Die verborgenen Geheimnisse

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Z serii: Das Verborgene #1
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Das ausgelassene Abendessen

Es war nicht Ismars erste Reise, aber die mit Wigandus war eindeutig die seltsamste davon. Dessen Laune verschlechterte sich mit jedem Tag, auch wenn er tapfer versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihm fehlten vor allem ein gemütliches Bett und wohl auch andere Annehmlichkeiten, die das Leben in der Stadt bieten konnte. Auch war ersichtlich, dass er zwar reiten konnte, aber mögen tat er es nicht. Die ersten beiden Tage war er bemüht, Ismar Mut zuzusprechen, doch ab dem dritten Tag wurde die Reise zunehmend schweigsamer. Als sie am elften Tag am frühen Nachmittag ankamen, beschränkte sich ihr Wortwechsel nur mehr auf das Nötigste. Auch der Abschied fiel recht kurz aus. Wigandus lieferte ihn beim hiesigen Abt ab, händigte den im Namen des Bischofs verfassten Brief aus und verabschiedete sich mit den Worten, dass er weiter müsse. Schon seltsam, dachte Ismar, als er die erste Nacht in seinem neuen Bett lag, wie sich Menschen auf Reisen verändern können.

Er lag an diesem Abend lange wach. Er wusste, dass sein Leben ab Morgen ein ganz anderes sein würde, schließlich kannte er auch Jungs, die im Kloster waren. Sein Empfang hier hätte schlimmer sein können. Der Abt wirkte streng, aber nicht unmenschlich. Der Mönch, der sich seiner angenommen hatte, Bruder Baldemarus, war allerdings sehr reserviert geblieben. Ismar fragte sich ob Lachen im Kloster überhaupt gestattet war. Er lag auf dem Rücken und musste schlucken, als er an all die Späße dachte, die er hier wohl nicht mehr machen konnte. Er dachte an Caspar, an Michel und an Haman und vermisste sie jetzt schon. Die Gedanken an seine Eltern versuchte er zu verdrängen, doch auch sie geisterten ihm durch den Kopf und ließen den Drang nach Späßen verfliegen. Er fragte sich, wie es wohl seiner Schwester ging. Wigandus hatte ihm nicht genau gesagt, wo sie war, da er es wohl selbst nicht wusste. Ohnehin schien Wigandus auf einmal viel mehr nicht zu wissen, als Ismar das bei ihm gewohnt war.

Wigandus hatte ihm versprochen ihn im Alter von fast einundzwanzig abholen zu kommen. Das waren noch elf lange Jahre, dachte Ismar und richtete seinen Blick in den dunklen Raum.

Sieben weitere Betten standen in dem Zimmer, das kleiner war als sein Schlafgemach zu Hause. Die anderen hatten keine Probleme zu schlafen. Zwei waren in etwa sein Alter, die anderen jünger oder älter. Zwei wussten nicht einmal genau wie alt sie waren. Vor dem Schlafengehen, hatten sie erzählt, dass sie ausgesetzt worden waren.

Ein Mönch hatte sie zwischendurch unterbrochen, um zu sagen, dass endlich Ruhe sein sollte, doch später war er nicht mehr zurückgekehrt, und so hatten sie Ismar ausgefragt und auch von sich erzählt. Es schien für alle ein recht aufregendes Ereignis zu sein, wenn ein Neuer kam.

Die Geschichte, die er als die Seine erzählte war mit Wigandus besprochen und in weiten Zügen entsprach es der Wahrheit, aber nur soweit, dass keine Gerüchte aufkamen, wer er wirklich war. Nicht einmal der Abt kannte die Geschichte und selbst ein Großteil seines Erbes, das der Bischof verwahren sollte, würde die Abtei nie sehen. Wigandus hatte ihm dies alles erklärt, damit Ismar wusste, auf welchen Empfang er sich einstellen sollte.

Je schneller du dich anpasst, so hatte sein Lehrer ihm als Rat gegeben, umso einfacher wird es für dich werden. Du wirst die Abtei nicht ändern, aber sie zur Not dich. Diese Worte geisterten Ismar nun durch den Kopf. Vergiss nicht wer du bist, vergiss nicht, was du möchtest, aber egal was du zu tun gedenkst, die oberste Regel, merk dir das gut, lass dich nicht erwischen.

Ismar war sich bewusst, dass sich sein Leben grundlegend änderte. Während er dem gleichmäßigen Atmen der Schlafenden zuhörte, schwor er sich darauf ein. Es galt die neuen Gesetzmäßigkeiten auszuloten, ohne sich zu oft den Kopf zu stoßen. Das waren immer Hamans Worte gewesen, wenn Ismar wieder Ärger bekommen hatte. Du musst lernen mit dem Strom zu schwimmen, wenn er dich dorthin trägt, wo du hin möchtest, und dich aus der Strömung zu halten, wenn er es nicht tut. Er hörte Hamans lachende Stimme und ihm wurde es leichter ums Herz. Bald darauf war er eingeschlafen.

Am folgenden Morgen verstand er, warum die Anderen so leicht eingeschlafen waren. Es war unmenschlich früh als sie geweckt wurden. Dabei wurde wenig Federlesen gemacht und Ismar musste sich arg überwinden, um sich nicht gleich eine Blöße zu geben. Baldemarus, einer der wenigen Mönche, der sich vorrangig um die Novizen kümmerte, ließ Ismar nicht aus den Augen. Scheinbar wartete er nur darauf, den Neuen zurecht zu weisen.

„Nimm dich vor ihm in Acht“, flüsterte der kleine Utz, ein Knabe, der etwas jünger war als Ismar. Er hatte gemerkt, dass auch Ismar Baldemarus beobachtete. „Der sucht nur nach einem Grund, einen von uns zu betrafen.“

„Danke, kein Bedarf“, grinste Ismar ihm im Halbschlaf zu. „Die Freude mach ich dem nicht. Danke für die Warnung.“

„Ruhe“, raunte Baldemarus. „Vor der Andacht wird nicht gesprochen.“ Unschlüssig blickte er sich um, da er nicht wusste, wer gesprochen hatte. „Ich habe dich im Auge. Dass du mir keinen Ärger machst“, schoss er seinen ersten Pfeil auf Ismar ab.

Ismar entgegnete nichts, rollte nur übertrieben mit den Augen, als Baldemarus sich umdrehte und brachte Utz damit fast zum Lachen.

Die Morgenandacht war so langweilig, wie es sich anhörte und Ismar hatte Mühe sich gegen das Einschlafen zu wehren. Baldemarus hielt sein Versprechen und verweilte vorrangig in Ismars Nähe. Das war nervig, aber Ismar nahm die Herausforderung an.

Das Frühstück war recht karg und musste, wie sollte es anders sein, schweigend eingenommen werden. Nein, das war kein Leben für ihn, dessen war er sich schnell bewusst.

In den folgenden Tagen und Wochen musste er unzählige Male lernen, dass nichts was er konnte, den Vorstellungen des Klosters entsprach. Seine Schrift war zu ungestüm. Seine Wortwahl zu wenig gottesfürchtig. Erst recht sein Tatendrang war ein häufiges Ärgernis und wo immer er ein Schlupfloch suchte, war es, als würde jemand seine Gedanken lesen und sich einen Spaß daraus machen, seine Pläne zu durchkreuzen. Bald hatte auch seine Ausrede, dass er sich verlaufen hatte, ausgedient und nicht Wenige beäugten ihn misstrauisch, wenn sie ihm alleine begegneten.

Die Strafen, die er hier erfuhr, bereitetem ihm weit weniger Freude, als er es gewohnt war. Ständig musste er irgendetwas abschreiben. Oft waren es Notizen des Kochs mit den Vermerken, was sie verbraucht hatten. Baldemarus wurde dabei nicht müde, ihm Schläge anzudrohen, wenn zu Beginn der Erntezeit die Inventur nicht aufging, weil er sich verschrieben hatte. Widerworte führten allzu leicht zu neuerlichen Strafen und so schwieg er. Das Schreiben war monoton und bald schmerzte sein Handgelenk auch zu sehr. Beinahe hätte er darum gebettelt, irgendetwas anderes zu machen, und wäre es nur in der Küche zu helfen, das Gemüse zu schneiden. Doch scheinbar waren diese Strafen eher den Lieblingen im Kloster vorbehalten, wenn es beispielsweise Gruppenstrafen gab, weil abends Unruhe im Schlafzimmer herrschte, oder weil einer während einer Andacht eingeschlafen war.

Doch ohnehin hatte Ismar bemerkt, dass wenn die falsche Person wusste, was einem Freude bereitete, dass man sich dann sicher sein konnte, keine Gelegenheit mehr zu finden, es zu tun. So war es Ismar mit den Lesungen ergangen. Weil ihm das Reden fehlte, fand er schnell Gefallen daran, und schlecht war er auch nicht. Während die meisten Kinder diese Aufgabe scheuten, hatte er den Fehler gemacht, sich zu oft freiwillig zu melden, einzig um sprechen zu dürfen, und bald kam er gar nicht mehr dran.

„Sei bei der Sache. Du hast wieder nur Flausen im Kopf“, rügte ihn Baldemarus, der ebenfalls im Schreibzimmer war, um eine Buchkopie zu erstellen und gleichzeitig darüber zu wachen, dass Ismar seiner Strafarbeit nachging.

„Nein“, widersprach Ismar und sein Grinsen wurde noch breiter. Ihm war eine Idee gekommen und er genoss es wie Baldemarus auf einen Streit mit ihm gierte. „Nein“, wiederholte Ismar und legte seinen Kopf nachdenklich zur Seite. Baldemarus nahm bereits tief Luft. „Ich beginne nur Gefallen am Schreiben zu finden“, erklärte Ismar seine gute Laune.

„Was weißt denn du schon“, blaffte er ihn an.

„Wenn ich groß bin, möchte ich ebenso schöne Bücher schreiben können, wie sie Bruder Baldemarus.“ Ismar tat als würde er dessen Ärger nicht bemerken.

„Bücher sind nicht schön. Sie sind lehrreich!“, rügte ihn Baldemarus, da er keine andere Möglichkeit sah Ismar zu strafen.

„Mag sein“, blieb Ismar unbeirrt. „Aber es ist dennoch eine Kunst, so lehrreiche Bücher zu schreiben.“ Ismar nutzte was Wigandus ihm an Rhetorik gelehrt hatte. „Ich muss deshalb lernen, mit meiner Aufgabe eins zu werden.“ Ismar erlaubte sich nur ein kurzes Grinsen, senkte den Kopf und schrieb weiter. Er war sich vollends bewusst, dass Baldemarus ihn nun genau beobachtete.

Ismar spürte förmlich, wie er grübelte, wie er Ismar quälen konnte. Doch scheinbar hatte selbst er Regeln, an die er sich hielt und wenn es keinen Anlass für eine Strafe gab, gab es keinen. Doch war sich Ismar sicher, dass Baldemarus nichts unversucht lassen würde, um Ismar diese Anmaßung zehn und zwanzigfach zurück zu zahlen. Eines war besiegelt, er hatte nun einen Feind auf Lebzeiten. Doch wirklich stören tat es Ismar nicht. Heimlich freute er sich sogar über die Streitigkeiten mit ihm. Es schärfte seinen Verstand und sorgte zudem für einige Spannung in dem ansonsten eintönigen Tagesablauf. Er musste erneut grinsen, während er sich vorstellte, wie er Baldemarus mit Freundlichkeit, Fleiß und dergleichen ärgern würde. Baldemarus war ein einfach gestricktes Gemüt und Wigandus' Lehren nutzten Ismar in vielfacher Hinsicht. Baldemarus war schnell durchschaut. Er hatte selbst nicht viel zu sagen im Kloster und versuchte deshalb seinen Frust an den Kleinen abzulassen und so ein wenig das Gefühl zu haben, über Macht zu verfügen.

 

„Dir werde ich das Grinsen noch abgewöhnen“, konnte Baldemarus nicht mehr an sich halten.

„Das ist aber nicht nett“, zuckte Ismar unbekümmert mit den Schultern.

„Ich werde deinen Ungehorsam melden.“

„Dafür habe ich größtes Verständnis. An einem jedem ist es, seiner Pflicht nachzukommen.“ Ismar musste sich anstrengen nicht laut los zu prusten. Baldemarus' Gesicht schwankte zwischen Wut und Hilflosigkeit.

Ismar senkte den Blick und ließ ihn für den restlichen Nachmittag unten. Auch verkniff er sich ein weiteres Grinsen. Baldemarus stand an seinem Stehpult und tobte innerlich.

Ismar spürte, dass der Bogen bald überspannt war. Dennoch hoffte er, das erreicht zu haben, was er wollte. Diesmal verging die Zeit wie im Flug. Bald war Essenszeit, doch Baldemarus machte keine Anstalten seine Feder niederzulegen oder Ismar zu entlassen. Auch wenn Ismar merkte, dass er weit weniger schnell schrieb als üblich. Selbst als zu hören war, dass die anderen zu Tisch gingen, blieb Baldemarus eisern und stellte Ismar auf die Probe.

Obschon sein Magen knurrend Protest einlegte, gab Ismar keine Schwäche preis. Er musste mit anhören, wie Schüsseln ausgeteilt wurden. Wenig später drangen hölzerne Geräusche der Löffel, die verrieten, wie sich die Schüsseln leerten, über den Flur zu ihnen durch. Ismar schaute dennoch nicht auf. Auch wenn seine Hand fürchterlich schmerzte, schrieb er Wachstafel um Wachstafel die Notizen auf das Papier vor ihm. Einzig Baldemarus' Bösartigkeit verdankte er, dass der Turm vor ihm noch nicht leer war. Baldemarus machte sich gerne einen Spaß daraus, weit mehr Tafeln aus dem Schrank vor ihm aufzutürmen, als irgend möglich war, selbst in zwei Tagen zu schreiben. Inzwischen beschlich Ismar das Gefühl, dass einzig er selbst alle Notizen aus der Küche niederschrieb. Vielleicht war es Baldemarus' Aufgabe und so suchte er sich jemanden, der sie ihm abnahm. Das würde so manches erklären. Ismars Hand juckte schmerzhaft. Es gab aber keinen triftigen Grund, seine Feder niederzulegen und so schrieb er weiter.

Inzwischen waren die Anderen vom Tisch aufgestanden und Stimmen belebten das Kloster. Einige gingen in ihre Schlafgemächer, um sich kurz auszuruhen, andere suchten die Gemeinschaftsräume auf oder zogen sich in die Bibliothek zurück. Es war einer der wenigen Momente im Tagesablauf, die nicht vorbestimmt waren. Wenig später wurde es ruhiger in diesem Teil des Klosters.

Deshalb erschrak Ismar, als plötzlich jemand hinter ihm in der Tür stand. Zum Glück hatte er die Feder eben gehoben, um neue Tinte zu fassen.

„Bruder Baldemarus, ich habe euch am Tisch vermisst“, sprach Vater Ferdinand in nüchternem Ton. Baldemarus verzog sein Gesicht und suchte fieberhaft nach einer Erklärung. Jeder wusste, dass Vater Ferdinand es keineswegs schätzte, wenn jemand dem Abendmahl fern blieb.

„Verzeiht, Vater Ferdinand, es war meine Schuld. Ich habe Bruder Baldemarus gedrängt, dies fertigschreiben zu können.“

Baldemarus' Gesicht verzog sich noch länger, während er versuchte unschuldig drein zu blicken.

„Ismar, lügen ist eine Sünde. Aber dieses Mal will ich sie dir verzeihen.“

Er kam näher an Ismar heran und betrachtete sein Schaffen.

„Deine Schrift entwickelt sich“, begutachtete er, was er sah. Sein Ton ließ dabei offen, ob er es gut oder schlecht fand. „Sind das unsere Verbrauchslisten?“

„Ja, Vater Ferdinand“, bestätigte Ismar und spürte wachsenden Unmut.

„Wie kommt es, dass du sie abschreibst?“ Sein Blick machte deutlich, dass er nicht nochmal angelogen werden wollte.

„Ich habe gesündigt, Vater. Das ist meine gerechte Strafe.“

„Eine Sünde verlangt Buße und Einsicht“, holte Vater Ferdinand aus. „Aber war es eine Sünde oder vielmehr Ungehorsam, und wer legte dir diese Strafe auf?“ Vater Ferdinand ignorierte Baldemarus vollständig. Dieser stand wie auf heißen Kohlen. Sein Blick zeigte deutlich, dass er Ismar am liebsten die Zunge herausreißen würde. Doch er war zum Schweigen verdammt und musste tatenlos zusehen.

„Ungehorsam, Vater. Es war Bruder Baldemarus, der mich erwischt, gerügt und bestraft hat.“

Vater Ferdinand ließ seinen Blick auf Ismar ruhen und nahm sich Zeit zum Nachdenken. Auch er war aufgewühlt und ließ Baldemarus, der sich krampfhaft verteidigen wollte, links liegen.

„Deine Strafe ist hiermit abgeleistet. Du wirst heute hungrig zu Bett gehen und darüber nachdenken, was heute passiert ist.“

„Bruder Baldemarus, Morgen nach der Andacht werden sich alle, Mönche und Novizen, im Kapitelsaal einfinden. Tragen sie dafür Sorge, dass jeder Bescheid weiß.“

„Ja Vater Ferdinand.“ Baldemarus machte eine Faust hinter dem Stehpult und versuchte so ruhig wie möglich zu klingen, doch seinen Unmut konnte er nicht ganz verbergen.

„Geh nun in deinen Schlafraum, Ismar“, lotste Vater Ferdinand ihn aus Baldemarus’ Blickfeld. Ismar stand in keiner Weise der Sinn danach, diese Anordnung zu missachten. Hungrig ins Bett zu gehen, war in diesem Fall die beste Aussicht.

Während der Andacht am folgenden Morgen saß Ismar wie auf heißen Steinen. Nicht wegen dem, was er hörte, das bekam er ohnehin nur am Rande mit, sondern wegen Baldemarus’ Blicken. Wohl hatte er für sich entschieden, Ismar die Schuld daran zu geben, was nun geschehen mochte.

Vielleicht fand Ismar auch deshalb, dass die Andacht an diesem Morgen recht schnell abgehalten war. Trotz seines Hungers hielt sich seine Freude darüber in Grenzen.

Normalerweise verließen sie die Kapelle schweigend, doch diesmal war überall Getuschel zu hören. Vater Ferdinand machte sich nicht einmal die Mühe, sie zur Ruhe zu rufen. Als sie dann aus der Kapelle traten, mehrten sich die Stimmen und wurden lebhafter.

Es kam häufiger vor, dass Vater Ferdinand sie alle zusammen rief, doch wenn es nach einer Morgenandacht geschah, dann war das nie ein gutes Zeichen.

Nachdem alle Platz gefunden hatten, wartete Vater Ferdinand geduldig, bis Ruhe einkehrte und wanderte mit seinem Blick von einem zum anderen und wieder zurück. Er ließ ihn auf jedem ruhen, der glaubte noch etwas sagen zu müssen.

„Ich freue mich, dass ihr euch allesamt eingefunden habt“, begann der Abt und überblickte die Menge. Ismar hasste es, wenn die Wahrheit so leichtfertig strapaziert wurde. Aber scheinbar neigten alle Mönche dazu, für dergleichen eine Leidenschaft zu entwickeln. Zumindest klang es bei Vater Ferdinand nicht so selbstgefällig wie bei manch anderen Glaubensbrüdern.

„Danke Bruder Philipp für die Lesung heute Morgen. Geben wir uns Zeit, um die Worte sacken zu lassen.“

Ismar wurde es plötzlich heiß. Hätte er doch besser zugehört. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, um was es in der Lesung gegangen war.

„Wer weiß, was uns dieser Brief sagen wollte?“, fuhr der Prior nach einer kurzen Pause fort.

Erst zaghaft, dann lebhafter begann eine Diskussion über Fleiß, Ruhm und Eitelkeit. Baldemarus hielt sich aus dieser Diskussion entgegen seiner Art heraus. Allmählich begann Ismar zu dämmern, warum. Zwar konnte er sich immer noch nicht an die Lesung erinnern, aber er begriff, worauf Vater Ferdinand hinauswollte. Unruhig rutschte Ismar auf der steinernen Bank umher, und hörte mit an, wie die anderen Brüder Baldemarus verurteilten, ohne dass sie sich dessen bewusst waren. Aber auch Andere fühlten sich angesprochen und zeigten dies durch ihr Schweigen.

Vater Ferdinand ließ der Diskussion Zeit sich entfalten zu können und lenkte sie mit Zwischenfragen in die gewünschte Richtung.

„So ist es, so ist es“, sprach er langsam als die Diskussion abebbte. „Fleiß und Ehrgeiz sind jeweils ein zweischneidiges Schwert.“ Mit einem Nicken bedankte er sich für die Gedankenanstöße, der jeweiligen Redner. „Deshalb möchte ich auch eine neue Regel einführen, und mir war wichtig, dass ihr alle sie hört.“ Er sprach ganz ohne Eile und erlaubte seinen Worten Wirkung zu entfalten. „Es geschieht zu eurem Schutze, da ich euch vor der teuflischen Versuchung des falschen Ehrgeizes bewahren möchte.“

Er legte eine Pause ein und sah einen Jeden einzeln an und schloss mit einem gütigen Lächeln.

„Ihr Novizen geht des Öfteren Fehl. Dies nehme ich euch nicht böse, es ist das Vorrecht der Jugend, einen Umweg zu gehen. Aber es bedarf Strafen, um zu leiten. Sie schärfen den Charakter, den Glauben, den Geist und bisweilen übernehmt ihr dadurch wichtige oder sogar ehrvolle Aufgaben für das Kloster.“

Einigen Novizen war es zwischendurch unwohl in ihrer Haut geworden, doch nun begannen sie sich zu beruhigen.

„Ich möchte aber verhindern, dass solche Strafen den einzelnen Mönchen als Hilfe für ihre eigenen Aufgaben dienen. Darum“, er machte eine lange Pause, „erlasse ich folgende Regel: Jedem Mönch ist es gestattet, wo nötig, Strafen zu erteilen, aber er muss einen anderen Mönch benennen, bei dem der Betroffene sie absitzen muss. Damit solltet ihr vor falschem Ehrgeiz geschützt sein. Wer eine Strafe erhält, die dagegen spricht, ist sogleich von ihr befreit und stattet mir Bericht.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Die Mönche begannen zu diskutieren. Eine solche Demütigung hatten sie lange nicht mehr erfahren. Die Novizen tauschten verwunderte und teilweise erleichterte Blicke aus.

Ismar fing einen bösen Blick von Baldemarus ein und versuchte, seine Freude zu verbergen. Er hätte nie gedacht, so gut aus dieser Angelegenheit heraus zu kommen.

Der unerwartete Besuch

Am fünften Tag ihrer Reise schlug das Wetter um und es regnete. Nach einem kräftigen Schauer gegen Mittag, wollte es gar nicht mehr aufhören. Auch an diesem Tag wartete Hönnlin vergeblich auf eine Klage von Clara. Anfangs fand sie es gar lustig. Doch gegen Abend hin fröstelte sie unter ihrem Kapuzenmantel und an den Beinen war sie nass.

„Das Schlimmste wird die Nacht, wenn wir es nicht schaffen, Feuer zu machen.“

„Oh stimmt, daran habe ich gar nicht gedacht. Dabei habe ich mich schon darauf gefreut, mich am Feuer zu wärmen.“

„Ist dir kalt?“

„Ein wenig“, gestand Clara. Für sie war das immer noch nur ein großes Abenteuer. Sie genoss es, und sehnte sich überhaupt nicht zurück ins Kloster.

„Lass uns noch eine gute Stunde weiter gehen. Solange wird es wohl noch regnen. Glaub mir, im Gehen ist der Regen weniger schlimm, als wenn wir rasten.“

„Wenn sie das sagen“, lächelte Clara. Sie hatte jede Scheu vor ihm verloren und vertraute ihm.

Sie wanderten noch geschlagene zwei Stunden bis, dass der Regen endlich abschwächte. Am späten Abend musste Hönnlin alle Register ziehen, um trotz des Regens ein Feuer zu entfachen. Für ihn war es nicht so wichtig, da es trotz des Regens noch recht mild war, aber er fürchtete, dass Clara krank würde, wenn sie sich nicht aufwärmen konnte.

Mit dem trocken eingewickelten Reisig und Blättern, die er stets für den Folgetag einpackte, schaffte er es, ein kleines Feuer zu entzünden, dem er dann vorsichtig weitere Nahrung gab. Das Feuer knisterte wild während es sich des nassen Holzes annahm. Hönnlin baute ein kleines Überdach aus Ästen, Reisig und Blättern. Clara half ihm ebenso fleißig wie fasziniert.

Erst als es dunkel wurde, hielt es ganz auf zu regnen und so gab Hönnlin Clara die Ersatzkutte, die er ihretwegen eingepackt hatte. Die nasse Kutte hängte er neben das Feuer.

Hönnlin beugte sich nach vorne, um nach dem Feuer zu sehen. „Wir sind nicht allein! Denk an das, was ich dir gesagt habe. Sieh keinem in die Augen!“

Clara war dabei sich die Hände vor dem Feuer zu reiben und hielt inne. Ihr Herz begann wild zu schlagen. Hönnlin hatte ihr so viel gesagt. Die Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Mit einiger Verzögerung merkte sie, dass sie so tun sollte, als wüsste sie von nichts und rieb sich weiter die Hände.

„So“, richtete sich Hönnlin auf. „Jetzt können wir endlich etwas kochen. Ich vergehe gleich vor Hunger.“

Clara wollte etwas antworten, doch ihr Mund brachte nichts hervor. All die Male, wo Hönnlin ihr erzählt hatte, dass so etwas passieren könnte, hatte es ihr nichts ausgemacht. Doch nun erfüllte sie Angst. All die Geschichten über die Abtrünnigen schossen ihr durch den Kopf. Einige erzählten gar sie würden andere bei lebendigem Leib essen. Schauer liefen ihr über den Rücken und lähmten sie. Fortwährend rieb sie sich die Hände und verspürte unablässig den Drang sich umdrehen zu müssen.

 

„Ich finde das ist das Beste am Reisen“, versuchte Hönnlin ein unauffälliges Bild abzugeben.

„Waldpilzsuppe.“ Hönnlin gab die Zutaten in den Topf mit dem noch kalten Wasser.

„Findest du nicht auch, George?“

Clara nickte stumm.

„Ich hoffe nur, dass wir Morgen mehr Glück mit dem Wetter haben.“ Hönnlin rührte im Topf und begann die Suppe abzuschmecken, ohne sich daran zu stören, dass er keine Antwort erhielt. Mit sich und der Welt zufrieden, schien er voll und ganz damit beschäftigt, sich um die Suppe zu kümmern.

Clara ärgerte sich über sich selbst und versuchte ihre Lähmung zu überwinden.

„Ich habe das Gefühl als würde ich nie mehr warm werden.“

„Nun“, lachte Hönnlin auf. „Dann bist du wohl nicht fürs Reisen geboren.“ Hönnlin gab weitere Kräuter hinzu. „Aber die Suppe wird helfen. Du wirst sehen, sie muss jetzt nur noch ziehen. Hohl schon mal die Schüsseln heraus.“

Clara stand auf und suchte im Gepäck nach Schüsseln. Es half ihr zu wissen, was sie tun sollte.

„Wie ich sehe, gibt es hier etwas zu essen?“ Der Fremde sprach französisch und sein Aussehen ließ keinen Zweifel daran, dass er ein Abtrünniger war. Seine Haare und sein Bart waren ungepflegt, seine Kleider schmutzig und verschlissen. Seine Stimme und sein Tonfall waren aber nicht unfreundlich, auch wenn seine Art eine gewisse Heimtücke nicht verstecken konnte.

„Du siehst richtig. Wenn du magst kannst du dich mit dazu setzen.“ Hönnlin ließ sich nichts anmerken. Nur Clara stand wie angewurzelt da und starrte den Mann an.

Hönnlin bot dem Fremden neben sich einen Platz an und nickte in Claras Richtung, damit sie sich setzte.

„Zu freundlich der Herr!“ Der Fremde setzte sich zu ihnen als wäre dies für ihn alltäglich.

„Aber bekommt ihr dann nicht zu wenig?“, erkundigte sich der Neuankömmling. Das Mitgefühl in seiner Stimme war wohl geübt.

„Es sollte reichen, zur Not habe ich noch einen Kanten Brot.“

Der Mann nickte nachdenklich. „Würde es euch etwas ausmachen, wenn ich meine Frau dazu rufe. Wir haben seit einer Woche nichts Richtiges mehr gegessen.“

„Nur zu, dann gebe ich noch einige Pilze hinzu.“

„Zu gütig der Herr“, nickte der Mann eifrig. Dann stand er mühsam auf. Dabei griff er sich an den schmerzenden Rücken. Er atmete zweimal schwerfällig und griff sich mit zwei Fingern in den Mund.

Ein gellender Pfiff ertönte und in einem weiten Umkreis erhoben sich die Vögel in den dunklen Himmel.

Erleichtert setzte der Mann sich wieder hin.

„Mit dem Pfiff kann man ja Tote erwecken“, scherzte Hönnlin anerkennend. Clara war nun starr vor Angst.

„Meine Frau hat schlechte Ohren“, lachte der Mann und hielt den Topf im Auge.

Hönnlin war dabei nachzufüllen. Er gab ihren ganzen Vorrat an Pilzen hinzu. „Ich möchte nicht, dass ihr nachher hungrig aufstehen müsst“, erklärte Hönnlin, als er seine weit geöffneten Augen sah. Der Topf war bis oben hin gefüllt und er musste beim Rühren Acht geben, damit er nichts verschüttete.

„Zu gütig der Herr!“ Ihm lief förmlich das Wasser im Mund zusammen und er zog sich fortwährend die Lippen in den Mund.

Eine Weile war außer dem Knistern des Feuers nichts zu hören. Dann aber hörte Hönnlin Schritte und kurze Zeit später trat eine Frau zwischen den Bäumen hervor. Aber nicht nur dort raschelte es. Auf der anderen Seite bewegten sich das Gestrüpp ebenfalls. Er hörte wie sie kurz innehielten, doch der Erste war schnell beruhigt und schritt selbstbewusst hervor. Gleich darauf traten zwei weitere Männer hervor.

„Oh, da sind aber viele hungrig“, lachte Hönnlin erheitert auf und tat als würde er die bedrohliche Spannung nicht spüren. Die Umzinglung war taktischer Natur, falls sie Beide sich hätten zur Wehr setzen wollen.

„Es sind harte Zeiten“, erklärte der Mann, der neben Hönnlin saß. Sein fixierter Blick auf den Topf verriet, dass er nicht Zeit mit Reden verlieren wollte.

„Es wird aber knapp werden“, gab sich Hönnlin besorgt.

„Keine Sorge, das wird schon reichen!“ Einer der neuangekommenen Männer trat näher und begutachtete den Topf. Seine Stimme war gebieterisch und hatte nichts für gespielte Freundlichkeit übrig. „Gib die Teller rüber. Ihr müsst nichts essen“, erklärte er, wie er es sich vorstellte.

„Mein Herr ihr seid sehr grob“, entrüstete sich Hönnlin.

„Ich bin hungrig und jetzt gib her, bevor ich mich vergesse!“

„Mathias, sei nett zu unseren Gastgebern. Sie waren auch sehr freundlich zu mir“, mischte sich der sitzende Mann ein und verteidigte Hönnlin scheinheilig.

„Dann sorg dafür, dass ich gleich was zu essen habe!“

„Ihr werdet sicher Verständnis dafür haben“, entschuldigte sich Jules für das Benehmen seines Anführers. „Es sind harte Zeiten“, wiederholte er, als wäre damit alles gerechtfertigt.

„Wohl wahr“, pflichtete Hönnlin ihm bei. „Der Herr hat mich zu euch geführt, also wird es sein Wille sein, dass ihr heute satt werdet“, nickte Hönnlin fromm und füllte eine der Schüsseln, um sie dem Mann zu reichen.

„Worauf wartet er, ich habe Hunger“, protestierte Mathias.

Hönnlin nahm Clara rasch die zweite Schüssel ab. „Verzeiht, George versteht kein Französisch.“ Er füllte die Schüssel. „Die Herren haben Hunger. Sie sind heute unsere Gäste“, erklärte Hönnlin unnötiger weise auf Deutsch. Clara nickte stumm und ließ den Blick gesenkt.

„Geht doch!“, Mathias flößte sich gleich die Suppe ein.

Auch die Anderen traten näher und Hönnlin füllte Mal um Mal die Schüsseln nach, bis dass der Topf völlig leer war.

„Er hat noch Brot“, erinnerte sich Jules.

„Er wird noch so manches haben“, gab sich Mathias zuversichtlich. „Nur her damit“, wank er in Hönnlins Richtung. „Nur keine falsche Scheu.“

„Sehr wohl“, antwortete Hönnlin kleinlaut. „Wie du meinst.“

„Das fromme Mönchspack ist heute aber ganz schön artig“, lachte Mathias selbstgefällig und wies Hönnlin an, ihre Taschen zu leeren.

Er nahm alles Essbare hervor, nur die Bücher ließ er verborgen, aus Angst, sie würden ins Feuer geworfen.

„Am besten ihr lasst gleich alles hier, auch den Esel, und seht zu, dass ihr verschwindet.“

„Der Herr gibt, der Herr nimmt“, betete Hönnlin. „Seine Wege sind unergründlich.“

„Mach, dass ich dir nicht das Leben nehme, wenn du nicht aufhörst so fromm zu quatschen.“

„Nein, das darfst du nicht!“, rief die Frau dazwischen.

„Oh, ihr und euer Aberglaube“, lachte Mathias und brummte verstimmt, da er um seinen Spaß betrogen wurde. „Heute ist euer Glückstag. Ich nehme euch eure Sachen und schenke euch euer Leben.“

„Zu gütig der Herr“, konnte es sich Hönnlin nicht verkneifen und streichelte ein letztes Mal seinen Esel. „Möge der Herr euch ein langes Leben bescheren. Er allein weiß, wie hart und entbehrungsreich euer Leben ist.“ Es war nie verkehrt Abergläubische versöhnlich zu stimmen.

„Ich weiß nicht, wie mir das schmecken soll.“ Mathias stand breitbeinig und mit verschränkten Armen da und betrachtete Hönnlin misstrauisch. „Jetzt haben wir mal Glück einen auszurauben und der tut als wäre es das Normalste auf der Welt. Das macht doch keinen Spaß.“

„Lass ihn doch. Er ist ein guter Mönch.“

„Aber sonst konnte man sich immer so schön prügeln!“

„Lenk nicht seinen Zorn auf uns!“, flehte die Frau und fürchtete sich vor irgendwelchen Zaubersprüchen oder Flüchen.

„Der Mistkerl regt sich aber nicht einmal auf.“ Mathias betrachtete die Zwei vor sich. „Nur der Knabe sieht aus, als hätte er sich in die Kutte gemacht“, lachte er auf und zwei der Männer fielen mit in sein Gelächter ein.

„Er ist fromm“, verteidigte die Frau Hönnlin. „Er wird bestimmt einmal heilig gesprochen“, hauchte sie andächtig und ihre Furcht wurde noch größer.