Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe)

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Was Theaterspielen in der Schule bringt:

Auch wenn empirisch nicht belegt, ist sich die ‹Szene› trotzdem einig, dass Theaterpädagogik

–das soziale Gefüge einer Klasse oder Gruppe positiv beeinflussen kann;

–die Chance bietet, sich mit anderem und anderen, mit Fremdem und Fremden, auseinanderzusetzen;

–die Selbst- und Fremdwahrnehmung fördert;

–die Wahrnehmung sensibilisiert und Wachheit und Aufnahmebereitschaft unterstützt;

–teamfähiger macht;

–die Fantasie und die Kreativität anregt;

–Vertrauen in eigene Ideen geben kann und Selbstvertrauen fördert;

–die Auftrittskompetenz und die stimmliche und körperliche Präsenz stärkt;

–die Chance, sich von einer andern Seite zu zeigen, eröffnet;

–Gelegenheit ist, über sich selbst hinaus zu wachsen und Neues zu wagen;

–die Kritikfähigkeit – im Geben und im Nehmen – fördert;

–den sprachlichen Ausdruck schult;

–Empathie ermöglicht;

–Wege der Erprobung von Leben eröffnet;

–immer Spiel bleibt;

–Selbsterfahrung ermöglicht und die Chance birgt, sich auszuprobieren;

–das ästhetische Bewusstsein fördert;

–eine intensive Auseinandersetzung mit sich und der Welt, die einen umgibt, sein kann;

–Menschen an die Kunstform ‹Theater› heranführen kann;

–offener macht, sich dem Leben zu stellen und Courage zu beweisen;

–zu Standpunkten und zum Stellung beziehen herausfordert;

–dazu führt, sich – aktiv und passiv – mit zeitgenössischen Theaterformen auseinander zu setzen. Selbstverständlich soll dieser bunt gemischte Katalog nicht den Eindruck erwecken, als kämen alle aufgeführten Dimensionen der Wirkung stets gleichwertig und im selben Masse zum Tragen.

Die Gewichtung der unterschiedlichen Chancen, die sich mit der Theaterpädagogik verbinden, war und ist von der theaterpädagogischen ‹Epoche› und dem theaterpädagogischen Mainstream bzw. der Entwicklung abhängig. Ziele und Absichten haben sich in den vierzig Jahren, seit Theaterpädagogik ein Beruf ist, verändert und sind ein Stück weit auch Spiegelbild der Entwicklung von Pädagogik und Theater gemeinhin.

Dabei waren die Texte von Hartmut von Hentig für die Theaterpädagogik wichtig – und so sehr seine Thesen nach den Vorkommnissen in der Odenwaldschule heute kritisch reflektiert und wahrgenommen werden müssen, waren sie für die Entwicklung des theaterpädagogischen (Selbst-)Verständnisses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegleitend. In diesem historischen Kontext sollen sie hier Erwähnung finden.

Hartmut von Hentig hat in seinem Aufsatz zur Bedeutung von Spiel und Theater in der Erziehung die Chancen des Spiels umfassend beschrieben. Deutlich werden die vielfachen Wirkungsmöglichkeiten von Spiel im ‹Verstehenden› und im ‹Gestaltenden› und das Umfassende von Theater, wenn von Hentig von ‹Aneignung der Welt› spricht: «Ich traue mir die Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule zu, in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und Science. Es sind die beiden Grundformen, in denen der Mensch sich die Welt aneignet: subjektive Anverwandlung und objektivierende Feststellung.» (von Hentig (2004), S. 118)

Theater

Das geläufigste Mittel zur Aneignung der Welt ist die Benennung, ist Sprache. Das wirksamste ist es nicht, es ist nicht einmal das ursprünglichste. Ich habe einmal einen Film über Kinder und Kunst gedreht. Ein kleiner Abschnitt davon war einem Experiment gewidmet: Ich habe ein halbes Dutzend Kinder zwischen vier und fünf, im Vorschulalter also, in einen Raum eines Museums gelassen, in dem grosse Renaissance-Bilder mit Darstellungen von mythologischen Begebenheiten, höfischen Szenen und dramatischen Schlachten hingen. Die Kinder wurden gleichsam mit «versteckter Kamera» beobachtet – und allein gelassen. Sie verstreuten sich sofort über den ganzen Raum, betrachteten hin- und hergehend das eine und das andere Bild, und dann, plötzlich, ging dieses Kind auf vier Beinen, reckte sich jenes zum Riesen, zog ein drittes eine schreckliche Grimasse. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass sie ein Tier oder einen Menschen auf dem Bild nachahmten. Ich habe das als ihre Art, sich mit dem Bild bekanntzumachen, als ihre Aneignung des Gegenstandes verstanden, da, wo wir Erwachsenen Zuweisungen vornehmen, Namen und Erklärungen geben.

Das ist ein Feld, von dem ich nicht viel verstehe. Aber vom Theaterspielen verstehe ich etwas und behaupte, dass, wenn ein Mensch einen anderen darzustellen sich bemüht und nicht nur den Schauspieler nachmacht, der diesen spielt, er einen ungeheuren Schritt zur Erweiterung und Vermenschlichung seiner selbst tut. Ja, ich behaupte darum, dass das Theaterspiel eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht.

Es ist gut, dass in unseren Bildungsanstalten immer häufiger Theater gespielt wird, wenn auch oft nur, um ein Schulfest mit einem präsentablen Ereignis zu versehen oder um dem von der modernen Didaktik gebotenen sogenannten «Projektansatz» zu genügen. Es müsste umgekehrt sein: Weil Theater wichtig ist, richten wir Projektwochen und zu seiner Aufführung ein Schulfest ein. Dass die Aufführung eines Stückes die Forderung der Ganzheitlichkeit und der Vielseitigkeit der Betätigungen erfüllt, sichert ihr einen wichtigen Platz in der modernen Schule; dass sie die eigentliche Probe auf die Interpretation eines Stückes ist, hätte ihr einen ebensolchen Platz in der alten Schule sichern können; dass sie «bildet» und grosses Vergnügen bereitet, sichert ihr einen festen Platz in unserem Leben und diesen hier auf meiner Liste. Ich traue mir die Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule zu, in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und science. Es sind die beiden Grundformen, in denen der Mensch sich die Welt aneignet: subjektive Anverwandlung und objektivierende Feststellung. So, wie sich das eine auf alle Verhältnisse erstreckt, die sich versachlichen lassen, so das andere auf alles, was sich vermenschlichen lässt. Beide zusammen können alles umfassen, was Menschen erfahren und wollen, können und wissen. Beide haben eine (je andere) versichernde Wirkung und können dadurch zu einer Falle werden – hier die der Verdinglichung aller Verhältnisse, dort die Illusion –, wenn es das jeweils andere nicht gibt. Und beides wird es wohl immer geben. An der einen Gewissheit: dass sich die Menschen weiterhin die Dinge verfügbar zu machen suchen, indem sie Gesetze herausfinden, ist nicht zu zweifeln. Der anderen muss man hingegen nachhelfen: dass es den Menschen gut tut, wo immer sie gesellig vereint sind auch Theater zu spielen, weil es Lust bereitet, frei zu sein, wandelbar, unbelangbar, unberechenbar, Schöpfer seiner selbst und einer eigenen Welt – in eben dem Mass, in dem die gesellschaftliche Entwicklung sie auf Berechenbarkeit festzulegen sucht und in dem das professionelle Theater das Spiel durch Konstruktionen ersetzt. (von Hentig (2004), S. 116 ff.)

Nicht erst die Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts, schon Pestalozzi hatte eine Bildung nicht nur für den Kopf, sondern genauso für Hand und Herz gefordert: Spiel braucht sowohl den Körper als ‹sprachlichen› Ausdruck und alle Sinne der Wahrnehmung, Spiel spielt immer auch aus dem ‹Herz›, ist also Emotion, Empfindung, Empathie und Interaktion. Der Begründer der ‹schweizerischen› Theaterpädagogik, Felix Rellstab sowohl auf das ‹Schweizerische› als auch auf die Gründerperson wird zurückzukommen sein – verstand die Theaterpädagogik und das Spiel als Lebens- und Theaterprinzip: Das Leben ein Spiel. Im Zentrum der Theaterpädagogik stehe der einzelne Mensch – im Zusammenleben mit andern. Dieser einzelne Mensch sei ein spielender Mensch. Und jede und jeder könne spielen. (Rellstab (2000), S. 193)

1.3 THEATERPÄDAGOGIK IM SCHULISCHEN UMFELD

Im Folgenden soll die Gesamtbreite theaterpädagogischen Tuns etwas in den Hintergrund gerückt werden zugunsten der schulischen Ausrichtung der Theaterpädagogik; es soll also schwergewichtig um jene Bereiche gehen, die als Möglichkeit im schulischen Alltag Platz finden. Dieser theaterpädagogische Ansatz will Lehrpersonen helfen, theaterpädagogische Formen in den Unterricht einzubringen und die Theaterpädagogik auch als eine Herangehensweise, als ein spielerisch-forschendes Tun und als kreative Möglichkeit zu integrieren: Theaterpädagogik als grundsätzliche Schule der Wahrnehmung.

Es wird mithin schwergewichtig um jene Ansätze gehen, die in den vergangenen Jahren unter Begriffen wie ‹Darstellendes Spiel›, ‹Schulspiel›, ‹Schultheater›, ‹Spiel- und Interaktionspädagogik›, ‹Darstellen und Gestalten› bekannt wurden, ebenso aber auch um neuere schulische Angebote wie ‹Förderung der persönlichen Auftrittskompetenz› und damit um Kompetenzen der Spielleitung bzw. des Spielleiters/der Spielleiterin.

Dabei soll, wenn sinnvoll, auch immer wieder der Bezug zum Theaterschauen, zur Reflexion über Gesehenes, hergestellt werden, denn ‹Wer spielt, schaut anders Theater, wer Theater schaut, spielt anders.› (Lille (2009), S. 14)

Während noch zu Beginn des neuen Jahrtausends die einen (meist engagierte Lehrpersonen oder sozial- und schulinteressierte Theaterpädagogen) in den Schulen Schul-theater machten und die andern (meist Schauspieler oder Theaterpädagogen mit Regieinteresse oder Schauspielambitionen) Theater von und mit Kindern und Jugendlichen machten, die einen also mehr Pädagogik, die andern mehr Kunst im Kopf hatten, so haben sich die Gräben etwas eingeebnet, die Berührungsängste sind abgebaut, der gegenseitige Respekt und auch die Durchlässigkeit sind gewachsen.

 

Während sich lange Zeit das Kinder- und Jugendtheater von jedweder theaterpädagogischen schulischen Arbeit abgrenzte und den Beruf der Theaterpädagogen und -pädagoginnen kaum – oder nur im Sinne einer Vermittlung von Kunst – wahrnehmen wollte, so haben hier in den letzten zehn Jahren starke Veränderungen stattgefunden.

Das Produzieren bzw. Rezipieren geschieht nicht mehr in zwei Welten, sondern wird nun oftmals verknüpft und befruchtet sich gegenseitig. Auch dies darf wohl als Entwicklungsschritt der letzten 40 Jahre angesehen werden: Dass sich Pädagogik und Theater angenähert und ihre Berührungsängste abgebaut haben. Dass also eine einstmals auf erzieherische Absichten, auf Gruppenprozesse und Persönlichkeitsentwicklung angelegte Theaterpädagogik sich der Ästhetik der Kunst angenähert hat. Umgekehrt sind Schulen und Kinder und Jugendliche ein ernstzunehmendes und spannendes Publikum geworden, das durchaus etwas zu sagen hat und fähig ist, auch mit komplexeren Inhalten umzugehen und selbst imstande ist, theatrale Produkte zu kreieren, die inspiriert und ästhetisch ansprechend sind.


Dabei hat sich der Begriff der Theaterpädagogik nicht nur gefestigt, er hat sich auch verändert: Während zu Beginn als Folge der 68er-Jahre der emanzipatorische Gedanke im Zentrum stand, so geht es heute, nach einer Phase der Fokussierung auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf das biografisch Einmalige und Unverwechselbare, mehr um die ästhetische Bildung und die Auftrittskompetenz.

In diesem Sinne liesse sich also sagen: Die heutige Theaterpädagogik sucht in der Formensprache und der Formenvielfalt des zeitgenössischen Theaters. Sie will Theater als offene Form der Darstellung schaffen, ist sich aber der Prozesshaftigkeit bewusst. Sie sucht deshalb auch auf dem Weg der Produktentwicklung die Auseinandersetzung der Beteiligten mit sich selbst, mit den andern und mit der Welt, in der sie alle leben. Persönliche und soziale Prozesse sind zwar nicht mehr zentrales Anliegen, aber als ‹positive Nebenwirkung› und Erfahrung durchaus willkommen. Die heutige Theaterpädagogik geht damit um und darauf ein. Theater ist Mittel und Thematik, ist Form und Sache.

In der Verknüpfung von Rezeption und eigenem Spiel, von Spielprozessen und Theaterprodukten, im Umfassenden von Theater überhaupt geht es letztlich um die Förderung der Wahrnehmung: Theater ist wohl eines der besten Mittel, sich mit Gehörtem, Gefühltem, Empfundenem und Gesehenem auseinanderzusetzen, sei es als Zuschauer/Zuschauerin oder als Spieler/Spielerin. Immer ist es die Auseinandersetzung mit dem konkreten Beispiel, das auffordert, mit allen Sinnen wahrzunehmen und Stellung zu beziehen gegenüber jener Welt, in der man lebt.

1.4 ZUR ENTWICKLUNG DER THEATERPÄDAGOGIK SEIT DEN 1970ER-JAHREN

Wie oben ausgeführt ist die Geschichte der Theaterpädagogik keine linear verlaufende. Es gibt etliche Fäden, aus denen sich jenes Gebilde entwickelt hat, das heute unter dem Begriff Theaterpädagogik existiert.

Der Begriff selbst kam Ende der 1960er/Anfang der 1970er-Jahre im deutschsprachigen Raum auf und ist auch heute noch ein sprachliches Unikat geblieben: Während im französischen Sprachraum von ‹Jeux dramatique› und in Italien von ‹Teatro Educazione› gesprochen wird, heisst es in England ‹Theatre for Developement›, ‹Theatre in Education› oder ‹Drama in Education›. Entsprechend schwierig ist auch die Übersetzung des Berufes: Der Theaterpädagoge ist im englischsprachigen Raum ein ‹Drama-Teacher› und in Frankreich ein ‹Animateur›, was aber die Sache nur ungenau trifft und auch deutlich macht, dass die Berufsvorstellungen je nach kulturellem Hintergrund unterschiedlich sind (Streisand (2010), S. 5).

Die eine Wurzel ist also eine relativ junge und hat ihren Ursprung im deutschsprachigen Raum. Als Folge der 1968er-Jahre, des damit verbundenen ‹Dursts› nach Freiheit und Unabhängigkeit und der Abkehr von allem Bürgerlich-Verknorztem verliessen etliche Schauspielerinnen und Schauspieler die damals verkrusteten und erstarrten Stadtund Staatstheater, schlossen sich in freien Gruppen zusammen oder gründeten die ersten professionellen Kinder- und Jugendtheatergruppen. Diesen ging es mit ihren Stücken für Kinder und Jugendliche in erster Linie um die Emanzipation der nachwachsenden Generation, um politische Bildung also. Es sollte aufgeklärt werden mit dem Ziel, sich von der Fuchtel der konservativen Obrigkeit zu befreien. Es ging um erzieherische Freiheit, um sexuelle Befreiung, um Absage an Kapitalismus und Biederkeit, es ging um die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Strukturen, und dieser ‹Kampf› konnte nicht früh genug beginnen. Der Versuch also, die Macht im Staate zu untergraben, das starre Gefüge zu unterhöhlen, Menschen – und auch Kinder – zu selbstständig denkenden und unabhängig handelnden Personen zu emanzipieren. Der Traum einer freien Gesellschaft: ‹Das hälste ja im Kopf nicht aus›, ‹Was heisst hier Liebe?›, ‹Mensch ich lieb dich doch›, ‹Darüber spricht man nicht›, ‹Stifte haben Köpfe› u. a. waren Klassiker dieses emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters. Da und dort kam es zu Tumulten und erbosten Elternreaktionen nach Schulaufführungen oder gar zu Aufführungsverboten an Schulen.

«Aus den Städten, in die Dörfer!»

Als Folge der 1968er-Jahre verliessen viele Schauspielerinnen und Schauspieler die etablierten Theater. Theater sollte gesellschaftlich und politisch relevanter sein, näher beim Volk. Mit diesem Anspruch wurden auch in der Schweiz die ersten Freien Gruppen gebildet, in den Dörfern und Kleinstädten wurden Keller geweisselt, Scheinwerfer montiert, es entstand ein Netz von Gastspielstätten und von Gruppen wie Claque! oder ‹Innerstadtbühne›. Auf dem Spielplan standen nebst Lehrstücken von Brecht zeitgenössische Autoren wie Kroetz, Handke, Strauss, Schneider, Mrozek u.v.a. Nicht mehr die grossen Helden waren Thema, vielmehr sollte die Situation des ‹Volkes›, der einfachen Leute, zur Sprache kommen. Das gesellschaftlich-soziale und das politische Umfeld standen im Fokus. Dabei wandelte sich auch die Sprache: Autoren schauten dem Volk auf Maul. Dialekte oder dialektal gefärbte Sprache hielt Einzug, die Sprachlosigkeit war Thema, das sprachliche Stolpern und Stottern, das Fluchen und Schweigen.

Parallel dazu forderten die Theaterschaffenden nicht nur Nähe zum Volk (Kunst für alle), gefordert wurde auch Nähe zu Schule und Schülern.

1973 fand so z. B. das 14. Aargauer Gespräch der Kultur-Stiftung Pro Argovia statt, «auf dem die grundlegend neue Bedeutung des Darstellenden Spiels an den Aargauer Schulen – aber nicht nur in diesem Kanton – mit Nachdruck ins Gespräch gebracht wurde. Der Präsident der Pro Argovia, Albert Hauser, formulierte damals die Aufgabe der Tagung so: «Der Imperativ dieser Tagung, das ist ein kategorischer Imperativ, der heisst, wann, wo, wie kann auch im Aargau Schultheater, gutes Schultheater, realisiert werden.» (Streisand u.a. (2007), S. 51 f.)

Aus dieser Tagung resultierte die Gründung einer Schultheaterkommission und einer Beratungsstelle, die noch heute aktiv ist. Theaterleute wie Jean Grädel und Peter Schweiger waren in dieser eigentlichen Geburtsstunde dabei und massgeblich an der Ausgestaltung der ersten Grundkonzepte für eine Theaterpädagogik in der Schule mitverantwortlich (vgl. Streisand (2007), S. 53). Umgekehrt beeinflussten theaterpädagogische Arbeitsansätze auch die Stadttheater: Regisseure wie Marthaler oder Häusermann hatten vor ihren ‹Stadttheaterkarrieren› oft mit Laienspielern oder Laien-Profi-Gruppen gearbeitet und dort Improvisationstechniken und kollektive Stückentwicklungen erforscht und erprobt. Auch Gruppen wie ‹Rimini-Protokoll› entwickeln ihre Konzepte mit theaterpädagogischem Hintergrund bzw. machen theaterpädagogische Arbeitsformen zu ihrem eigentlichen Markenzeichen.

Im Umfeld dieser Theaterarbeit wurde auch mit Jugendlichen und Kindern in Freizeitzentren und Quartieraktionen Theater erarbeitet und wurden Inszenierungen entwickelt, meist mit klar politisch-emanzipatorischer Absicht (Weintz (2008), S. 279 ff.). Es ging um neue, offenere Formen der Kommunikation, es ging um selbstgesteuertes Lernen, um Autonomie, um interaktives Geschehen, um Entwicklung im Kollektiv. «Neben der neuen freien Theaterszene, die sicherlich grossen Einfluss auf die Lust am Theater heute hat, ist aber das Bedürfnis von Pädagogen, Psychologen und andern in helfenden Berufen Tätigen nicht zu vergessen; ihr Ziel ist es, ganzheitliche Selbsterfahrung, kreative Gruppenarbeit und politische Bildung zu verknüpfen.» (Ehlert (1986), S. 11, vgl. auch Lenakakis (2004), S. 40 f. und Weintz (2008), S. 279)

Offener bzw. theaternäher formulierte es Rellstab in seinem kurz vor seinem Tod noch in Bearbeitung stehenden Band über Theaterpädagogik:

Ausrichtung

Im Zentrum der Theaterpädagogik steht der einzelne Mensch – im Zusammenleben mit anderen. Dieser einzelne Mensch ist ein spielender Mensch. Die Theaterpädagogik erkennt alle Menschen als Spieler. Jede und jeder kann Theater spielen.

Theaterspielende spielen mit sich – mit anderen – für andere. Diese dreifache Ausrichtung stellt der Theaterpädagogik eine dreifache Entwicklungsaufgabe:

1.der individuellen Gaben und Lebensäusserungen,

2.der Interaktion – des Zusammenspiels von Einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen – zwecks Integration ins gesellschaftliche Ganze und zur Erhöhung der sozialen Kompetenz,

3.der Ausdruckskraft von Körper, Stimme und Sprache und des zielgerichteten Handelns aufgrund von fiktiven Annahmen zur ausdrucksstarken Darstellung vor anderen.

Inhalte

Theaterpädagogik ist betont inhaltlich – nicht formal oder formell – ausgerichtet. Sie beschäftigt sich mit existenziellen Themen der Spielerinnen und Spieler: Geburt und Werden, Liebe und Tod, Macht und Ohnmacht – wie das Theater. Sie greift aktuelle soziale Themen auf: Desintegration der Randständigen und der kulturell und sprachlich Fremden, Arbeitslosigkeit, Suchtverhalten, Sektenwesen, Verunsicherung durch Virtualität, Passivität, Orientierungsverlust und Resignation. Theaterpädagogik entwickelt das Wahrnehmen mit allen Sinnen – aber auch der ‹verborgenen› Sinne für Bewegung und für Gefühle. Sie macht Erinnerungen zugänglich und schafft Zugänge zum unbekannten Ich.

Theaterpädagogik schafft vertraute Beziehung zu Menschen in der Nähe, zu einem Ort, zum Umfeld, zur eigenen Lage, schafft Verwurzelung und Übersicht.

Rellstab (2000), S. 193 ff.

Das Theaterspiel als Alternative zu Frontalunterricht und Einwegkommunikation schien jedenfalls zu funktionieren, Schüler und Schülerinnen sprachen auf das Medium genauso an wie Lehrpersonen. Es entwickelte sich ein Bedürfnis nach Aus- und Weiterbildung, Theater sollte in den Unterricht integriert werden. Spiel im Unterricht boomte, Interessierte schlossen sich zusammen, Pädagogen kämpften auf der bildungspolitischen Ebene für ein Fach ‹Darstellendes Spiel›. Nicht zufällig wurde der Begriff ‹Theater› eher ausgeklammert: Im Zentrum stand das Spiel an sich, der (soziale) Prozess.

Der Theaterpädagoge, der Spielprozesse interaktiv begleitete, statt Inszenierungen gestreng zu leiten oder selbstherrlich Regie zu führen, war der eigentliche Grundgedanke und die Zielsetzung der damaligen Theaterpädagogik. Dabei gerieten die Aufführungen selbst mehr und mehr in den Hintergrund, das Produkt wurde zweitrangig, der Prozess der kollektiven Entwicklung und des Miteinanders war wichtiger. Darin spiegeln sich die gesellschaftlichen Grundhaltungen und der emanzipatorische Ansatz.

Parallel zu den Veränderungen in pädagogischen Ansätzen, Ausrichtungen und Methoden entwickelte sich eine Spiel- und Theaterpädagogik, die Einzug in die Lehrerbildung und die Freizeitgestaltung hatte und in Deutschland schon bald auf Initiative und unter Leitung von Hans-Wolfgang Nickel zu einem Ausbildungszweig ‹Spiel-, Interaktions- und Theaterpädagogik› an der Hochschule der Künste in Berlin führte.

In der Schweiz wurde zu Beginn der 70er-Jahre an der Schauspielakademie Zürich eine neue Abteilung ‹Theaterpädagogik› gegründet. Dem damaligen Direktor, Felix Rellstab, kam dabei eine federführende und für das Berufsbild prägende Bedeutung zu. Sein Verdienst ist, dass die Theaterpädagogik nicht mehrheitlich oder gar allein pädagogisch motiviert und orientiert war, sondern sich insbesondere am Können des Schauspielers und Regisseurs orientierte. Rellstab proklamierte (und realisierte) eine spezifisch theaternahe theaterpädagogische Ausbildung: Theaterpädagogen und -pädagoginnen sollten spielen und Regie führen können, sie sollten selber spielende und zum Spiel animierende Menschen sein.

 

‹Gründerväter›

Wolfgang Nickel in Berlin und Felix Rellstab in Zürch waren die beiden wegweisenden Initiatoren, die mit der Lancierung einer professionellen Theaterpädagogik-Ausbildung viel zur Entwicklung beitrugen. Entsprechend ihrer Herkunft – Nickel aus der Pädagogik und der Kunstgeschichte, Rellstab aus dem Schauspiel – erhielten auch die Ausbildungsgänge unterschiedliche Gewichtungen und Prägungen. Während für Nickel das Forschende und Analytische im Vordergrund stand, war für Rellstab der Theaterpädagoge als spielender Mensch mit den entsprechenden schauspielerischen Fähig- und Fertigkeiten zentral.

Dr. phil. Wolfgang Nickel (1933) studierte Theaterwissenschaften, Pädagogik, Kulturgeschichte und Germanistik. Er war einige Jahre selber als Lehrer tätig, gründete 1959 die Berliner Lehrerbühne und war ab 1964 Dozent an der PH Berlin, wo er das Fach Schulspiel lancierte. Er baute das Institut für Spiel- und Theaterpädagogik an der Hochschule der Künste auf und leitete das Institut bis 1993. Heute ist der Lehrgang Theaterpädagogik der Universität der Künste angegliedert. Nickel war Wegbereiter des Faches ‹Darstellendes Spiel› und unermüdlicher wissenschaftlicher Erforscher des kindlichen (und theatralen) Spiels.

Felix Rellstab (1924 – 1999) war ausgebildeter Schauspieler und Regisseur. 1948 – 50 arbeitete er als Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, 1965 war er Mitbegründer des Theaters am Neumarkt, das er bis 1971 leitete. Bereits 1960 übernahm er die Leitung des Bühnenstudios und baute den Ausbildungsgang sukzessive zur Schauspiel-Akademie Zürich mit 3-jährigen Ausbildungsgängen in ‹Schauspiel› und ‹Regie› aus. 1973 startete auf seine Initiative der erste Ausbildungsgang in Theaterpädagogik. Seither haben jährlich rund vier Theaterpädagogen und -pädagoginnen die Ausbildung, heute an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), absolviert.

Rellstab blieb bis 1991 Direktor der Schauspiel-Akademie und war noch mit der Planung des neuen Standortes in den Stallungen der Gessnerallee betraut. Zu seinen Initiativen gehörte auch die Gründung des Kinder- und Jugendtheaters Zürich (kitz). Erfolgreich war er auch als Publizist mit seinen Schriften zu Schauspiel und Theater (Reihe schau-spiel).

Für Rellstab standen also ‹Theater› und ‹eigenes Spiel› im Vordergrund, während sich Nickel schwergewichtig für die spielpädagogischen Ansätze und die Interaktionsprozesse interessierte – Ersterer kam ja auch vom Schauspiel, der Letztere von der Pädagogik. So war bei Rellstab wenig erstaunlich, dass zur theaterpädagogischen Ausbildung weniger Pädagogik, dafür die Auseinandersetzung mit jenen ‹Lehrmeistern› gehörte, die sich mit schauspielerischen Prozessen befasst und die Funktion des Theaterspiels zum Thema ihrer Untersuchungen und Forschungen gemacht hatten.

1.5 DIE GROSSEN LEHRMEISTER

Als weitere Basis theaterpädagogischen Handelns sind also all jene Lehrmeister und Theaterreformer zu sehen, die sich mit der Schauspielkunst an sich auseinandersetzten, d.h. mit der Frage, wie Spiel funktioniert, was der Schauspieler können muss, wie ein Spielprozess zu entschlüsseln wäre, bis hin zur Frage, was zwischen Bühne und Zuschauer passiert, wie sich der Theaterbesucher mit Figuren und Handlungen identifiziert und wie diese Interaktion zu gestalten, zu bedienen oder zu brechen wäre.

Zu dieser Reihe von Schauspiel-Analytikern und meist auch Leitern von Schauspielschulen gehören insbesondere der Russe Konstantin S. Stanislavski (1863 – 1938), der Deutsche Bertolt Brecht (1898 –1956), der Pole Jerzy Grotowski 1933 – 1999) und der Brasilianer Augusto Boal (1931 – 2009) (vgl. Ehlert (1986), S. 9 ff.).

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski

Stanislawski wurde 1863 geboren. Nach Theater- und Gesangsunterricht arbeitete er als Schauspieler und Regisseur und gründete 1898 das Moskauer Künstlertheater. Dort erreichte Stanislawski mit seinen naturalistischen Inszenierungen einen Grad an illusionistischer Perfektion, wie er bis dahin an keinem andern Theater je erreicht worden war. Zu diesem Eindruck trug vor allem die Geschlossenheit der Ensembleleistung (inklusive Bühnenbild, Lichttechnik, Musik etc.) bei. (Ehlert (1986), S. 13)

Für Stanislawski stand der Schauspieler im Zentrum. Stanislawski untersuchte die Spielprozesse und lotete den Zwischenraum zwischen ‹erleben› und ‹darstellen› aus. Von ihm stammen Begriffe wie ‹als ob› oder ‹Subtext›; er schrieb Abhandlungen darüber, wie der Schauspieler zur ‹Verkörperung› einer Rolle kam und entwickelte etliche Übungen, die es dem Schauspieler ermöglichen sollten, sich mit einer Figur zu identifizieren und emotionale Prozesse spielerisch umzusetzen und für die Intensität einer Rolle nutzbar zu machen. Stanislawski ist noch heute Basislektüre für Schauspielerinnen und -spieler und vermag Spielprozesse zu erhellen. Damit Handlungen und darunterliegende Gefühle nicht bloss dargestellt werden, braucht es seiner Ansicht nach emotionale, geistige und körperliche Trainings, um den gewünschten Effekt der Betroffenheit, der Glaubwürdigkeit zu erreichen. Stanislawski entwickelte so die Einstimmungsübungen und Schauspieltrainings für Geist, Psyche, Stimme und Körper, die immer noch Basis der Schauspielausbildung sind und zur Vorbereitung auf Vorstellungen genutzt werden. Stanislawski verstarb 1938.

Bertolt Brecht

Brecht wurde 1898 in Augsburg als Sohn eines Papierfabrikdirektors geboren. Schon als Student an der Philosophischen Fakultät in München verfasste er seine ersten Stücke, die ihn später weltberühmt machten. Vor Beginn des 2. Weltkrieges verliess er Deutschland und ging in die USA. 1948 kehrte er über die Schweiz zurück nach Ostberlin. Brecht war überzeugter Kommunist, seine Stücke befassen sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie handeln von Macht und Ohnmacht, von Volk und Herrschern, von Arbeitgebern und Arbeitern. 1949 gründete er das ‹Berliner Ensemble› und reiste mit seinen Stücken rund um wie Welt. Brecht starb 1956 in Ostberlin.

Brecht verfasste aber nicht nur Stücke, er untersuchte auch das Schauspiel an sich: Theater sollte auf die Zuschauer wirken, sollte Denkprozesse auslösen, sollte Haltungen und Handlungen durchschaubar, nachvollziehbar machen. Seine Vorstellungen eines ‹epischen› Theaters lassen sich nach Ehlert so zusammenfassen (Ehlert (1986), S. 22 f.):

–Distanz zwischen Schauspieler und Rolle, Sichtbarmachen der zweifachen Existenz als Spieler und als Figur.

–Erzählen der Handlung (Episieren), Demonstrieren von Verhalten und von Beziehungen zwischen Personen von einem gesellschaftskritischen Standpunkt aus, Kommentieren und Beurteilen von Handlungen und Handlungsweisen.

–Deutliche Trennung der ästhetischen Ebenen (Darstellung, Kommentar, Lesung) Brechts Intention war also, dass der Zuschauer als denkender Mensch betrachtet wird, der die Dinge analysieren, durchschauen, begreifen kann. Der Zuschauer sollte nicht in Gefühlswelten einsinken, sondern sachlich den Gang der Welt verstehen und zum handelnden Subjekt werden. Es sollte eine suchend-kritische Distanz sowohl der Spielenden als auch der Zuschauenden vorherrschen. Hierzu diente Brecht der V-Effekt, der Verfremdungseffekt, der eine untersuchende Distanz zu den Figuren und ihren Handlungen herstellt.

Seine theoretischen Ansätze über das Theater hielt Brecht 1948 im «Kleinen Organon für das Theater» fest. Relevant für das theaterpädagogische Schaffen sind vor allem seine Lehrstücke und der Verfremdungseffekt:

–Brechts Lehrstücke zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine veränderbare Welt zeigen: «Theater konstituiert sich als experimenteller Ort, der zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln aufruft und auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse zielt» (Naumann (2003), S. 53). Das Lehrstück ist ein theaterpädagogischer Spieltyp mit Musik. Dabei wird die Trennung in Spieler und Zuschauer aufgehoben. Der Zuschauer ist Teil des Geschehens, bestimmt mit. «Das Lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt, nicht dadurch, dass es gesehen wird.» (Steinweg (1976), S. 181). Lehrstücke wurden denn auch oft in der Jugendarbeit eingesetzt: Über den eigenen Spielprozess werden gesellschaftliche Dynamiken erst richtig erkennbar und dadurch auch veränderbar. Es geht also um den Erwerb von Handlungskompetenz. Das Ziel ist immer ein pädagogisch-politisches, verbunden mit der Entwicklung eines Lernzusammenhangs von Erlebnis, Reflexion, Theorie und Praxis. Mittel zu dieser Erfahrung war und ist oft der Rollentausch: In der Übernahme anderer, unterschiedlicher Positionen und Perspektiven können eigene Standpunkte hinterfragt und weiter entwickelt werden.