dass dieser scheinbare Totenkopf noch die schwarzen Lippen, die garstigen Tränensäcke und das verfilzte Haar besaß – so furchtbar sah sie aus, die Königin von Verlorenherz.

Nun hockte sie auf dem Thron ihres Thronsaals, in dem alles finster und trostlos gewesen wäre, wären nicht die Bilder gewesen, die an den schwarzen Wänden hingen und die von einem Künstler namens Vincent stammten. Die Königin war so traurig. Deswegen besaß sie nur Bilder, die traurig aussahen und welche die Königin schön fand, weil sie traurig, düster und unheimlich wirkten. In ihrem Thronsaal befand sich ihr Thron, der bloß ein schwarzer Holzstuhl war, nicht einmal erhöht, und daneben stand ein weiterer leerer Holzstuhl für ihren Gatten, der nicht mehr da war. Und irgendwo standen noch ihr schwarzer Zauberspiegel und eine kleine Kerze, die schwach flackerte, auf dem Boden herum. Sonst war der große Saal leer.

Als die Königin nun wieder durch den rabenschwarzen Zauberspiegel blickte, da sah sie am Bahnhof von Verlorenherz die unzähligen Menschen aus Verlustig zurückkehren, die jetzt alle aufgeregt nach Hause liefen. Sofort rannte sie los und stürzte sich aus dem einzigen klitzekleinen Fenster ihres dunklen Thronsaals – keine Ahnung, wie sie aus dem Mauseloch-Fenster gekommen ist! Sie spannte ihre riesigen Flügel aus und flog voller Wut zum Bahnhof von Verlorenherz.

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