Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe)

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–Reflexive Distanz zum eigenen Verhalten zu schaffen war für Brecht ein wichtiges Anliegen. In diesem Sinne ist auch der Verfremdungseffekt zu sehen: Distanz schaffen zur theatralen Situation mittels Heraustreten aus der Rolle, sich direkt an das Publikum wenden, Elemente der Erklärung (Aufklärung), sprechchorische Einlagen, Songs, die die Handlung kommentieren können, Abstraktion des Geschehens durch Überzeichnung.

Sowohl mit seinen theaterpädagogischen Überlegungen als auch mit Lehrstücken und dem ‹epischen Theater› hat Brecht mit seinem analytischen Ansatz zu einer differenzierteren Wahrnehmung von Spielprozessen und zum Weg aus einer diffusen Gefühligkeit zu durchschaubaren und nachvollziehbaren Handlungsabläufen beigetragen: Das Verhalten – nicht nur auf der Bühne – verändert den Prozess und dadurch die Handlung und deren Ausgang.

Jerzy Grotowski

In gewissem Sinne dem brechtschen Ansatz gänzlich entgegensetzt ist jener von Grotowski. Grotowski, 1933 in Polen geboren, übernahm nach Abschluss seiner Schauspielausbildung in Krakau 1959 das Theater ‹13 Reihen› und baute es in den folgenden Jahren zu seinem Theaterlaboratorium für experimentelles Theater aus. 1965 wird die Bühne unter dem Namen ‹Laboratorium der 13 Reihen› nach Wroclaw/Breslau verlegt.

Bis zu seinem Tod 1999 war Grotowski auf der ganzen Welt unterwegs und arbeitete in Workshops und Inszenierungen mit Schauspielern in seiner eigenen Weise. Grotowskis ‹armes Theater› wurde dabei insbesondere auch für in den 70ern und 80ern entstehende Freie Gruppen zum grossen Vorbild.

Grotowskis Definition des Theaters reduzierte das Bühnengeschehen auf das, was sich zwischen Schauspieler und Zuschauer abspielte. Alles andere seien Zusätze, die nicht unbedingt erforderlich seien. Unter Zusätzen verstand er Bühnenbild, Kostüme, Maske, Text, Licht, Musik (Ehlert (1986), S. 30). Er plädierte für ein Theater, in dem nur Schauspieler – in ihrer Strassenkleidung – und die Zuschauer da waren, für ein ‹asketisches Theater› also.

Auch in der Arbeitsweise mit seinen Schauspielern und Schauspielschülern war Grotowskis Ansatz radikal: Im Zentrum der Arbeit standen Stimm- und Sprecharbeit, Körpertraining und die Improvisation als Training der Fantasie und des Denkens. Grotowski suchte eine innere Leere, in der etwas Neues, Eigenes, Eigenständiges entstehen konnte. Am wichtigsten war ihm aber die Beziehung zu den einzelnen Spielenden und zur Gruppe. Es sollte die Individualität jedes Einzelnen hervorgehoben und diese zu seinem urtümlichen Werkzeug werden. Der Spieler sollte sich nicht hinter Tricks und Maskerade verstecken, vielmehr sollte es um ein sich Öffnen gehen, um das Zulassen von Emotion. «Der Spieler soll in einem [gleichzeitig] Schöpfer, Modell und Schöpfung sein» (Grotowski (1970), S. 239) und einen seelischen Vorgang nicht illustrieren, sondern ihn mit seinem Körper und seinem Wesen vollziehen: «Er muss sich hingeben, nicht zurückhalten, sich öffnen, sich nicht vor den andern verschliessen.» (Grotowski (1970), S. 123)

Wichtig war also, dass sich der Schauspieler nicht einen Zaubersack voller Tricks aneignete, sondern offen war für ein «inneres Reifen» (vgl. Grotowski (1970), S. 14). Grotowskis Arbeitsweise, die in den 1980er-Jahren Kult war, näherte sich im Laufe der Zeit auch therapeutischen Formen von Selbst- und Körpererfahrung an.

Auch die Beziehung zwischen Regisseur und Spieler sollte gezeichnet sein von gegenseitiger Offenheit, und zwar als Wechselbeziehung, von der beide Seiten profitieren, voneinander lernen und sich inspirieren lassen sollten, mit der Achtung vor der Autonomie des andern.

Grotowskis ‹Vermächtnis› für die Theaterpädagogik liegt vor allem im Verständnis, dass sich der Spieler/die Spielerin ganzheitlich, also mit Körper, Seele und Geist in das Spiel einbringt, um dadurch den Prozess des Theatermachens in Gang zu setzen. Weiter gab er auch der Spielleitung bzw. der Beziehung und der Interaktion zwischen Regie und Spieler ein neues Gewicht und eine entscheidendere, prägendere Bedeutung.

Die Impulse, die von Grotowski ausgingen, prägten auch Theaterschaffende wie Augusto Boal oder Peter Brook und viele andere Regisseure des zeitgenössischen Theaters, wenngleich seine Methoden heute nicht mehr in der ursprünglichen Radikalität eingefordert werden. «Die Substanz des Mediums Theater ist der Schauspieler, seine Aktionen und was er durch sie bewirken kann.» (Grotowski (1966), o.S., zit. nach Ehlert (1986), S. 31)



Augusto Boal

Augusto Boal wurde 1931 in Rio de Janeiro geboren. Nach Studien der Chemie und Theaterwissenschaft gründete der erst 25-Jährige ein eigenes Theater in Brasilien. Es war die Zeit der politischen Liberalisierung und vieler staatlicher und kirchlicher Alphabetisierungsprogramme.

Die zugleich als Politisierung verstandene Alphabetisierung stützte sich vor allem auf Ansätze des Pädagogen Paulo Freire: «Lernen ist nicht das Fressen fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem und die Lösung dieses Problems in Reflexion und Aktion.» (Zit. nach Ehlert (1986), S. 34). Lernen wird also nicht als Eintrichtern, sondern als Problematisieren verstanden.

Boals ‹Teatro de Arena› arbeitete eng mit Alphabetisierungsgruppen zusammen, versuchte mit Stücken, die die Lage der Landbevölkerung thematisierten, Aufklärung zu betreiben und durch die Konfrontation der Bevölkerung mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Lage Fortschritt zu bewirken.

Bis zur politischen Trendwende 1964 multiplizierte sich Boals Idee: viele Gruppen waren in ganz Brasilien unterwegs. Theater sollten nicht Vergnügungstempel sein, sondern Orte der Reflexion und des Lernens, ganz im Sinne Brechts.

Die Zensur verbot in der Folge der politischen Umwälzungen nach den Jahren der ‹Kubaisierung› Boals bisherige Theaterarbeit; erlaubt waren nurmehr Klassikerinszenierungen ohne jeglichen politischen Gehalt. Boal suchte als Reaktion nach Formen der Vereinfachung von Bühnenbild und Kostümen, nach Möglichkeiten, ohne grossen Aufwand Spiele irgendwo zu etablieren und Fragen aufzugreifen. Er suchte nach Formen hoher aktiver Beteiligung des Publikums, das den Fortgang der Handlung mitbestimmen und in das Geschehen aktiv eingreifen konnte.

1971 wurde Boal von der brasilianischen Geheimpolizei verhaftet und verschleppt und erst auf internationalen Druck hin wieder frei gelassen. Boal verliess darauf das Land und lebte bis 1986 im Exil, zuerst in Argentinien, später in Portugal und schliesslich in Paris, wo er an der Sorbonne einen eigenen Lehrstuhl erhielt. 2009 starb er in Rio de Janeiro.

Boals ‹Theater der Unterdrückten› wie auch die später entwickelten Formen – vom ‹unsichtbaren Theater› oder ‹Statuentheater› bis hin zum ‹Forumtheater› – sind Antworten auf die repressive Politik in Lateinamerika. Boal wollte Bauern und Arbeiter aufklären, verändern und in ihren Autonomiebestrebungen unterstützen.

Die von Boal entwickelten Arbeitstechniken sind theaterpädagogisch relevant: Oft wird über das Bauen von Statuen gearbeitet; das ‹Freeze› – das Einfrieren und das Stellen von Gruppenbildern – zählt zu den häufigen Arbeitsformen und Techniken, um Wahrnehmung zu schulen, und zwar sowohl die Selbstwahrnehmung über Körperhaltungen als auch die Ausseninterpretation von Wirkungen und Situationen.

Insbesondere im Jugendtheaterbereich ist Forumtheater auch heute noch eine gängige Form: Eine Szene wird dem Publikum in einer ersten Variante vorgespielt; in der Regel endet sie in der grösstmöglichen Katastrophe. Nun lässt der Spielleiter die Szene wiederholen und fordert das Publikum auf, die Szene dort zu unterbrechen, wo eine Veränderung des Verhaltens des (bzw. eines) Protagonisten gewünscht wird. Der Zuschauer/die Zuschauerin klatscht an dieser Stelle und beeinflusst über Verhaltensbeschreibungen via Spielleiter den weiteren Verlauf der Szene. Mit der Zeit sollen die Zuschauenden auch selber die Rollen auf der Bühne übernehmen und so agieren, wie sie es sich vorstellen. Immer wieder kann so über Verhaltensveränderungen der Figuren der Verlauf, die Entwicklung einer Szene variiert und in ihrer Auswirkung überprüft werden. Forumtheater ist dabei nicht nur für die Zuschauenden eine gute Möglichkeit der Wahrnehmung und der ‹Regieführung›, sondern auch eine gute Übung für die Spielenden, Anweisungen spontan und präzise im Spiel umzusetzen.

Theaterpädagogisch relevant ist Boals Ansatz aber nicht nur hinsichtlich der relativ strikten Spielformen, sondern auch des gemeinsamen Entwickelns einer Handlung, der Überprüfung dieses Handlungsverlaufs im steten Dialog, in der Diskussion der möglichen Konsequenzen. Boals Haltung ist also auch eine pädagogische, demokratische und gemeinschaftsbildende Arbeitsweise.

Lee Strasberg

1901 in den USA geboren absolvierte Strasberg seine Schauspielausbildung am American Laboratory Theatre. Bis 1937 war er Coleiter und Mitglied des Group Theatre, dann zog er nach Hollywood. Ab 1951 war er Leiter des Actor›s Studio in New York. Später gründete er weitere Ausbildungsstätten in Los Angeles. Strasberg starb 1982.

Strasberg und sein Actors Studio waren für ganze Generationen von amerikanischen (Film-)Schauspielerinnen und Schauspielern prägend. Seine berühmte Methode – ‹The Method› – wurde zur Grundlage etlicher Schauspielschulen weltweit. Strasberg berief sich in seinem Ansatz stark auf Stanislawski: Die Gefühlswelt der Figur sollte sich eng mit dem Schauspieler verbinden. Mithilfe der Aktivierung des affektiven Gedächtnisses und ausgehend von persönlich Erlebtem entsteht Echtheit der Gefühle. Der Schauspieler nähert sich also über eigene Grundempfindungen, über Erlebtes und Erfahrenes einer Figur und füllt diese mit sich selber aus: Der Spieler ist nicht die Figur, aber er füllt sie mit sich. So gelingt ihm auch die notwendige innere Distanz zum Handeln der Figur und er behält die Distanz zur Reflexion seines Tuns.

 

Keith Johnstone

Mit seinen Improvisationstechniken und insbesondere auch mit seiner Arbeit mit Jugendlichen hat Johnstone viele Theaterpädagogen geprägt. Johnstone wurde 1933 geboren, war Theaterautor und Schauspiellehrer und von 1956 – 66 Leiter der Autorenwerkstatt am Royal Court Theater und damit Förderer vieler grosser Autoren wie Edward Bond oder Arnold Wesker. In späteren Jahren lehrte er an etlichen Schauspielschulen Europas, bevor er einen Lehrstuhl in Calgary, Kanada, übernahm.

Johnstone entwickelte neue Improvisationsformen wie ‹Theatersport› und machte sich stark für ein Theater, das die Kluft zwischen Bühne und Zuschauer überwinden sollte. Er kämpfte für eine Öffnung der Theater nach aussen, für grösseren Gesellschaftsbezug und eine stärkere Verknüpfung von Existenzfragen mit dem Schauspiel und damit für einen höheren Gegenwartsbezug und grösseres Realitätsbewusstsein. Vor allem ging es ihm auch um Spontaneität und das Zulassen der Fantasie: «Viele Schüler blockieren ihre Phantasie, weil sie Angst haben, nicht originell zu sein. Sie glauben genau zu wissen, was Originalität ist […].» (Johnstone (2000), S. 148) Dies ist der Kern von Johnstones Lehre: «Schalte den verneinenden Intellekt aus, und heisse das Unbewusste als Freund willkommen. Es wird dich an Orte führen, die du dir nicht hast träumen lassen und es wird Dinge hervorbringen, die origineller sind als alles, was du erreichen könntest, wenn du Originalität anstrebst.» (Wardle (2000) Johnstones Improvisationsbezug ging zudem stark vom ‹Spielmaterial› aus, das jeder Mensch mit sich trägt und einbringen kann: Eigene Geschichten und Erlebnisse, Alltägliches, Begegnungen aus dem Hier und Jetzt. Man soll also nicht weit hergeholte Figuren zu spielen suchen, sondern bleibe mit den Themen und Figuren nahe der eigenen Welt. Der Alltag ist voll von spannenden Geschichten und Begegnungen.

1.6 DRAMA IN EDUCATION ODER: VOM ENGLISCHEN SELBSTVERSTÄNDNIS

Neben den genannten Lehrmeistern, die vor allem schauspielerische Vorgänge untersuchten und dadurch viel für das Verständnis von Spielprozessen beitrugen, entwickelten sich auch neue Arbeitsfelder, in denen professionelle Theaterleute mit Kindern und Jugendlichen im schulischen oder ausserschulischen Bereich arbeiteten. Eine Vorreiterrolle übernahm England, wo sich bereits in den 1950er-Jahren das ‹Drama in Education› als methodisches Prinzip entwickelte und sich über Skandinavien und die Niederlande auch im deutschsprachigen Raum etablierte. ‹Drama in education› hat – im Gegensatz zu ‹drama education› – nichts mit der klassischen dramatischen Literatur und deren szenischer Umsetzung zu tun. Mit ‹Drama in Education› wird vielmehr ein Arbeitsprinzip umschrieben, das mittels eigenen Theaterspiels soziale Realitäten untersuchen, hinterfragen und über Spielprozesse auch beeinflussen will. Ursprünglich arbeiteten Theaterpädagogen – drama teacher – mit Schülerinnen und Schülern einer Klasse im Rahmen von ‹als-ob› -Situationen an der Bewusstwerdung der sozialen und gesellschaftlichen Rollen. Später weitete sich der Begriff aus; er umfasst heute interaktives Spiel auf allen Ebenen von Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung. Das Ziel ist aber immer noch der subjektive Erkenntnisgewinn. Es geht um Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Im Mittelpunkt steht das interaktive Spiel der Teilnehmenden an sich und nicht die Entwicklung einer Theateraufführung. In den vergangenen Jahren haben dabei auch immer breiter gefasste Themen Einzug gehalten, sodass unter dem Begriff nun die gesamte Theatralisierung von Lehr- und Lernprozessen subsummiert werden kann. ‹Drama in education› kann also in unterschiedlichen Fächern als Methode zum Einsatz kommen. Ziel ist aber stets die Bewusstwerdung und Reflexion von (Rollen-)Verhalten in bestimmten Situationen oder hinsichtlich bestimmter gesellschaftlicher Haltungen. Es geht um die Wahrnehmung zwischenmenschlichen Verhaltens und eventuell daraus folgende Verhaltensänderungen. Dabei beschäftigen sich die Teilnehmenden «[…] nicht nur mit dem Inhalt des Geschehens, sondern insbesondere mit körperlichen, gestischen und mimischen Interaktionen und dem emotionalen Verhalten in diesen Situationen. Somit werden Wahrnehmungen und Erfahrungen der beteiligten Subjekte nicht ignoriert, sondern bewusst aktiviert und konkret in den Erkenntnisprozess einbezogen. Über diesen Weg kann gelernt werden, den eigenen Standpunkt zu vertreten oder zu modifizieren und zu verstehen, wie ein soziales Miteinander aussehen und verbessert werden kann.» (Göhmann (2003), S. 81)

Die Problematik von ‹Drama in Education› liegt vermutlich darin, dass allzu deutliche Hinweise auf wünschenswerte Verhaltensänderungen Einzelner oder ganzer Gruppen auch zu Verweigerung und einer ‹jetzt-erst-recht› -Haltung führen und dadurch kontraproduktiv wirken können.

Neben ‹Drama in Education› existieren im englischsprachigen Raum auch noch die Begriffe ‹Theatre education›, was in etwa dem deutschsprachigen ‹Theaterpädagogik› entspricht und als Oberbegriff verstanden werden kann, sowie ‹Theatre in education›, womit Theateraufführungen von Profis im Schulhaus oder Klassenzimmer gemeint sind.

1.7 LAIENSPIEL UND SCHULSPIEL

Als für ein heutiges Verständnis wichtige Quelle der Theaterpädagogik lassen sich auch die Geschichte des Schulspiels und – ausserschulisch und mit dem Laienspiel verbunden – das religiöse Spiel als wesentliche Faktoren für die Entwicklung nennen: Kirchliche Feiern waren und sind oft verbunden mit Schauspielen und ritualisierten Formen von Aufführungen; angefangen bei (Oster-)Prozessionen über ‹Tableaux vivants› und weihnächtliche Stationenspiele bis hin zu Krippenspielen oder der Darstellung religiöser Zusammenhänge und Geschehnisse. Die theatrale Tradition im religiösen Kontext ist lang und oft ein erster Berührungspunkt von Kindern und Jugendlichen mit dem Medium Spiel.

Parallel dazu entwickelte sich seit dem Mittelalter auch ein Schulspiel mit öffentlichen Aufführungen und oft grossen Besetzungen: für Jubiläen und Feiern zeigte die Schule als Gemeinschaftsarbeit Sing- und Festspiele. Bereits 1925 wurden erste Forderungen nach curricularer Verankerung des Darstellenden Spiels als Fach ‹Schulbühne› laut. (Hesse (2008), S. 39)

Das Thema blieb im Gespräch, insbesondere auch im Rahmen der Reformbewegung und der Kunsterziehung. Einen Streitpunkt stellte dabei oft die Diskussion der Frage dar, ob ein eigentliches Fach geschaffen oder das Medium ‹Spiel› in den Kontext der umliegenden Fächer eingebunden werden sollte.

Immer wieder spielte Theater in den schulischen Alltag hinein, blieb aber letztlich doch Spezifikum, Sonderfall und Ausnahme: Theater für besondere Anlässe also, obwohl schon früh unbestritten war, dass gerade das theatrale Spiel zu den menschlichen Urbedürfnissen gehört und auch sein sozialer und kommunikativer Wert nie infrage gestellt wurde.

Dies änderte sich auch in den 1950er-Jahren nicht, als erneut Bestrebungen im Rahmen der musischen Erziehung aufkamen und ein Fach ‹Schulspiel› auch als Chance der ‹Gesittung› und Rückbesinnung zu den alten Grundwerten gefordert wurde. Diese weit gefasste Auslegung des Musischen schloss aus, dass Theater in der Schule bloss ein Fach sein konnte. Theater war Erziehungsprinzip. (Hesse (2008), S. 41)


Grundsätzlich drehte sich die Diskussion immer wieder um die Frage, ob Kunst und künstlerischer Ausdruck instrumentalisiert werden dürften, ob also Theater als Erziehungsmittel, zur Vermittlung von ‹Gesittung› und Werten benutzt (bzw. missbraucht) werden dürfe. Die Diskussion, ob Theaterpädagogik sozialen, pädagogischen und/oder ästhetischen Zielen dienen solle, ist auch heute noch nicht abgeschlossen.

Zur weiteren Vertiefung in das Thema der historischen Entwicklung des Schultheaters sei auf die – mehrheitlich auf Deutschland bezogene – Publikation ‹Zukunft Schultheater – Das Fach Theater in der Bildungsdebatte› (Jurke & Reiss (Hrsg.) (2008)) verwiesen.

Pädagogische Bedeutung

Aktives Theaterspielen hat aus fünf Gründen fundamentale pädagogische Bedeutung:

–Erstens eröffnet das Spiel mit den Fiktionen und den Möglichkeiten auf inszenatorischer, performativer und semiotischer Ebene höchst komplexe Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten, die nur im Theater und in keiner anderen Kunstform (und schon gar nicht in den Wissenschaften) gewonnen werden können.

–Zweitens eröffnet dieses Spiel auf einer Meta-Ebene Erfahrungen mit dem Bildungsprozess selbst, also die Erfahrung der Möglichkeit von Bildung als Bildung, und das heisst zugleich: der Möglichkeit der Gestaltung von Ich und Welt in ihrer gerade nicht kalkulierbaren, kontingenten und genau dadurch bildenden Wechselwirkung.

–Drittens integriert Theater als «unreine» Kunstform Sprache, Musik, bildende Kunst, Video, Medien, Sport, Tanz etc. Die damit verbundene inhaltliche und kulturelle Komplexität und genuine Interdisziplinarität bietet kein anderes Schulfach.

–Viertens erfordert die Kunstform Theater für ihr Gelingen eine strikte Aufgabenorientierung und damit eine Fülle unterschiedlichster Fähigkeiten und Fertigkeiten, die hier gleichsam nebenbei erworben werden und erworben werden müssen.

–Fünftens eröffnet die Kunstform Theater Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Spiel als einer anthropologisch und kulturell fundamentalen Dimension menschlicher Existenz. Damit kommt ihm zentrale Bedeutung für die Bildung insgesamt zu.

(Liebau (2008), S. 22)


1.8 TRENDS

Parallel zur Entwicklung und Veränderung pädagogischer Ansätze veränderte sich auch das Schulspiel. Während es bis in die 1950er-Jahre meist ein Vorzeigetheater war, nicht selten auch verbunden mit erzieherischen Absichten hinsichtlich Teamgeist und Konzentration, Sprachfertigkeit und Körperkontrolle, bis hin zur Verbindung auch mit Wertevermittlung und gesellschaftlichen Vorstellungen, sprengten auch da die 68er-Jahre die allzu gestrengen Ansätze und Musterschul-Vorstellungen eines wohl etwas steif verstandenen Schul-Theaters, eines da und dort vorherrschenden Verständnisses als Schön-Sprech-Guckkasten-Bühne nach grossem Vorbild.

Theaterpädagogik hat also einerseits Wurzeln bei den grossen Lehrmeistern und Schauspieltheoretikern, zum andern ist die Entwicklung aber auch Spiegel der politischen Verhältnisse und der damit einhergehenden pädagogischen Ausrichtungen.

Nachdem sich die anfängliche Euphorie eines aufklärerisch-emanzipatorischen Theaters gelegt hatte und deutlich geworden war, dass weder ein fundamentaler Wandel noch ein neues Menschsein die Folge waren, richtete sich der Fokus der späten 1980erund der 1990er-Jahre mehr auf das Individuum. Das Kollektiv, die neue politische Generation, hatte sich nicht zu etablieren vermocht. Viele gutgemeinte Ideen und Antworten auf das Weltgeschehen schienen gescheitert, die Antworten waren zu einfach, zu eindimensional und vermochten die Probleme nicht zu lösen. Der Mensch schien weniger einheitlich, die Gesellschaft heterogener, das Handeln individueller und biografisch geprägter, als dass es sich so einfach formen und beeinflussen liesse.

Dies wurde denn auch mehr und mehr der Fokus von Theater: Biografisches, Anekdotisch-Eigenes wurde auf die Bühne gestellt, im Zentrum standen nunmehr das Individuum in der Gesellschaft, die Suche nach der Persönlichkeit, nach der Unverwechselbarkeit. Geschichten standen im Mittelpunkt, die individuelle Erzählung, das subjektive Erleben und Empfinden, das Glücklich-Werden oder das Scheitern an und in der Welt – kurz: die Unverwechselbarkeit des Individuums, das, was es auszeichnet als anders, als eigen, als Unikat.

 

Das Erzähl-Theater war en vogue, und es war das Schweizer Kinder- und Jugendtheater, das europaweit als beispielhaft galt: Subjektive, märchenhaft-versponnene Geschichten, verschrobene Figuren, Einzelkämpfer und Träumer, Wortlose oder skurril Verspielte bevölkerten die Bühnen; zentrale Themen waren die Hilflosigkeit des Einzelnen im Getriebe der Welt, das Individuum im Kampf ums Überleben, das Fehlerhafte, das Unperfekte als Attribut des Persönlichen.

Entsprechend der Entwicklung im Theater für junges Publikum waren auch die Arbeiten im Bereich Schultheater: Man machte sich auf die Suche nach der eigenen Geschichte, der eigenen Herkunft, folgte dem Pfad der Eigen- und Besonderheiten, die Erzählung rückte ins Zentrum, Rolle und Figur traten in den Hintergrund. Geschichten wurden überhöht und verdichtet, wurden abstrahiert und anekdotisch, reale Figuren und ihre Erlebnisse waren im Fokus. Theater wollte Geschichten erzählen von Menschen ‹wie du und ich›. Spielen wurde zur Chance zu wachsen, sich selber kennenzulernen, sich auszudrücken, seine Fantasie und Kreativität zu entdecken und zu entwickeln, den Mut zu finden vorne zu stehen, selbstsicher, seiner selbst gewiss, mit all seinen Schwächen und Verletzbarkeiten, mit all seinen Mängeln und Borniertheiten. Theater als Ort der individuellen Stärkung, als Ort des wachsenden Selbstvertrauens. Oder, wie Weintz es umschreibt: «Ablehnung (übertriebener) pädagogischer Instrumentalisierung des Theaters und (Wieder-) Entdeckung seiner ästhetischen Qualitäten.» (Weintz (2004), S. 284)


In diesem Prozess verloren die Stücke ihren Appell-Charakter, es war das reale Leben, das die Geschichten schrieb und scheitern war genauso möglich wie reüssieren. Der Glaube an die einfachen Lösungen war obsolet geworden, das Leben wurde als komplexer und letztlich verworrener erkannt. Offene Enden von Stücken regten an, die Geschichten selber weiter zu denken; der Verzicht auf Wertung sollte Chance zur eigenen Entscheidung sein.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wandte sich das erzählerische Spiel mit Geschichten und Figuren noch stärker der aktuellen Ästhetik des Theaters zu. Technische Medien wie der Einsatz von stimmlicher Verstärkung oder Verzerrung und Projektionen von Bildern und Videos erweiterten das Bühnengeschehen. Die neue Ästhetik beeinflusste die Disziplin: Die Auflösung der traditionellen Inszenierung, die Versuche postmoderner Dramatik, die szenischen Realisierungen der neuen Regie-Generation der ‹Stücke-Zertrümmerer›, das Aufkommen performativer Formen, der Einbezug des Publikums in die szenische Handlung, die Entdeckung neuer Spielstätten – unterwegs, mitten in der Öffentlichkeit, im Quartier, in einer Villa, einer leerstehenden Fabrik, auf einer Brücke –, das Sprengen der Konventionen und Seh- und Hörgewohnheiten, die Vermischung von Fiktion und Realität. All diese Experimente und die experimentelle Verspieltheit beeinflussten auch die Theaterpädagogik – und umgekehrt: Leute wie Marthaler oder Häusermann, die über die Arbeit in der freien Szene zu den grossen Theatern gefunden und damit auch Formen des Laientheaters ins professionelle Theater eingebracht hatten, sprengten die gängigen Formen. Die Einflüsse wurden mehr und mehr wechselseitig, ebenso die Durchmischung von Profis und Laien, von Theater und Nicht-Theater, von Theater und Performance.

Mehr und mehr wurden denn auch Bereiche wie die schulische Theaterarbeit wieder unter den Fokus von Theater und Ästhetik gestellt, die Auseinandersetzung mit Formen und Darstellungsweisen wieder zentraler, die Aufführung wichtiger als der Gruppenprozess, die pädagogische Einflussnahme zweitrangig bis verpönt.

Theaterpädagogen und -pädagoginnen wollen also ästhetisch ansprechende, eigene, den Möglichkeiten der Mitspielenden entsprechende Wege beschreiten und eigene Formen einbringen. Wenn dabei auch Persönlichkeitsentwicklung und Gruppendynamik eine positive Einflussnahme haben, so wird dies als ‹Nebenprodukt› gerne in Kauf genommen. (Hentschel (2007), S. 5; vgl. auch Lenakakis (2004), S. 40 ff. und Weintz (2008), S. 284 ff.)

1.9 ZUSAMMENFASSUNG

Theaterpädagogik entspringt nicht stammbaumgleich einer Wurzel, aus der sie sich linear entwickelt hat. Vielmehr sind etliche Ursprünge auszumachen, die z. T. weit in die humanistische Schulspieltradition genauso wie in die religiös-christliche (Fest-)Spieltradition und das damit eng verknüpfte Laienspiel zurückreichen. In ihrer Begrifflichkeit eingeengt hat sich Theaterpädagogik zu Beginn des 20. Jh. im Rahmen reformpädagogischer Bestrebungen und der Nutzbarmachung des Spiels als moralische Instanz und Medium der Tradierung ‹höherer Werte›.

Bis in die 1960er-Jahre wurden Spiel und Theater als Chance und Teil einer musischen Bildung proklamiert – je nach Standpunkt mehr oder weniger stark im Sinne einer aktiv-gestalterischen Nachahmung der Kunstform oder als Eigenerfahrung mit kreativkünstlerischer Ausrichtung; in beiden Fällen aber doch mit der übergeordneten Tendenz, Theater als Kunstform und Kunst als Wertschöpfung im Sinne eines Traditionsaufbaus und einer Wertschätzung zu etablieren.

Nach Jahren einer Schulspieltradition, die sich stark an einem klassikerorientierten Theater ausgerichtet und für das Schulspiel die sterile Imitation von professionellen Produktionen zur Folge hatte, verselbstständigte sich die Theaterpädagogik gegen Ende der 1970er-Jahre: Im Zuge der Entwicklung des emanzipatorischen Kindertheaters etablierte sich eine Spiel- und Interaktionspädagogik, die sich vom Theater als Form abkehrte und sich mehr dem Spiel als politischem und persönlichem Bildungsmittel zuwandte und dabei den Prozess und die im Prozess gemachten Erfahrungen ins Zentrum stellte.

Erst in den 1980er-Jahren kam es wieder zu einer Hinwendung zu ästhetischen Fragen und formalen Aspekten auch des Schultheaters. Im Rahmen von szenischen Erzählungen, der Suche des Eigenen und der Unverwechselbarkeit, wurden zugleich die Darstellungsformen und die experimentellen Versuche vielfältiger; auch darin spiegelte sich die Entwicklung im Regietheater bzw. in der Suche nach eigenen Formen im Bereich der Freien Szene; dies u. a. auch mit der Auflösung von Grenzen bezüglich Aufführungsräumen oder der Vermischung von Aktion und Spiel, von Realität und szenischer Behauptung. Statt von Darstellendem Spiel wird nun von Theaterpädagogik gesprochen; das Theater rückt wieder verstärkt in den Fokus. Daran nicht unbeteiligt sind sicher auch die inzwischen entstandenen Ausbildungsstätten für theatervermittelnde Berufe.

Seit Beginn des neuen Jahrtausends steht eine grosse Vielfalt von Formen und Herangehensweisen nebeneinander. Mehr und mehr etabliert haben sich auch in der Theaterpädagogik performative Formen wie Installationen, partizipative Formen, Performing Acts etc. Neu wird also Bedeutung nicht über ein ‹als ob› erreicht, sondern durch den konkreten und unmittelbaren Vollzug von Handlungen und die damit verbundene Konstituierung von Bühnenwirklichkeit (vgl. Hentschel (2007), S. 5). Nach Schulspiel und musischer Bildung, nach emanzipatorischer Bildung und Darstellendem Spiel ist heute der Begriff der ‹ästhetischen Bildung› gebräuchlich.


Geblieben aber sind die drei Grundmotivationen theaterpädagogischer Arbeit, die mit unterschiedlicher Gewichtung in dieselbe einfliessen: «Entsprechend ihrem Begründungszusammenhang lassen sich drei Arten theoretischer Legitimation unterscheiden (vgl. Kaiser 1984), die in den diskutierten Ansätzen nicht immer isoliert, in «Reinform» und überschneidungsfrei auftreten. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, eine operationale Unterscheidung zu treffen:

1.Die anthropologische Begründung, die davon ausgeht, dass der Bereich Spiel und Theater wesensmässig zum Dasein des Menschen gehöre und damit als unverzichtbarer Bestandteil bzw. Inbegriff der menschlichen Bildung anzusehen sei.

2.Die kulturpädagogische Begründung, wobei der Begriff «kulturpädagogisch» hier im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als Weitergabe der in den Bildungsgütern bewahrten kulturellen Werte an die nächste Generation verstanden wird. Nach diesem Verständnis geht es um eine Erziehung zur Kunst, konkret zum Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst.