Die Königin von Verlorenherz

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Kapitel 7

Mama hat nichts bemerkt, dachte Rafael, wie auch? Der Junge aus dem Wald ist ja nun wieder Til. Mama hat einfach Frühstück gemacht wie jeden Morgen, hat sich mit Til über Fußball unterhalten wie jeden Morgen und ist dann in die Stadtbibliothek gefahren wie jeden Morgen.

Und nun ging Rafael mit Til zur Schule – wie jeden Morgen: Sie gingen nebeneinander die Straße in Richtung Stadtzentrum hinunter und Til erzählte Rafael, der aber in Gedanken war, viel über Fußball. Zur Schule gingen sie wie immer ihren eigenen Weg: Vor der hölzernen, ebenen Bachbrücke, über die man in die Stadt gelangte, bogen sie in einen kleinen Waldweg ein, der stromabwärts am Bach entlang führte. Der Weg führte schließlich weg vom Wald; es folgten Felder, Streuobstwiesen und Bauernhöfe, bis man über eine weitere Brücke des Bachs musste, die in die Stadt zurückführte und auch zur Schule. Obwohl dieser Weg viel länger war, als wenn sie durchs Stadtzentrum zur Schule getrabt wären, gingen Rafael und Til ihn immer sehr gern, denn so konnten sie noch länger miteinander reden, bis sie bei der Schule waren.

An der Holzbrücke, wo die Brüder immer den Waldweg betraten, war ihr Vater mit dem Auto von der Straße in den Bach gestürzt – daran musste Rafael immer denken. Rafael war erst vier Jahre alt gewesen und wusste nicht mehr genau, was damals alles geschehen war. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er nicht zur Beerdigung seines Vaters gegangen war, sondern den ganzen Tag im Bett verbracht und sich gewünscht hatte, sein Vater würde bald nach Hause kommen wie sonst auch immer.

Nun trabten Rafael und Til nebeneinander auf dem erdigen Waldweg am Bach entlang, der hier breiter und tiefer war als an den anderen Stellen.

„Aber du bist gar nicht Til, richtig?“, fragte Rafael plötzlich, nachdem er eine Weile still gewesen war und Til einfach nur zugehört hatte. Obwohl dieser Junge sich genau so verhielt wie Til, hatte Rafael nun mit einem Mal nicht mehr das Gefühl, dass es sich wirklich um seinen Bruder handelte.

Der Junge sah Rafael an und fragte: „Willst du mich veräppeln, Rafael?“

Da sagte Rafael: „Til nennt mich doch immer Raffi! Warum nennst du mich heute ständig Rafael? Du tust nur so, als ob du Til wärst! Aber ich weiß, dass du es nicht bist! Du hast mich belogen! Du hast gesagt, du bringst mir meinen Bruder zurück, aber ich habe gesehen, wie du heute Nacht in seinem Bett geschlafen hast!“

Plötzlich bekam der Junge ganz dunkle Augen und auch sein Haar wurde immer dunkler. Wütend zog er die Augenbrauen zusammen, die nun finstere Schatten auf seine Augen warfen.

Rafael wurde nun erst recht wütend und brüllte den sonderbaren Jungen an: „Ich will sofort wissen, wo mein Bruder ist!“

In diesem Moment packte der Junge Rafael und drückte ihn ganz fest gegen den Stamm einer Eiche. Rafael konnte sich nicht befreien. Er fühlte sich schwach und dem Jungen hilflos ausgeliefert, er konnte seine Glieder gar nicht mehr bewegen – da bemerkte er mit einem Mal, dass der Junge ihm eine sonderbare Herzmuschel an sein Ohr hielt, die so schwarz war wie das schwarze Haar und die schwarzen Augen des Jungen aus dem Wald. Rafael konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren und er konnte auch an nichts mehr denken!

Der Junge verkleinerte seine dunklen Augen zu Schlitzen, kam ganz nahe an Rafael heran und flüsterte mit tiefer und wütender Stimme: „Du hast es dir so gewünscht! Du wolltest so sein wie dein Bruder! Jetzt gibt es nichts mehr, das du tun kannst, um den Zauber rückgängig zu machen – versuch es besser gar nicht!“

Rafael biss die Zähne zusammen, denn der Griff des Jungen um seine Schultern wurde immer stärker. Das tat Rafael weh und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien.

Der Junge aus dem Wald grinste und sein Gesicht war halb bedeckt von einem tiefen Schatten, der sich über Stirn und Augen legte. „Du hast mich in dein Leben eingelassen, Rafael – in dem Augenblick, als du mir erlaubt hast, in deine Welt einzugreifen – in diesem Augenblick hast du mir die Tür zu deiner Welt geöffnet! Sei froh, dass ich Til bin, dass ich noch Til bin, denn bald werde ich es nicht mehr sein und dann wird deine Mutter Til vergessen haben – ja, sogar du wirst Til vergessen haben! Und dann werde ich dein Bruder sein!“

Rafael schrie, denn der starke Griff des Jungen tat ihm jetzt sehr weh. Im nächsten Moment nahm der Schmerz sogar noch ruckartig zu. Er schrie noch lauter und durch die Muschel an seinem Ohr hörte er ein lautes, unerträgliches Rauschen, das ihn endlich ohnmächtig werden ließ …

Als Rafael wieder zu sich kam, lag er unter der Eiche am Bach. Er spürte keinen Schmerz mehr an seinen Schultern, als er aufwachte. Vor ihm kniete sein Bruder Til im Gras. Seine blaugrünen Augen blickten freundlich.

„Wir müssen nach Hause!“, sagte Til.

Rafael erinnerte sich an den schwarzhaarigen Jungen, der ihn gegen den Baum gedrückt hatte, bevor er ohnmächtig geworden war. „Wo ist der böse Junge?“, fragte er.

„Welcher Junge?“

„Bin ich ohnmächtig geworden? Du bist der Junge, richtig? Du bringst mir sofort meinen Bruder wieder!“

Til stand auf und begann, herzhaft zu lachen: „Du hast geträumt, Rafael!“

„Wie sollte ich geträumt haben? Hältst du mich für doof? Glaubst du, ich liege aus Spaß hier im Gras und bin nicht zur Schule gegangen? Es ist ja schon Mittagszeit!“ Rafael richtete sich auf und stand nun vor seinem Bruder Til am Bach.

Der schüttelte den Kopf und erzählte: „Du Dummerchen! Wir sind am Bach entlanggegangen und waren auf dem Schulweg. Da kam mir die Idee, die Schule zu schwänzen, weil heute eine schwierige Mathearbeit ansteht. Du wolltest auch nicht zur Schule. Also haben wir mit meinem Fußball gespielt, dann haben wir uns ins Gras gesetzt und du hast angefangen, in einem deiner dicken Abenteuerbücher zu lesen. Dann bist du eingeschlafen. Den Rest musst du wohl geträumt haben, Raffi!“

„Ich habe alles nur geträumt?“, fragte Rafael und konnte es selbst kaum glauben. Warum erinnerte er sich plötzlich nicht mehr daran, wie sie gemeinsam beschlossen hatten, die Schule zu schwänzen? Außerdem passte Schuleschwänzen gar nicht zu Til. Seit heute Morgen hatte Rafael nur noch an den Jungen aus dem Wald gedacht. Hatten ihn dieser Junge und dieser Albtraum, wenn es überhaupt einer gewesen war, so sehr mitgenommen, dass er darüber vergessen hatte, mit seinem Bruder die Schule geschwänzt zu haben?

„Ich gehe jetzt nach Hause“, sagte Til, packte seine Schultasche, die im Gras lag und lief los. „Du kannst ja nachkommen!“, rief er noch, während er hinter einigen Bäumen verschwand.

Aber Rafael lief ihm nicht nach. Er dachte: Selbst wenn ich geträumt habe, dann hat mein Traum doch erst am Morgen unter der Eiche begonnen, aber vorher ist etwas passiert, das mich glauben ließ, dass der Junge, der mit mir zur Schule ging, gar nicht Til ist. Was ist geschehen?

Rafael stellte fest, dass er plötzlich ganz vergessen hatte, was vor dem heutigen Morgen geschehen war. Er hatte vergessen, wie der Junge aus dem Wald ihm erschienen war und er hatte mit einem Male den Rollentausch mit seinem Bruder vergessen, Tils Verschwinden – einfach alles! Er erinnerte sich jetzt nur noch an den Kampf gegen den unheimlichen Jungen an der Eiche und daran, dass er aus irgendeinem Grund glaubte, dass sein Bruder nicht sein Bruder war …

Kapitel 8

Til dachte an ganz viele schöne Dinge und tanzte und tanzte, bis er mit seinem Freund Narr Silberspiegel plötzlich von dichtem Nebel umhüllt war. In diesem Augenblick fühlte er sich mit einem Mal sehr traurig und er konnte sich gar nicht erklären, warum.

„Sind wir jetzt etwa in Verlustig?“, fragte er seinen Freund, den Narren. „Warum ist hier alles so neblig? Ich sehe nichts! Gibt es keinen Ausweg aus diesem Nebel?“

Narr Silberspiegel schüttelte den Kopf. „Einen Ausweg gibt es nicht – das ist das Schwierige am Land Verlustig. Hier im Nebel musst du nach den Menschen suchen, die wegen der Königin verschwunden sind. Die Königin hat Verlustig nach dem Verlust ihres Mannes, des Königs von Weichlieb, gegründet. Hierhin sind alle Menschen verschwunden, die die Königin mit dem Zug nach Verlustig geschickt hat.“

„Und wie lässt sich der Nebel auflösen?“, fragte Til, als er plötzlich spürte, dass er in ein Loch trat. Er stolperte und f* el!

„Was war das?“, fragte er.

„Oh ne*n!“, r*ef N*rr S*lbersp*egel. „Du b*st *n e*n Buchstabenloch getreten!“

„Was he*ßt das?“, wollte T*l w*ssen und stellte plötzl*ch fest, dass *n *hrem Gespräch nun e*n Buchstabe fehlte.

„Du musst besser aufpassen!“, mahnte Narr S*lbersp*egel. „Es g*bt *n Verlust*g Buchstabenlöcher – das wollte *ch d*r gerade sagen! Wenn man da h*ne*ntr*tt, verl*ert man *mmer mehr Buchstaben be*m Sprechen und Erzählen, b*s man gar n*cht mehr sprechen kann. Du w*rst h*er n*emanden f*nden, der noch sprechen kann, we*l v*ele Menschen *hre Sprache verloren haben und man d*e Buchstabenlöcher gar n*cht sehen kann – pass also auf, wo du h*ntr*ttst! We*l d*e Menschen *n Verlust*g n*cht mehr sprechen können, werden s*e noch v*el traur*ger und dann können s*e erst recht ke*nen Plan entw*ckeln, um aus Verlust*g herauszukommen! S*e werden *mmer dümmer und e*nfallsloser!“

„Dann müssen w*r gut aufpassen!“, sagte T*l und bl*ckte auf den Boden, aber er konnte gar n*chts sehen, nur undurchdr*ngl*chen Nebel. Also g*ngen s*e be*de, T*l und N*rr S*lbersp*egel, ganz vors*cht*g durch den Nebel – Schr*tt für Schr*tt tasteten s*e s*ch nach vorn.

 

Sogar *ch, der Erzähler d* eses Romans, habe nun e*nen Buchstaben wen*ger zum Erzählen!

Der Nebel hörte n*cht auf, d*e S* cht zu trüben, und T*l und N*rr S*lbersp*egel fanden ke*nen e* nz*gen Menschen h* er.

„W*e können w*r d*e Menschen retten, d*e schon sprachlos s*nd?“, wollte T*l w*ssen.

„Zuerst müssen w*r s*e f*nden und dann müssen w*r *hnen das Alphabet w* eder be*br*ngen.“

„Ob w*r *n dem Nebel überhaupt jemanden f*nden?“, fragte s*ch T*l. *m nächsten Augenbl*ck stolperte er aber schon w*eder! „Verd*mmt!“, r*ef er. „Zum Teufel! W*r sollten stehen ble*ben. Schon w*eder b*n *ch *n e*n Buchst*benloch gef*llen!“

Nun fehlte *hnen e*n we*terer w*cht*ger Buchst*be und T*l und N*rr S*lbersp*egel mussten s* ch noch besser zuhören, um s* ch verstehen zu können. Und *ch, der Erzähler d*eses Rom*ns, h*be nun zwe* Buchst*ben wen*ger zum Erzählen!

N*rr S*lbersp*egel tr*t plötzl*ch *uf e*n Brot und *ls er s*ch näher umsch*ute, s*h er, d*ss er neben e*nem Brotberg st*nd. Sofort beg*ben s*ch T*l und N*rr S*lbersp*egel *uf den Brotberg, um n* cht *n noch mehr Buchst*benlöcher h*ne*nzustolpern.

„Ste*gen w*r höher!“, schlug N*rr S*lbersp*egel vor, doch obwohl T*l und N*rr S*lbersp*egel *mmer höher den Berg h*n*ufst*egen, konnten s*e n* cht mehr sehen *ls undurchdr*ngl*chen gr*uen Nebel. S*e konnten *uch n*cht sehen, w*e hoch der Brotberg e*gentlich w*r, denn *mmer noch höher st* eg er *n. D* setzten s* ch N*rr S*lbersp*egel und T*l nebene*n*nder *uf den Berg von Brot und wussten n* cht we* ter.

„W*rum g*bt es h*er e*nen Berg *us Brot?“, wollte T*l w*ssen. „Und w*e hoch *st der Berg e*gentl*ch?“

N*rr S*lbersp*egel erzählte T*l nun d*e Gesch*chte vom Brot, so gut er d*es ohne d*e zwe* fehlenden Buchst*ben konnte: *ls d*e Kön*g*n von Verlorenherz d*e ersten Menschen n*ch Verlust*g sch*ckte, w*r e*n Junge n*mens Spr*chlos d*be*. We*l er se*ne F*m*l*e verloren h*tte, spr*ch er ke*n e*nz*ges Wort mehr, so tr*ur*g w*r er. Und we*l er n*e mehr spr*ch, wollte er *uch n*cht, d*ss d*e Menschen *n se*ner Nähe spr*chen. So zog er durch den Nebel von Verlust*g und st*mpfte g*nz w*ld vor Zorn dre*ß*g Löcher *n den Nebelboden, für jeden Buchst*ben des *lph*bets e*n Loch: B C D E F G H J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z und noch d*e dre* Uml*ute Ä Ö Ü sow*e d*s sch*rfe ß und n*türl*ch noch d*e zwe*Buchst*ben, d*e w*r verloren h*ben. *rgendw*nn s*nd *lle Bewohner von Verlust*g *n d*e Buchst*benlöcher h*ne*ngetreten und wurden, we*l s*e n*cht mehr sprechen konnten, noch v*el tr*ur*ger. D* d*chte d*e Kön*g*n von Verlorenherz: „Jetzt s*nd s*e so dumm w*e Brot!“

T*tsächl*ch h*tten d*e Bewohner von Verlust*g nur noch e*nen Berg von Brot zum Essen und stopften s*ch derm*ßen voll d*m*t, d*ss s*e b*ld g*nz tr*ur*g und dumm wurden. Und b*ld d*r*uf h*t der Kön*g von Brot, der für d*e Kön*g*n über d*s L*nd Verlust*g herrscht, *lle Menschen *n d*e we*ßen K*stenbrote verw*ndelt, d*e h*er heruml*egen. W*r s*tzen h*er *lso *uf den Bewohnern des Re*ches Verlust*g und unsere *ufg*be besteht d*r*n, d*esen Broten w*eder lesen be*zubr*ngen! D*zu müssen w*r *uf den höchsten Punkt des Berges ste*gen, wo uns der Kön*g von Brot erw*rtet sow*e se*n Diener, der Junge Spr*chlos. W*r müssen be*de vom Berg h*n*b *n d*e T*efe stoßen und d*nn zehnm*l d*s *lph*bet sprechen, bevor d*e be*den w*eder den Berg erkl*mmen – so h*t es m*r me*n Sp*egel nun ges*gt.

Und ohne d*e H*lfe des Sp*egels, der *lles vollständ*g *nze*gte, w*s N*rr S*lbersp*egel spr*ch, hätte T*l *uch überh*upt n*chts verst*nden. *ber zum Glück h*elt N*rr S*lbersp*egel *hn vor s* ch und T*l l*s d*r*n: Als die Königin von Verlorenherz die ersten Menschen nach Verlustig schickte, war ein Junge namens Sprachlos dabei. Weil er seine Familie verloren hatte, sprach er kein einziges Wort mehr, so traurig war er. Und weil er nie mehr sprach, wollte er auch nicht, dass die Menschen in seiner Nähe sprachen. So zog er durch den Nebel von Verlustig und stampfte ganz wild vor Zorn dreißig Löcher in den Nebelboden, für jeden Buchstaben des Alphabets ein Loch: B C D E F G H J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z und noch die drei Umlaute Ä Ö Ü sowie das scharfe ß und natürlich noch die zwei Buchstaben, die wir verloren haben: A und I. Irgendwann sind alle Bewohner von Verlustig in die Buchstabenlöcher hineingetreten und wurden, weil sie nicht mehr sprechen konnten, noch viel trauriger. Da dachte die Königin von Verlorenherz: „Jetzt sind sie so dumm wie Brot!“

Tatsächlich hatten die Bewohner von Verlustig nur noch einen Berg von Brot zum Essen und stopften sich dermaßen voll damit, dass sie bald ganz traurig und dumm wurden. Und bald darauf hat der König von Brot, der für die Königin über das Land herrscht, alle Menschen in die weißen Kastenbrote verwandelt, die hier herumliegen. Wir sitzen hier also auf den Bewohnern des Reiches Verlustig und unsere Aufgabe besteht darin, diesen Broten wieder lesen beizubringen! Dazu müssen wir auf den höchsten Punkt des Berges steigen, wo uns der König von Brot erwartet sowie sein Diener, der Junge Sprachlos. Wir müssen beide vom Berg hinab in die Tiefe stoßen und dann zehnmal das Alphabet sprechen, bevor die beiden wieder den Berg erklimmen – so hat es mir mein Spiegel nun gesagt.

Kapitel 9

Als Rafael nach Hause kam, saß sein Bruder bereits am Mittagstisch.

„Du bist heute mal wieder später dran, Rafael!“, sagte seine Mama. Rafael fiel auf, dass sie an beiden Händen einen Ring trug: ihren eigenen Ring und den von Papa.

Sie ging zum Herd und schöpfte Gemüsesuppe aus dem Topf. Etwas gereizt sagte sie dabei: „Dein Bruder ist schon seit zehn Minuten hier, wir haben noch etwas auf dich gewartet. Du hast wohl auf dem Heimweg wieder getrödelt!“

Das sagte Mama, weil Rafael nach der Schule oft mit Freunden über Bücher oder Filme sprach und darüber leicht die Zeit vergaß, während sein Bruder immer gleich nach Hause ging. Der brave Til blieb eben der brave Til! Rafael ärgerte das. Er blickte seinen Bruder an, der ihm gegenübersaß. Als Til von seiner Suppe aufblickte, bemerkte Rafael, dass seine Augen gar nicht mehr blaugrün waren wie sonst: Sie waren schwarz wie tiefe Löcher!

Der fremdartige Til flüsterte ihm zu: „Ich bin nicht dein Bruder Til, aber dafür bin ich dein neuer Bruder und es wird Zeit, dass du das einsiehst, wenn du nicht willst, dass ich dich auch verschwinden lasse!“

Was ist denn hier los?, fragte sich Rafael erschrocken. Warum ist Til verschwunden?

„Iss nun endlich deine Suppe, Rafael!“, forderte seine Mutter ihn auf, nachdem sie ihm seinen Teller hingestellt und sich wieder zu den beiden an den Tisch gesetzt hatte. Das Flüstern des Jungen schien sie nicht bemerkt zu haben.

„Mama, schau dir doch mal Tils Augen an“, sagte Rafael, „sie sind ganz schwarz!“

Die Mutter, die ihre Suppe bereits gegessen hatte, blickte Rafael verdutzt über ihren leeren Teller hinweg an und schaute dann zum falschen Til, der sie mit seinen schwarzen Augen anlächelte.

„Dieses Lächeln hast du von deinem Papa“, sagte die Mutter verträumt und im selben Moment fiel Rafael auf, dass Papas Ring an ihrem Finger ganz schwarz geworden war. Dann wandte sie sich wieder an Rafael: „Was redest du für einen Unsinn?“

Kapitel 10

T*l und N*rr S*lbersp*egel br*uchten dre* Stunden, um endl*ch den G*pfel des Brotbergs zu erkl*mmen. Dort s*ß *ber g*r n*cht der Kön*g von Brot, denn der w*r ger*de *rgendwo *n Verlust*g unterwegs, um neue spr*chlose Bewohner des Re*ches *n we*ße K*stenbrote zu verw*ndeln.

*uf dem G*pfel s*ß desh*lb nur der kle*ne D*ener des Kön*gs von Brot, der Junge Spr*chlos, *n e*nem gedeckten T*sch be*m Essen. *uf dem T*sch türmten s*ch H*mburger und Cheeseburger b*s *n den nebl*gen H*mmel h*n*uf. Neben den be*den Türmen von H*mburgern und Cheeseburgern st*nd e*ne große Schüssel Pommes. D*e Schüssel füllte s*ch *mmer w*eder *uf, eg*l, w*e v*ele Pommes der Junge *n s*ch h*ne*nstopfte – so wurde *hr *nh*lt n*e wen*ger. Noch selts*mer *ber w*r d*s *ussehen des Jungen: Se*n Kopf w*r e*n Cheeseburger m*t Ketchup und M*yonn**se und S*l*t und Zw*ebel d*r*n, d*e *ugen w*ren zwe* g*nz große *n*n*s-Sche*ben – *n*n*s *st übr*gens d*e süße, gelbe und ov*le Frucht *us *mer*k*. Er h*tte e*nen r*es*gen Ketchupmund und e*ne große unre*fe Tom*te *ls N*se. Der Rumpf des Jungen Spr*chlos w*r e*ne große, ekl*ge und schrumpl*ge Gurke. Und se*ne *rme und Be*ne w*ren Pommes Fr*tes.

*ls der Junge n*mens Spr*chlos T*l und N*rr S*lbersp*egel s*h, st*nd er *uf und wollte d*e be*den sofort vom Berg *n d*e T*efe werfen: Er ergr*ff zuerst T*l, dem es *ber gel*ng, dem Jungen *n se*ne *n*n*s-*ugen zu be*ßen, sod*ss Spr*chlos nun n*chts mehr sehen konnte. Jetzt w*r es für T*l n*cht mehr schw*er*g, den esssücht*gen Jungen vom Berg h*nunterzustürzen, doch d*s besorgte der Junge schon selbst, denn er t*ppte, bl*nd, w*e er nun w*r, unglückl*ch *n d*e T*efe und schr*e entsetzl*ch, *ls er f* el!

N*chdem d*e be* den s*ch von ihrem Schreck erholt h*tten, beg*nn N*rr S*lbersp*egel w*eder, zu erzählen: D*s w*r der D*ener Spr*chlos, der h*t d*e Buchst*benlöcher gem*cht. Und *ußerdem h*t er nur noch gegessen, T*g und N*cht, *mmer H*mburger und Cheeseburger und Pommes. D*e Menschen, d*e *n Verlust*g m*t ke*nem mehr reden können, bestehen b*ld nur noch *us dem Essen, d*s s*e zu s*ch nehmen. D*e me*sten werden zu Broten, we*l s*e sonst n*chts zu essen h*ben, denn d*s F*stfood *uf dem Bergg*pfel gehört nur dem Kön*g von Brot und se*nem D*ener. D*e be*den bew*chen Verlust*g *m *uftr*g der Kön*g*n von Verlorenherz und we*l der Junge Spr*chlos Buchst*benlöcher gem*cht h*t, d*rf er s*ch w*e e*n Mensch we*terbewegen, obwohl er *uss*eht w*e e*n Cheeseburger *uf Be*nen, oder? D*e verw*ndelten K*stenbrote *ber dürfen s*ch n*cht mehr bewegen …

Und der Z*ubersp*egel übersetzte für T*l, w*s N*rr S*lbersp*egel erzählt h*tte: Das war der Diener Sprachlos, der hat die Buchstabenlöcher gemacht. Und außerdem hat er nur noch gegessen, Tag und Nacht, immer Hamburger und Cheeseburger und Pommes. Die Menschen, die in Verlustig mit keinem mehr reden können, bestehen bald nur noch aus dem Essen, das sie zu sich nehmen. Die meisten werden zu Broten, weil sie sonst nichts zu essen haben, denn das Fastfood auf dem Berggipfel gehört nur dem König von Brot und seinem Diener. Die beiden bewachen Verlustig im Auftrag der Königin von Verlorenherz und weil der Junge Sprachlos Buchstabenlöcher gemacht hat, darf er sich wie ein Mensch weiterbewegen, obwohl er aussieht wie ein Cheeseburger auf Beinen, oder? Die verwandelten Kastenbrote aber dürfen sich nicht mehr bewegen …

N*rr S*lbersp*egel redete noch we*ter: „Jetzt müssen w*r zehnm*l d*s *lph*bet *ufs*gen, d*nn lernen d*e K*stenbrote w*eder *hre Spr* che und verw*ndeln s* ch zurück! Schnell, bevor der Kön*g von Brot von se*nem *usflug durch Verlust*g zurückkommt!“

Und der Z*ubersp*egel übersetzte w*eder für T*l, w*s N*rr S*lbersp*egel s*gte: Jetzt müssen wir zehnmal das Alphabet aufsagen, dann lernen die Kastenbrote wieder ihre Sprache und verwandeln sich zurück! Schnell, bevor der König von Brot von seinem Ausflug durch Verlustig zurückkommt!

„H*st du n*cht etw*s W* cht*ges vergessen, N*rr S*lbersp*egel?“, fr*gte T*l se*nen Freund.

„W*s denn?“, wollte N*rr S*lbersp*egel w*ssen.

„W*r können g*r n*cht d*s g*nze *lph*bet sprechen. Es fehlen uns doch zwe* Buchst*ben!“

N*rr S*lbersp*egel erschr*k. „Ne*n!“, rief er, „d*ss *ch so etw*s W* cht*ges vergessen konnte!“

R*tlos sch*uten d*e be*den Freunde s*ch an. Plötzl*ch *ber s*hen s*e be*de e*n Mädchen *uf s*ch zu kommen. D*s Mädchen h*tte g*nz rotes H**r, d*s *hm b*s zu den Füßen re*chte und *hre *ugen h*tten d*e unbest*mmte F*rbe von W*sser. Es trug e*n Sommerkle*d m*t *llen Bl*utönen der Welt d*r*uf. Es w*r g*nz *lle*ne n* ch Verlust*g gesch* ckt worden und h* tte se*ne Mutter zurückl*ssen müssen. Nun we*nte und schluchzte es vor Freude, d*ss es *ndere Menschen tr*f: „I** *i* ***i*a, ***a*** ****i*!“

Und der Z*ubersp*egel übersetzte für N*rr S*lbersp*egel und T*l: Ich bin Regina, genannt Reggie!

N*rr S*lbersp*egel me*nte: „Du b*st s*cher schon *n z*hlre*che Buchst*benlöcher h*ne*ngetreten. W*e he* ßt du gle*ch noch?“

D*s Mädchen schluchzte: „***i*a!“

Der Z*ubersp*egel übersetzte: Regina!

D*s Mädchen schluchzte w*eder: „***i*a!“

Nun musste T*l l*chen. „S*e *st e*n Esel!“, r*ef er.

 

D*s Mädchen bl*ckte verärgert und se*ne schönen *ugen verdunkelten s*ch. E*ne Träne r*nn über se*ne W*nge und T*l hörte *uf zu*l*chen, we*l *hm d*s Mädchen nun le*d t*t. Und *m nächsten Moment f*el *hm plötzl*ch d*e Lösung e*n: „D*s Mädchen *st unsere Rettung!“, jubelte er. „Es h*t wohl v*ele Buchst*ben verloren – *ber n*cht d*e be*den, d*e uns fehlen!“

N*rr S*lbersp*egel lächelte und h* elt dem Mädchen sofort den Z*ubersp*egel entgegen, der *hm s*gte, w*s nun zu tun w*r. D*s Mädchen verst*nd sofort, dass es glückl*cherwe*se noch gen*u d*e zwe* fehlenden Buchst*ben h* tte, d*e T*l und N*rr S*lberspegel br*uchten – und d*s w*ren d*e L*ute e*nes Esels.

Und nun wollten s*e *lle schnell d*s *lph*bet *uf dem G*pfel des Brotbergs *ufs*gen, bevor der Kön*g von Brot zurückkehrte!