Ich bin dein Hirte

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4.

Ich schließe hinter mir ab und gehe nach oben. Die Sonne ist schon fast weg, aber es ist noch nicht dunkel. Für die Bühne reicht es. Es kann losgehen. Showtime. Kasperletheater. Ich mag das eigentlich nicht. Zu viele Erinnerungen. Aber es muss wohl sein. Teil der Geschichte. Und deswegen liebe ich es doch. Ja, ich liebe es. Ich liebe, was ich tue, weil es vollkommen absurd ist. Erkennt der Weise, dass er verrückt ist?

Das Kleid und die Perücke, das reicht. Beides liegt griffbereit auf dem Bett in ihrem Zimmer. Hier hat sich nichts verändert, außer, dass sie hier oben nicht mehr schläft. Ein kurzer Blick in den Schrankspiegel.

„Perfekt!“, sagt sie und ich stimme ihr zu.

Manche Dinge erweisen sich in absurden Situationen als großer Vorteil. Größe zum Beispiel oder besser Länge. Ich bin nur etwas länger als meine Mutter. Das ist erst einmal vollkommen unwichtig, gewinnt aber in außergewöhnlichen Umständen an Bedeutung. Ich gehe langsam die Treppe herunter, weil ich nicht stolpern will, und weil ich schon einmal üben will. Langsam und ein Bein leicht nachziehend, so bewegte sich meine Mutter. In der Öffentlichkeit. In der Küche ist das Licht bereits an. Ich hasse Gardinen, aber auch sie haben ihre Existenzberechtigung. Jetzt zum Beispiel. Sie ermöglichen Einblick, erlauben aber keine Details. Draußen ist es dunkler als in der Küche, ich brauche nur eine Weile hier hin und her zu laufen, mir einen Tee zu machen, mich an den Tisch zu setzen und mich vom Küchenlicht anstrahlen zu lassen und ich weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ich, nein, dass Mutter gesehen wird. Oder besser, dass das gesehen wird, was sie glauben zu sehen. Was ich ihnen erlaube zu sehen. Das beruhigt die erhitzten Gemüter, die neugierigen Schachteln. Ich war heute Morgen wirklich viel zu freundlich.

Ich setze mich mit dem Rücken zum Fenster und hebe den Kopf.

„Ich sag dir was“, sage ich, „was meinst du, wie lange geht das noch gut, mein Sohn?“

Ich muss kichern. Ich hebe den rechten Arm und drehe den Kopf zur Seite.

„Hoffentlich guckt auch jemand her, wozu mache ich denn diese ganze Show?“, sage ich und bewege meine Hand beim Sprechen. Körpersprache ist wichtig. Wenn man nichts hört, muss man sehen, dass jemand redet.

„Klaus-Peter“, höre ich meine Mutter sagen, so hat mich nur meine Mutter genannt. Und so darf mich auch nur meine Mutter nennen, ungestraft.

Vater sagte „Sohn“ oder Klaus. Das macht er aber schon lange nicht mehr.

„Du bist verrückt, weißt du das, Klaus-Peter?“, meint Mutter.

Vielleicht treffen sie sich ja, schießt es mir durch den Kopf. Nichts ist unmöglich, na ja, manches vielleicht doch. Aber denkbar. Sie gehörten nicht zusammen. Das passte einfach nicht. Ich weiß es. Ich habe es herausgefunden. Aber alles weiß ich doch nicht. Mutter hatte ihre Geheimnisse. Vater anscheinend auch. Die hat er mitgenommen oder er ist zu ihnen zurückgekehrt. Wie auch immer.

„Ja“, sage ich, „ich weiß, dass ich verrückt bin. Ich bin krank, Mutter, sehr krank. Ich habe wieder Kopfschmerzen. Aber du kannst mir nicht mehr helfen, nicht mehr.“

„Na, dann ist ja gut“, meine Mutter wird wieder ruhiger.

„Mama? Nimmst du mich in den Arm, Mama? Ich weiß, dass du da bist. Ich weiß es. Komm, sei lieb zu mir. Hab keine Angst. Nimm mich in den Arm. Bitte. Du brauchst keine Angst zu haben, nicht vor mir. Ich bin doch brav und lieb.“

Kurz hatte ich das Gefühl, dass sie sich aufregen könnte. Das darf sie nicht, nein, sie soll sich nicht aufregen, sie will doch ihre Ruhe haben. Immer wieder geht mein Arm in die Höhe oder ich drehe den Kopf. Es sieht aus, als unterhalte sie sich mit mir. Ich stehe in der Tür. Oder für jemanden, der von außen hinein schaut, stehe ich in der Tür. Gut, dass ich weiß, was ich tue.

„Ich habe eine Idee“, sage ich, „warum gehst du nicht noch ein bisschen in den Garten? Dann sind wir sicher, dass sie uns sehen. Sie brauchen das heute, glaube ich, um sich wieder abzuregen und nicht noch aufdringlicher zu werden. Es ist noch hell genug, aber nicht zu hell. Genau richtig. Was meinst du? Sonst werden sie zu schnell noch nervöser. Wer nervös ist, stellt blöde Frage und wird aufdringlich und verschwindet eines Tages.“

„Gute Idee, aber geh nicht zu schnell.“

„Klar, ich weiß, deine Hüfte.“

Ich stemme mich etwas mühevoll hoch und bleibe kurz stehen, um den Kreislauf nicht zu überfordern.

„Mach mich nicht älter als ich bin“, sagt Mutter ein wenig pikiert. „So schlimm ist es dann auch wieder nicht. Außerdem habe ich noch alle beisammen.“

„Entschuldigung.“

Dann drehe ich mich zur Seite und stelle die Tasse, aus der Mutter gerade eben ihren Kräutertee getrunken hat, in die Spüle. Anschießend ein kurzer Blick aus dem Fenster, ohne die Gardine beiseite zu schieben. Ein Auto fährt langsam vorbei. Elisabeth. Sie schaut herüber. Ich winke. Mutter winkt.

„Perfekt!“, flüstere ich. „Miststück, altes, dreckiges, ungeficktes Miststück.“

Sie winkt ebenfalls. Ich meine so etwas wie Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen. Vielleicht sehe ich auch etwas, das mir vollkommen fremd ist.

Ich mache das Licht in der Küche aus und gehe durch den Flur in das Esszimmer. Von dort betrete ich über die Terrasse den Garten. Das Haus wird zum Garten hin auf der Rückseite von einer großen Terrasse eingerahmt. Über die Terrasse kann man auch in mein Arbeitszimmer gehen, doch da ist der Rollo seit Wochen unten. Arbeit. In der Dunkelheit. Ich habe viel zu tun, es geht gut voran. Das will ich nicht gefährden.

„Die Bücher sind lichtempfindlich“, meint Klaus-Peter immer.

„Du und deine Bücher“, sagte Mutter oft.

Mutter bleibt auf der Terrasse stehen und schaut sich um. Sie atmen tief ein und aus und genießt die frische Luft, nachdem sie so lange im Haus gewesen ist. Sie kommt nur noch selten dazu, frische Luft zu atmen. Der Garten ist von zwei Seiten mit Bäumen und Büschen zugewachsen.

„Wenn du willst, dass dich jemand sieht“, sage ich zu Mutter, „dann musst du hinten zum Freisitz.“

„Ist das nicht zu riskant?“, fragt sie. „Vielleicht reicht es, hier zu sitzen. Engel können doch von oben hier rein gucken. Die warten doch bestimmt schon darauf, mich zu sehen.“

Das hat mich immer schon gestört. Es gibt einen Bereich auf der Terrasse, den kann man einsehen. So wie mit dem Garten. Aber jetzt ist das gut. Mutter will und soll ja gesehen werden. Die Engels sind die direkten Nachbarn. Großes Haus und hoch. Als hätten sie geahnt, dass unsere Bäume und Sträucher hoch wachsen werden.

„Und wenn jemand vorbeikommt und mich anspricht?“, fragt Mutter.

„Brummen, winken und wegdrehen“, sage ich. „So machen alte Leute das doch.“

„Werd nicht frech, so alt bin ich doch noch gar nicht. Ich stecke noch voller Leben.“

„Das meinst du vielleicht“, flüstere ich und kichere.

„Dann mal los“, sage ich dann. Es kann losgehen.

Sie schweigt, schüttelt nicht einmal den Kopf oder tut ansatzweise entrüstet.

Mutter macht einen Schritt nach vorn, dann einen zweiten und hat die Treppe erreicht, die zum Garten hinunter führt. Sie hält sich am Geländer fest, sicher ist sicher. Langsam geht sie hinunter, es sind immerhin zehn Stufen. Vater hatte das Geländer anbringen lassen, als Oma unsicher auf den Beinen wurde. Auch das macht jetzt alles Sinn. Ich grinse vor mich hin.

„Hör auf damit“, zischt Mutter. „So habe ich nie gegrinst.“

„Lass mich doch, das ist Altersgrinsen.“

„Ha, dass ich nicht lache, Altersgrinsen, so was gibt es doch gar nicht.“

„Doch“, sage ich trotzig, „hier schon. Wenn ich mal alt bin, dann grinse ich so.“

Ich grinse so.

„Los, geh weiter, so langsam brauchst du auch wieder nicht zugehen. Ich will das hinter mich bringen.“

„Fängt doch gerade an, Spaß zu machen“, sage ich und mache mich auf den Weg durch den Garten.

„Der Garten ist groß“, meint Mutter, aber sie klingt zufrieden.

„Ja, Mutter, der Garten ist groß. Aber sehr schön und er hat Vorteile.“

Ich schaue zur großen Holzkiste neben dem Komposthaufen. Da passt einiges rein, denke ich zufrieden. Ich sehe die vielen Fliegen, die um die Kiste und um den Kompost herumschwirren. Ich höre sogar das Brummen und Summen. Die Kiste ist mit einem großen Schloss gesichert. Irgendein blöder Nachbar könnte auf noch blödere Gedanken kommen. Der Hund eines Nachbarn war eines Tages verschwunden, Sachen gibt es. Angefangen hat es mit diesem blöden Köter, der an mir hochgesprungen ist und mein Bein ficken wollte. Eines Tages hat es einfach gereicht. Ich war zwölf. Eigentlich wollte ich ihn nur abschütteln, aber ich habe ihn mit meinem Schuh so erwischt, dass er aufjaulend mit dem Schädel gegen die Mauer schlug. Er winselte und zuckte und starrte mich mit seinen blöden, geilen Augen an. Ich beugte mich zu ihm hinunter und schaute zu, wie Blut aus seinem Maul floss. Ich sah Angst in seinem Blick und spürte, dass ich ruhiger wurde. Er war so gegen die Steine geschlagen, dass der Schädel gebrochen sein musste. Er starb und ich sah ihm dabei zu. Ich sah, wie seine Augen leer wurden. So leer. Und starr. Und ich wurde immer ruhiger. Das beunruhigte mich erst einmal. Aber die Unruhe dauerte nicht lange.

Ich sah den Tod, wie er Besitz von diesem Tier ergriff. Einfach so. Ich weiß bis heute nicht, ob ich erschüttert war im Angesicht des Todes. Aber man kann ihn sehen, den Tod. Er kündigt sich an und dann nimmt er das Leben aus dem Körper und ist da. Der Tod. Er erklärt sich nicht, er rechtfertigt sich nicht, er entschuldigt sich nicht. Er kommt und ergreift Besitz vom Leben und nimmt es mit, für immer. Ich starrte wie hypnotisiert auf diesen Hund, der eben noch seinen Spaß an meinem Bein hatte. Ich hatte das immer gehasst, dieses Gejuckel. Und die Flecken an der Hose. Aber das hatte ja ein Ende. Lust und Tod kommen sich manchmal verdammt nahe. Das hatte ich an diesem Nachmittag gelernt. Der Hund suchte Lust und Befriedigung und in seiner Gier fand er den Tod. Ich hatte ihm diesen Tod bereitet. Statt betrübt und traurig zu sein, spürte ich ein bisher unbekanntes Gefühl. Erst viel später wusste ich, welches Gefühl es war, dass es das Gefühl der Macht war. Die Macht über Leben und Tod. Davon wollte ich mehr. Ich wollte es beobachten. Und selber herbeiführen. Ich führe es selbst herbei.

 

Tja, das war der Erste, aber nicht der Letzte, der sein Leben aushauchte, weil er nervte.

„Und du meinst, dass das nicht zu auffällig ist?“, fragt Mutter.

„Aber nicht doch“, antworte ich und schlurfe weiter. Vielleicht muss ich noch etwas mehr hinken.

„Nein, Klaus-Peter“, sagt Mutter, „das machst du sehr gut. Nicht zu wenig und nicht zu übertrieben.“

„Danke!“, sage ich zufrieden.

Ich bin der kleine Junge, den jedes Lob zwei Zentimeter größer und stolz gemacht hat. Als ich klein war, kam mir der Garten riesengroß vor, obwohl die Bäume und Sträucher natürlich kleiner waren. Trotzdem war es ein Paradies. Verstecken, Fangen und Geheimnisse haben, das alles war in diesem Garten möglich. Am schönsten war es in den Ferien oder an den langen Wochenenden, wenn die Cousins und Cousinen da waren. Die hatten hier alle Platz. Wenn einige übernachteten, war das noch besser, dann war das Spielen im Garten noch aufregender, aber nicht nur das Spielen. Dann waren die Geheimnisse dran. Kinder können wirklich merkwürdig sein, wegen ihrer Neugierde. Wenn diese Bäume und Sträucher reden könnten, sie stecken vollen dunkler Geschichten und feuchter Träume. Ich liege heute noch gern in einer Ecke und träume mir das Leben, so wie ich es brauche, manchmal werden Geschichten daraus. Und manchmal wird das Leben zur Geschichte. Wie immer ich es brauche. Ich schreibe es auf, das habe ich gelernt. Das kann ich. Dafür mache ich, was nötig ist. Alles, was nötig ist. Und wenn das Leben anders gewesen ist.

„Nein, Mama, nicht. Ich bin wieder lieb. Ich bin doch lieb. Ich mach es auch nicht wieder. Aber lass mich nicht wieder allein, bleib. Bleib, nimm meine Hand, wenigstens meine Hand. Bitte. Mama?!“

„Allerdings“, sagt Mutter.

„Oh, hab ich fast vergessen, du hörst ja mit.“

„Ich weiß mehr als du denkst und mir lieb ist.“

„Jetzt hast du aber auch gegrinst.“

„Eigentlich müsste es mir die Schamesröte ins Gesicht treiben“, sagt sie.

„Was weißt du denn?“, frage ich vorsichtig, aber auch sehr neugierig.

„Ich war selber Kind“, sagt sie ein wenig verträumt, aber vollkommen unbestimmt.

„Ach, ja!“, meine ich.

„Ja, aber das gehört nicht hierher. Wir haben eine Mission zu erfüllen.“

Sie schreitet etwas zu selbstsicher und forsch aus, ich muss sie bremsen. Als ich hoch schaue, sehe ich Licht in den Fenstern einiger Nachbarn. Und dann höre ich das Brummen eines Autos. Ich bin im hinteren Teil des Gartens angekommen und Mutter ist von dieser Seite aus gut sichtbar. Ich drehe mich um.

Das Auto hält.

„Lena!“, höre ich die Stimme von Elfriede. „Lena! Wie geht’s?“

Mutter hebt den Arm und grüßt beiläufig und abwesend. Ich hasse das, ich hasse es, dass ich die meisten Nachbarn mit Namen kenne. Sie dürfen eigentlich keine so große Bedeutung haben. Aber ich muss ihnen ja Namen geben. Ich brauche Namen.

So ist sie, denke ich. So kennen sie die Nachbarn.

„Gut!“, versuche ich es. Und warte.

Mutter galt als eigensinnig. Dafür hat sie Vater geliebt. Ich stelle es mir jedenfalls so vor. Sie hatte einen eigenen Kopf und eine eigene Vorstellung von ihrem Leben. Das hat einige gestört und sie hat damit einige vor den Kopf gestoßen. Das war ihr egal. Ihr war vieles egal, besonders, was die Leute über sie dachten. Wer sein Leben leben will, dem muss vieles egal sein. Besonders wichtig ist es, Entscheidungen zu treffen, ohne darüber nachzudenken, was andere davon halten. Entscheidungen treffen.

„Hoffentlich steigt die jetzt nicht aus“, sage ich.

„Das Tor ist doch zu, oder?“, will sie wissen.

Den hinteren Teil des Gartens kann man auch von dieser Seite erreichen. Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das Tor auch wirklich abgeschlossen ist. Das Tor vor dem Haus war nicht abgeschlossen. Das passiert normalerweise nicht. Woher kommt diese Nachlässigkeit?

„Du wirst nachlässig“, flüstert Mutter, um mir das auch noch zu bestätigen.

„Ich weiß auch nicht“, meine ich und frage mich, ob das Tor wirklich zu ist. Warum könnte ich es vergessen haben? Ich gehe doch fast nur vorn rein.

Wenn Mutter sich jetzt umdrehen würde, um zum Tor zu gehen, würde Elfriede das mit Sicherheit als Aufforderung auffassen und bestimmt aussteigen und mit Lena reden wollen. Dafür ist es nicht dunkel genug. Ich gehe langsam und leicht hinkend Richtung Haus. Und ich weiß nicht, ob ich das mit der Stimme hinbekomme.

„Ich komm morgen mal vorbei!“, ruft Elfriede hinter Mutter her. Mutter hebt den Arm und schlurft langsam weiter.

„Bleib ganz ruhig“, sagt Mutter.

„Ich bin ruhig“, beruhige ich sie.

„Gut, sehr gut.“

Dann höre ich den Motor aufheulen. Der Mann von Elfriede, seinen Namen konnte ich mir allerdings nie merken, kann noch immer nicht richtig Auto fahren. Er gibt zu viel gas und lässt die Kupplung zu langsam kommen.

„Scheiße“, sage ich, „die kommt morgen vorbei. Und ich dachte, das bisschen Theater würde reichen.“

„Fluche nicht immer so rum“, schimpft Mutter, aber ich weiß, dass sie das nicht böse meint.

„Ja, Mutter.“ Ich denke nach. Dann füge ich hinzu: „Ich glaube es reicht für heute. Die paar Meter noch und dann ist Ende der Vorstellung.“

„Okay“, sagt Mutter, „war auch anstrengend genug.“

„Besonders dieses Schleichen.“

„Motz doch! Wenn du in mein Alter kommst, dann wirst du froh sein, noch so gut zu Fuß zu sein.“ Sie klingt nicht beleidigt.

„Ja, Mutter. Du hast natürlich Recht.“

„Ich will nicht Recht haben, Klaus-Peter“, sie stöhnt meinen Namen, weil sie die Treppe zur Terrasse hochgeht, „ich will ins Bett.“

„Und genau da gehen wir jetzt hin. Aber nicht ins Bett.“ Ich muss wieder grinsen.

Noch ein paar Meter, denke ich, denn ich will kein Risiko eingehen, dann habe ich die Tür erreicht und hinter mir geschlossen.

Nachdem ich alles an seinen Platz gelegt habe, gehe ich wieder hinunter und hole mir aus der Küche eine Flasche Wasser. Ich lausche. Es ist alles still, so wie es sein sollte. Dann gehe in mein Arbeitszimmer, nicht ohne hinter mir abzuschließen. Niemand soll mir über die Schulter schauen bei dem, was ich noch machen werde, was ich noch machen muss und will. Es ist Zeit.

Michaela ist bereits kalt, aber unvergessen. Durch Buchstaben und Wörter in einer Geschichte verewigt, zur Geschichte verarbeitet. Besser als ihr schäbiges, unbedeutendes Leben, das sie geführt hatte. Vielleicht wird ihr Mann sie vermissen. Ich habe gar nicht gefragt, ob sie Kinder hatte. Egal. Ist jetzt unwichtig. War es immer schon. Für mich. Macht keinen Unterschied. Für mich. Ihr Mann wird sie vermissen, aber nicht finden, denn es gibt keine Leiche. Sie werden keine Leiche finden. Er wird sie sein Leben lang vermissen und mit der Möglichkeit leben müssen, da sie irgendwo ein anderes Leben ohne ihn lebt. Ich weiß es besser. Sie lebt nur noch ein Leben in einer Geschichte. Vielleicht liest er sie eines Tages. Und wird sie erkennen oder nicht. Er wird sie vermissen, vielleicht etwas länger oder schneller sich trösten mit einer anderen, er kann trauern, mehr kann er nicht tun. Er wird bei einer anderen Trost finden. Jeder ist ersetzbar, austauschbar. Ich weiß das. Keine Leiche, kein Verbrechen. Und hier werden sie nicht suchen. Hier nicht.

Ich nehme das kleine Geschenk aus dem Paket. Ein Finger, ein Zeh und die Krönung. Ich nahm ihr, was ihr Lust bereitet hatte. Und mir, selbstverständlich. Und ein bisschen mehr. Verpackt in verschließbare Tiefkühlbeutel. Ich habe eine große Tiefkühltruhe. Erinnerungen. Und Geschichten.

Ich lächle bei dem Gedanken an das Risiko, das ich eingegangen bin. Aber die Beutel waren fest verschlossen. Und dass man ein Paket mit diesem Inhalt bekommt, lässt ja nicht unbedingt darauf schließen, dass man auch der Absender ist. Der Postbote. Ich denke auch an den Postboten, der mir dieses Paket überreicht hat. Ich lächle über ihn und über mich, der ich mich wieder einmal selber übertroffen habe.

Aber es reicht noch nicht. Ich brauche mehr. Unersättlich. Wie ich bin. Im Internet finde ich, wonach mich verlangt. Dort findet man die Menschen, die eine eben, um mir den Tag, die Nacht und das Leben zu versüßen. Die mich rausholen aus meiner Dunkelheit, kurz nur, damit ich sie hinein ziehen kann in meine Finsternis.

5.

Nachdem ich Michaelas Erinnerungen tiefgefroren habe, schaue ich noch einmal im Keller nach meinem aktuellen Experiment. Nein, das ist falsch. Es sind nicht Michaelas Erinnerungen. Die habe ich ihr genommen. Das einzige, was bleibt, wenn man alt wird. Es sind meine. Meine Erinnerungen. Ich nehme sie mit und bewahre sie. Michaela hat keine Erinnerungen mehr. Ich werde mich an sie erinnern können, jederzeit.

Ich schaue auf den Bildschirm. Und trete ein in meine Welt. Sie liegt auf dem Bett. Ich sehe nicht, ob sie schläft. Sie liegt mit dem Rücken zu mit. Die Lautsprecher bleiben stumm. Obwohl sie nackt ist, muss sie nicht frieren. Der Raum, in dem sie sich befindet, ist warm. Angenehm. Es soll an nichts mangeln. Ich bin ihr Hirte. Ich kümmere mich um sie. Ja. Sie kann sich nicht unter einer Decke vor meinen Blicken verbergen, sich nicht schützen. Wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander. Nichts, was mir verborgen bleibt. Anscheinend hat sie sich daran gewöhnt. Es hat eine Weile gedauert bis sie sich entspannt hat. Die Embryonalstellung im Schlaf hat sie noch nicht aufgegeben. Ist vermutlich unbewusst. Das geht nur, wenn sie nicht gefesselt ist.

Das Bett steht mitten im Raum, so dass sie sich nicht gegen eine Wand lehnen kann. So hat sie auch das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Sie weiß nicht, wo vorn oder hinten ist. Sie ist nur noch an einem Fußgelenk gefesselt. Diese Freiheit hat sie sich verdient. Die Augenbinde ist Pflicht. Das hatten wir schon. Das Problem, wenn sie die Augenbinde abmacht. War nicht schön, auch für mich nicht. Ich mag das nicht, wenn ich sie zwingen muss etwas zu tun, was doch nur selbstverständlich ist. Wir haben unsere Regeln. Außerdem, solange sie mich nicht sieht, darf sie die Hoffnung haben, dass sie hier auch wieder heraus kommt. Hoffnung. Resignation sieht anders aus.

Als sie zum ersten Mal in diesem Raum zu sich gekommen war, waren ihre Augen bereits verbunden, sie war nackt und es war vollkommen dunkel. Und still. In diesem Raum ist es absolut still. Man hört nur sich selbst, nicht einmal das Haus. Die Geräusche des Hauses dringen nicht bis in diesen Raum hinein. Auch die Geräusche des Raumes dringen nicht aus ihm heraus. Es kommt nur das rein, was ich will und es kommt nur das raus, was ich will. Ich bestimme Tag und Nacht.

Den Mund hatte ich ihr nicht geknebelt, das musste ich ja nicht. Sie muss ja essen, trinken und so weiter. Aber wirklich geschrieen hat sie nicht. Keine panischen Rufe, kein verzweifeltes, hysterisches Kreischen. Nein, sie ist ruhig. Fast schon beängstigend still. Hm! Als würde sie das kennen.

Als sie zum ersten Mal erwachte und merkte, dass sie nackt und gefesselt war, schrie sie. Das heißt, sie wollte schreien, aber sie bekam keinen Ton über die Lippen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Dann fing sie an, an den Seilen zu zerren. Vergeblich. Sie zitterte. Ihre Haare sträubten sich. Überall. Ich konnte es gut sehen. Überall. Ich kann es in Zeitlupe sehen. Ganz nah, Großaufnahme. Faszinierend und beeindruckend zu welchen eindeutigen Reaktionen der menschliche Körper fähig ist.

Ich hatte sie so an das Bett gefesselt, dass sie sofort das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit spürte. Ihre Hände hatte ich rechts und links über dem Kopf gefesselt. Ebenso die Beine. Sie waren gespreizt. Eine doppelte Kreuzigung. Sie lag auf dem Rücken. Schutzlos und hilflos meinen Blicken ausgeliefert. Und meinen Händen, meiner Zunge und sonstigen Gegenständen. Ausgeliefert. Sie fühlt sich ausgeliefert.

 

Nachdem sie aufgehört hatte an den Seilen zu zerren, betrat ich leise den Raum. Aber nicht so leise, dass sie mich nicht hören konnte. Ich sah ihr an, dass sie horchte und darauf wartete, dass etwas geschehen würde. Ich ging langsam zu ihr und blieb neben dem Bett stehen. Sie hörte meinen Atem, sonst nichts. Und sie hörte ihren eigenen Atem, der immer schneller wurde. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch und nervös. Ihre Brüste zitterten leicht und schaukelten etwas. Sie erwartete das Schlimmste, sie erwartete meine Berührung, früher oder später, dort, wo sie sie nicht haben wollte. Sie versuchte die Beine zusammen zu drücken. Vergeblich. Und dann entfuhr ihr doch noch ein Schrei. Kurz, nur, spitz. Dann wieder Stille. Wieder erwartete sie mich. Meine Berührung. Berührung welcher Art?

Das hat mich an diesem Raum schon immer fasziniert. Hier drinnen ist es so still, dass es einen in den Wahnsinn treiben kann, wenn man denn einen Sinn darin sucht, warum es so still ist und es nicht akzeptieren kann, mit sich selbst konfrontiert zu werden, nur mit den Geräuschen konfrontiert, die man selber von sich gibt. Atmen. Herzschlag. Puls. Glucksen. Blähungen. Hunger. Weinen. Die eigene Stimme. Irgendwann fangen sie an zu sprechen. Ich bräuchte das nicht. Auch die Hilflosigkeit und die Verzweiflung machen Geräusche.

Wenn einem alles genommen wird, wird man eines Tages sterben oder ich werde mit mir selbst konfrontiert. Wenn ich bis dahin durchhalte, offenbart sich das Innerste, das wahre ICH. Ich kenne mein Innerstes, meine Bestimmung. Ich bin mir begegnet. Ich habe mich mir offenbart. In der Dunkelheit. Vollkommen allein. In der Stille.

„Mama, du brauchst nicht mehr, du brauchst mir nicht zu helfen. Du kannst gehen. Ich bin nicht allein, nicht mehr.“

Mein Hirte ist gekommen, er führt mich nun aus der Finsternis. Er führt mich zum frischen Wasser. Er weidet mich auf einer grünen Aue.

Ich hör seine Stimme. Sie kommt aus der Stille und aus der Dunkelheit zur mir. Sie spricht zu mir. Ich bin nicht allein. Nicht mehr allein. Alles ist in meinem Kopf. Es passiert in meinem Kopf.

„Wer sind Sie?“ Sie hielt es nicht aus.

Zehn Minuten ist schon lang. Ich schwieg.

„Was wollen Sie von mir?“

Ich schwieg und beobachtete.

„Bitte!“

Ich stieß mit dem Bein gegen das Bett.

Sie zuckte zusammen und schrie auf.

„Nein! Bitte nicht!“

Ich schwieg.

Orientierungslosigkeit ist sehr unangenehm und treibt einen in die Verzweiflung. Sie wusste nicht, woher der Stoß gekommen war. Sie wusste nicht, wo ich war, sie wusste nicht, aus welcher Richtung die Bedrohung kam. Sie wusste nicht, worin die Bedrohung bestand. Sie hatte sich ihr noch nicht offenbart. Dass sie selbst die größte Bedrohung war, konnte sie nicht wissen.

Sie fing an zu schluchzen und weinte.

Als sich zwischen ihre Beine schaute, sah ich den Grund. Ein größer werdender Fleck. Angst.

„Bitte! Tun Sie mir nichts.“

„Hebe den Kopf.“

„Bitte?“

„Hebe den Kopf .“

Zögernd hob sie den Kopf.

„Öffne den Mund.“

Ich sah, wie sich ihre Lippen öffneten, sah wie ihre Zunge etwas nach vorn kam, sich nervös bewegte. Ihre Lippen zitterten, ihre Wangen zitterten, ihr Kinn zitterte.

„Weiter.“

Sie öffnete die Lippen weiter und ich hielt ein Glas mit Wasser an ihren Mund. Sie trank. Vorsichtig, dann gierig. Ich beobachtete, wie sich ihr Hals beim Schlucken bewegte.

„Danke“, sagte sie.

„Du wirst viel trinken müssen, das ist wichtig.“

Ich wischte ihr einen Tropfen Wasser mit dem Finger vom Kinn. Sie zuckte bei meiner Berührung zusammen.

„Keine Angst“, sagte ich ruhig. Die brauchte sie noch nicht zu haben. Sie würde kommen. Die Angst, aber jetzt noch nicht, es war noch zu früh.

Sie legte den Kopf zurück auf das Kissen.

„Wo bin ich?“

„Das wirst du schon noch herausfinden, früher oder später“, sagte ich und lächelte.

Ich kann den Raum vollkommen abdunkeln. Sie bewegt sich nicht, als ich die Tür öffne und eintrete. Ich ziehe die Tür leise zu und gehe langsam zu ihr und setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett. Das Bett ist fest am Betonboden festgemacht. Und sie am Bett. Sie atmet ruhig und rührt sich nicht. Und trotzdem spüre ich ihre Erwartung. Sie wartet. Und bleibt so liegen: auf der rechten Seite, den Kopf auf dem Kissen, die Arme vor dem Oberkörper, die Beine leicht angezogen, den Hintern leicht nach hinten gestreckt. Ihre Haut spannt sich um ihren Körper, die Beine sind geschlossen und liegen aufeinander. Würden sie sich öffnen, wenn meine Hand jetzt langsam und sanft ihren Rücken entlang streichen würde, über ihren runden Hintern weiter nach unten wandern würde, um ihr Ziel zu finden? Würden sie sich öffnen und mich empfangen? Warm, weich, feucht, lustvoll? Gierig nach mehr?

Es ist Zeit, denke ich, ja es ist Zeit. Ich spüre es. Die Erregung kommt. Sie ist stark. Ich habe es nicht mehr lange unter Kontrolle. Meine Hände zittern. Mein Herz schlägt schneller. Sie hat eine so wunderbare, zarte Haut. So weich, so zart, so warm. So sehnsüchtig. Und gierig.

Meine Hand zittert. Ich sehe es. Ich strecke sie nach ihr aus. Sie ist so nah. So greifbar nah. Fast berühre ich sie schon. Ich spüre bereits ihre Wärme, ihr leichtes, begehrliches Zittern. Sie spürt meine Nähe.

Aber ich halte es aus. Und sie auch. Sie bleibt liegen und bewegt sich nicht. Sie hat meine Hand erwartet. Sie schläft nicht, sie ist wach. Ich spüre ihre Erregung, ihr Verlangen.

Ich stehe auf und als ich an der Tür bin, höre ich wie sie den Kopf hebt, ich spüre, dass sie etwas sagen will, es sich anders überlegt und dann höre ich sie seufzen.

Und ich verlasse diesen Raum.

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