Die permanente Krise

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Die 1970er Jahre mit dem Vietnamkrieg und den Ölpreiskrisen stellten eine Wende dar. Mit der Wahl Ronald Reagans in den USA und Margaret Thatchers in Großbritannien begann die Ära der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik,25 zunächst in diesen beiden Ländern, später aber auch in den meisten anderen westlichen Staaten. Nach dem Fall der Berliner Mauer konnte sich diese Politik ebenso in der ehemaligen UdSSR sowie ihren Ex-Satellitenstaaten durchsetzen. Auch China machte sich diese Wirtschaftspolitik zu eigen; sie ist heute weltweit vorherrschend. Dem amerikanischen Intellektuellen Francis Fukuyama zufolge sollte die weltweite Einführung der neoliberalen Agenda das «Ende der Geschichte» einläuten – eine Zeit, in der nicht nur die liberalen Prinzipien, sondern auch die entsprechenden demokratischen Ordnungen ein weltweites Gleichgewicht und Frieden ermöglichen sollten. Ihm zufolge sollte es mit dem Ende des Kalten Krieges zum internationalen Konsens für die liberale Demokratie kommen.

Die Manipulation und die Kontrolle der öffentlichen Meinung

Unsere derzeitige Gesellschaftsordnung basiert auf einer finanzdurchdrungenen Wirtschaft und wird oft als letztes und somit unüberwindbares Stadium der Entwicklung des Kapitalismus dargestellt. Doch was ist davon zu halten? Ist unsere aktuelle Situation charakteristisch für einen Kapitalismus in voller Expansion, dessen Entfaltung die ganze Welt immerwährend mit seinen Wohltaten, einschließlich den demokratischen, beglücken könnte? Das darf wohl bezweifelt werden. Erinnert die gegenwärtige Situation nicht eher an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die westliche Zivilisation von ihrer Überlegenheit über den Rest der Welt überzeugt war, bis … der Erste Weltkrieg ausbrach? Auf der Grundlage oder unter dem Vorwand der Ereignisse in der Ukraine macht sich in Europa ein neuer kalter Krieg breit und der Absturz und beschleunigte Verfall der Zivilisation ist bereits in vollem Gange. Die demokratischen Grundprinzipien werden mit Füßen getreten, wie das System PRISM zur Überwachung der elektronischen und telefonischen Kommunikation zeigt, das von Edward Snowden26 aufgedeckt wurde. Ein demokratischer Staat würde weder die Korrespondenz seiner Bürger oder sogar der ganzen Weltbevölkerung lesen noch ihr Tun und Treiben ausspionieren oder gar in Zukunft, falls technisch machbar, versuchen, ihre Gedanken zu lesen. An dieser Stelle ist es vielleicht sinnvoll, an den Wortlaut von Artikel 12 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung zu erinnern:

«Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden.»

Die von George Orwell in seinem Roman 1984 beschriebene Gesellschaft scheint vor unseren Augen Wirklichkeit zu werden oder wird von der Wirklichkeit sogar noch überholt. Die Technologie lässt Albträume wahr werden! Durch die allumfassende, intensive Überwachung der Bevölkerung wird die Demokratie schrittweise zersetzt. Die Geschichte der Menschheit verdient ein besseres Ende.

Die Manipulation der öffentlichen Meinung durch das Geschäft mit der Angst greift immer weiter um sich. Heute sind es die nationalen Banken-Flaggschiffe, die es um jeden Preis zu retten gilt, um einen totalen Zusammenbruch zu verhindern. Diejenigen, welche toxische Finanzprodukte herausgeben und von einer Krise profitieren, welche sie selber weitgehend verursacht haben – ebendiese Firmen müssen wir nun mit öffentlichen Mitteln wieder flottmachen, im Namen der Stabilität und des wirtschaftlichen Wohlergehens. Früher war es im Namen der Zivilisation, der Nation, der Demokratie, aus Angst vor der Barbarei und um «ein für allemal Schluss zu machen mit allen Kriegen», dass der angeblich allerletzte Krieg geführt werden musste. In Wirklichkeit hatten jedoch Waffenhersteller wie Krupp in Deutschland und Schneider in Frankreich mächtige Interessen zu verteidigen. Die Angst vor kolossalen finanziellen Verlusten für die amerikanischen Banken, die England und Frankreich Gelder geliehen hatten, war einer der wichtigsten Faktoren für den Eintritt Amerikas in den Krieg.

Gestern wie heute werden alle Opfer gefordert – sogar die Preisgabe der Demokratie–, um die mächtigen Banken gegen ihre selbstverschuldeten Risiken abzusichern und um sie am Leben zu erhalten. Die Fortsetzung der eingangs zitierten Passage aus dem Roman Die Thibaults behält heute leider nach wie vor ihre Schärfe:

«Nie zuvor haben die Machthaber den Verstand in so harte Fesseln gelegt …»27

Die Macht und die Lobbys der Finanzoligarchie

Die Prinzipien der Demokratie werden zurzeit insbesondere im Bereich der Wirtschaft mit Füßen getreten. Unabhängig von den Wahlergebnissen ist nur eine Politik maßgeblich: die der Finanzoligarchie. Diese ist dermaßen von der Überlegenheit und Vorrangstellung ihrer Interessen vor denen der Wirtschaft und Gesellschaft überzeugt, dass sie sie nicht einmal mehr diskutiert. Ihre Lobbyisten präsentieren dabei die Interessen des Finanzsektors als Interessen der Gesellschaft und Wirtschaft. Aber das ist noch nicht das Schlimmste: Die Mehrheit unserer Politiker ist davon ebenfalls überzeugt oder tut jedenfalls so!

Die Finanzkaste schöpft astronomische Summen aus der Realwirtschaft ab. Im Rahmen der Kasino-Finanzwirtschaft, die jeglicher selbstreklamierter Unternehmerlogik widerspricht, zirkulieren die Gelder immer schneller, mit zweifelhaften Wetten auf den Zahlungsausfall oder Konkurs von Unternehmen, Banken oder Staaten. So werden die klassischen, der Wirtschaft immanenten Finanzgeschäfte in den Hintergrund gedrängt. Charakteristisch für diese Wetten ist, dass sie häufig unter Abwälzung der Risiken auf den Rest der Gesellschaft erfolgen. Manche Finanzinstitute, die als «too big to fail» bezeichnet werden, haben es nämlich geschafft, eine kritische Größe und einen gewissen Vernetzungsgrad im Wirtschafts- und Finanzgefüge zu erreichen; bei diesen Finanzinstituten ist es der Staat und letztendlich der Steuerzahler, die Rentnerin, die Kundin und der Arbeitslose, der oder die für die Risiken aufkommen und im Verlustfall die Zeche zahlen. Diese finanzdurchdrungene Wirtschaft schwächt und erpresst in großem Umfang unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Gefüge.

Aber was machen die politisch Verantwortlichen weltweit eigentlich, um Abhilfe zu schaffen und gegen die Kasino-Finanzwirtschaft anzugehen? Sie treffen sich, und zwar oft! Das beruhigt uns ungemein. Der Reigen ihrer Sitzungen grenzt ans Lächerliche, und sie haben die wesentlichen Probleme nicht gelöst. Das Schauspiel, das Europas politische Führungsriege dabei bietet, ist freilich sorgfältig durchdacht: Roter Teppich wie beim Filmfestival von Cannes, öffentliche Erklärungen, gefolgt von Verhandlungen, Gruppenfotos, Pressekonferenzen und Eigenlob – und doch ist es niederschmetternd.

Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus spricht im Vorwort von Die letzten Tage der Menschheit, einem Werk mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg, von «den Jahren, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschen spielten».28 Ein Jahrhundert später hat dieser Satz immer noch seine volle Gültigkeit. Diese Figuren, dazu bestellt, die Autorität des Staates zu verkörpern, wirken häufig desorientiert. Sie erwecken den Eindruck, völlig im Dunkeln zu tappen. Sie haben zwar das Anliegen, die Finanzmärkte zu beruhigen, erreichen dieses Ziel aber jeweils nur für kurze Zeit. Ihre Lösungen sind kurzlebig, weil sie ein aussichtsloses Ziel verfolgen. Der Neoliberalismus ist eine neue Religion, die Opfer auf dem Altar der Kasino-Finanzwirtschaft fordert. Der Versuch, die Finanzmärkte zu beruhigen, erweist sich als gefährlich und illusorisch.

Kapitel 2

Der Versuch, die Finanzmärkte zufriedenzustellen, ist vergeblich

Im Werk Der Mann ohne Eigenschaften29 des österreichischen Schriftstellers Robert Musil beabsichtigen die Hauptakteure noch vor 1914, die Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Krönung des «Friedenskaisers», die für 1918 in Wien vorgesehen sind, zu organisieren. Was wurde daraus? Der Krieg brach aus, Kaiser Franz-Joseph starb im Jahr 1916 und die österreichisch-ungarische Monarchie verschwand 1918 von der Landkarte. Die Nationen, die aufs Podest gestellt wurden, verlangten höchste Opfer: Auf dem «Feld der Ehre» zu fallen, war dann auch das Los von Millionen Europäern.

Ein Jahrhundert danach sind es die Finanzmärkte und ihre Erschütterungen, welche die Wirtschaft und die Gesellschaft in eine gefährliche Logik mitreißen. Heute wollen diese ebenfalls permanent befriedigt werden, was wiederum der Gesellschaft unzählige Opfer abverlangt. Diesem Willen zu entsprechen, ist ebenso aussichtslos wie die Absicht, kurz vor dem Ersten Weltkrieg den «Friedenskaiser» zu feiern: Die zum Gott erhobenen Finanzmärkte sind von Natur aus nicht zu befriedigen.

Die Frage, ob diese Zielsetzung wünschenswert ist, könnte absurd wirken, so eindeutig scheint die Antwort zu sein. Selbstverständlich müssen die Finanzmärkte zufriedengestellt werden, denn das Schlimmste würde uns erwarten, wenn sie auch nur ein bisschen geärgert würden: Verschärfte Zahlungsunfähigkeit der Staaten und eine Verschlechterung ihrer Bewertung durch die Rating-Agenturen, verbunden mit noch drastischeren Sparprogrammen, wären die Folge. Das ist übrigens genau die Politik, die von den Regierungen, Zentralbanken und internationalen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) häufig durchgesetzt wird. Darüber herrscht offensichtlich ein echter Konsens, der Fall scheint klar. Deshalb wäre es unangebracht, die Frage nach der Wirksamkeit dieser Politik und ihren Begründungen zu stellen. Aber wagen wir es trotzdem.

 

Die verheerenden Auswirkungen der Krise

Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Strategie, die Finanzmärkte zufriedenzustellen, seit dem Ausbruch der Krise im Jahr 2008 nicht wirklich von Erfolg gekrönt war. Südeuropa ist weitgehend ausgeblutet, nachdem ihm brutale Sparprogramme auferlegt wurden. In Griechenland hat die am 25. Januar 2015 gebildete Regierung diese Politik bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Buches nicht umkehren können oder wollen. Im dritten Quartal des Jahres 2017 lag die Arbeitslosenquote bei ungefähr 20,7 % und die Jugendarbeitslosigkeit betrug 40,8 % (zum Vergleich: Spanien 37,9 %; EU 18,2 %). Gemäß einem Bericht der griechischen Zentralbank, der im Juni 2016 publiziert wurde, haben 427 000 Griechen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren seit 2008 das Land verlassen, darunter viele junge, diplomierte Universitätsabgänger.

Zwischen 2010 und 2015 sind die Löhne in Griechenland durchschnittlich um 24 % gesunken, und ungefähr ein Drittel der Bevölkerung lebte im Jahr 2016 unter der Armutsgrenze. Zwischen 2008 und 2012 wurden die direkten und indirekten Steuern durchschnittlich um 53 % respektive um 22 % erhöht. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung musste eine wesentlich stärkere Erhöhung hinnehmen: 337 %. Der Mehrwertsteuersatz erreicht nun ein völlig unverhältnismäßiges Niveau: 23 %, auch für das Gastgewerbe.30

Im Jahr 2014 konnten immer mehr öffentliche wie private Unternehmen ihre Angestellten oder ihre Lieferanten nicht mehr vollständig bezahlen. Auch der Bildungshaushalt ist Opfer dieser Politik geworden. Die drastische Ausgabenbeschränkung hatte die Schließung oder den Zusammenschluss von rund tausend Schulen zur Folge. Zum Schluss sei auf eine weitere erschreckende Entwicklung hingewiesen: Zwischen 2009 und 2011 nahm in Griechenland die Zahl der Selbstmorde um 137 % zu.

In Deutschland, dessen Wirtschaft oft als Vorbild zitiert wird, spricht man im Jahr 2017 von ungefähr 13 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben; das sind rund 16 % der gesamten Bevölkerung. Dazu zählen auch die rund 220 000 Personen, die dort Minijobs haben und 1 bis 2 Euro in der Stunde verdienen, da sie nicht als Arbeitslose betrachtet werden. Die Niedriglohnsektoren, in denen im Jahr 2017 ein Stundenlohn unter 10,50 Euro gezahlt wurde, haben in Deutschland stark zugenommen. Im selben Jahr arbeiteten nicht weniger als 7,65 Millionen Menschen oder 24,3 % der Erwerbstätigen in diesen Bereichen. In Deutschland, dem Wirtschaftsmotor Europas, müssen Millionen Menschen mit erbärmlich niedrigen Löhnen auskommen. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit beruht auf der Umwandlung von Arbeitslosen in «working poors».

Im Jahr 2016 befanden sich in Frankreich rund 14 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, und etwa 87 % der Neuanstellungen erfolgten in Form von befristeten und damit per se prekären Verträgen. Laut einem UNICEF-Bericht lebten 2015 in Frankreich 20 % der Kinder, das heißt mehr als 3 Millionen, unter der Armutsgrenze; ungefähr 30 000 Kinder waren obdachlos, zwischen 8000 und 10 000 Kinder lebten in Elendsvierteln und jedes Jahr verließen circa 140 000 Jugendliche unter 25 Jahren das Schulsystem ohne jegliche Qualifikation.

In Italien lebten im Jahr 2017 7,9 % der Bevölkerung in absoluter Armut. Das heißt, es war ihnen weder möglich, das Notwendigste zu kaufen, noch in menschenwürdigen Wohnverhältnissen zu leben. In Spanien geht das Drama der Zwangsräumungen weiter. Davon sind Haushalte betroffen, die ihre Hypothekarschulden nicht mehr tilgen oder schlicht die Zinsen ihrer Hypothek nicht mehr zahlen können. Die spanische Zentralbank gab bekannt, dass allein im ersten Halbjahr 2016 etwa 36 000 Familien ihre Wohnungen aufgeben mussten.

Trotz ihrer Wahlversprechen erhöhen linke wie rechte Regierungen in Europa den Steuerdruck auf die Mittelklasse und auf die Ärmsten. In den Vereinigten Staaten herrscht eine ähnliche Situation: Im Jahr 2016 befanden sich 12,7 % der Bevölkerung, also rund 43 Millionen Amerikaner, unter der Armutsgrenze. Viele tauchen in der Statistik der Arbeitssuchenden überhaupt nicht auf, da Arbeitslose, die kein Recht auf Arbeitslosengeld mehr haben, sowie diejenigen, die bereits eine Stunde pro Monat arbeiten, aus den Statistiken verschwinden. Das erlaubte es, im Oktober 2018 offiziell eine Arbeitslosenrate von 3,7 % auszuweisen, während sie in Wirklichkeit weitaus höher war. Das Wachstum, das dieses Land verzeichnen konnte, war unter anderem eine Folge der Waffenexporte. Von einem Jahrhundert zum nächsten bleibt das Geschäft mit der Angst einträglich. In Japan schließlich lebten im Jahr 2014 16 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Der Versuch, die Finanzmärkte zufriedenzustellen, bestand darin, dass das Bankensystem auf Kosten des Steuerzahlers gerettet wurde, ohne dass eine wirkliche Gegenleistung gefordert wurde. Dies führte zu einer Rekordverschuldung der entwickelten Länder. Zwischen Oktober 2008 und Oktober 2011 «[…] hat die Europäische Kommission rund 4500 Milliarden Euro an Staatshilfe zugunsten der Finanzinstitute gesprochen, was 37 % des BIP der EU entspricht»31. Zwischen 2008 und 2016 hat dieser Hilfsbetrag 5045 Milliarden Euro erreicht.

Die undurchsichtige Rolle der Zentralbanken

Die Zentralbanken haben durch ihre massiven Interventionen dazu beigetragen, den brutalen Zusammenbruch des Bankensystems in den heikelsten Momenten der Finanzkrise zu verhindern. Aber indem sie mit diesen Geld-Infusionen das Finanzsystem stützen, spielen sie eine wesentliche Rolle im Rahmen einer Politik im Dienste der Großbanken, die nicht geeignet ist, jene grundlegenden Probleme zu lösen, mit denen die Wirtschaft konfrontiert ist und die in diesem Buch analysiert werden.

Im Juli 2012 zeigten die Erklärungen des Präsidenten der EZB (Europäische Zentralbank), Mario Draghi, der versuchte, die Finanzmärkte mit der Aussage zu beruhigen, die EZB werde «alles Erforderliche tun, um den Euro zu erhalten», die beabsichtigte Wirkung. Die in Aussicht gestellte unbegrenzte Aktivierung des Kaufprogramms von Staatsschulden hat dazu geführt, dass sich insbesondere die Zinssätze der spanischen und italienischen Staatsschulden auf einem vernünftigen Niveau einpendelten. Aber die Märkte lassen sich nie lange beschwichtigen. Die EZB sah sich veranlasst, den Leitzinssatz 2013 auf 0,5 % und 2015 dann praktisch auf null zu senken.

Am 22. Januar 2015 kündigte Mario Draghi die Einrichtung eines Aufkaufprogramms von Anleihen in Höhe von 60 Milliarden Euro pro Monat an, die im April 2016 für ein Jahr auf 80 Milliarden Euro pro Monat angestiegen waren.32 Bis Dezember 2017 hat das Total aller ins Finanzsystem eingeschossenen Beträge den Wert von 2000 Milliarden Euro überstiegen!33 In Anbetracht der Höhe der Finanzspritzen hätten diese eine zeitlich begrenzte Notaktion bleiben sollen. Doch sie sind zur Dauereinrichtung geworden und bergen deshalb Gefahren.

Die Zukunft wird zeigen, ob diese Eingriffe, das verkündete Ziel, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, nachhaltig erreichen werden. In Wirklichkeit befindet sich die Europäische Zentralbank in einer Sackgasse. Statt umzudrehen und ihre Politik zu ändern, führt sie diese mit astronomischen Beträgen weiter. Sie stellt sich als von der politischen Macht unabhängig dar, ergreift jedoch Maßnahmen zugunsten des Finanzsektors.

Außerdem gewährt die EZB den europäischen Banken Kredite zu sehr niedrigen Zinssätzen, wofür ihr diese Sicherheiten liefern müssen. Die EZB zeigt sich wohlwollend, indem sie oft Aktiven akzeptiert, deren Qualität zweifelhaft ist.34 Es handelt sich dabei unter anderem um Finanztitel, die an Hypothekarkredite gekoppelt sind. Diese lasche Praxis der EZB erlaubt es Großbanken, nicht so genau hinzusehen, wenn es zum Beispiel um die Vergabe von Immobilienkrediten an Kunden mit ungenügender Solvenz geht, um interessante Margen zu erzielen. Tatsächlich verleihen die Banken in diesem Fall Gelder zu hohen Zinsen und leihen sie selbst bei der EZB zu niedrigen. Diese Gefälligkeitspolitik ist riskant für die EZB und hat zur Folge, dass immer mehr zweifelhafte Finanzprodukte in Umlauf kommen, wodurch das systemrelevante Risiko wächst.

Sich zudem bei der EZB mit einem Zinssatz von quasi 0 % zu verschulden und dieses Geld in gewisse Staatsanleihen der Eurozone zu investieren, die von dieser Institution quasi garantiert werden und je nach europäischem Land Renditen zwischen ungefähr 2 und 4 % erbringen, ist in der Tat äußerst lukrativ.35 Mit den geliehenen Geldern tätigen die Banken Arbitragegeschäfte.

Die von der EZB im großen Stil in das Finanzsystem gepumpten Gelder werden nicht wirklich in die Wirtschaft investiert. Die Prioritäten der Großbanken liegen offensichtlich woanders. Statt sich auf ihr angebliches Kerngeschäft zu konzentrieren, nämlich den europäischen Unternehmen für rentable und nachhaltige Investitionsvorhaben Kapital zu leihen, lassen sie sich auf gewinnbringende Aktivitäten wie die zuvor genannten Arbitragegeschäfte und den Vertrieb von komplexen und häufig toxischen Finanzprodukten36 ein.

Diese in den Finanzsektor eingebrachten Gelder erzeugen hohe Renditen an der Börse, während die Realwirtschaft und die Gesellschaft leiden. Sie führen zu einer wachsenden Abkopplung zwischen Finanz- und Wirtschaftssphäre, wobei der Finanzsektor die wirtschaftliche und soziale Entwicklung immer mehr behindert. Letztlich verbessert die Politik der EZB die Resilienz des Finanzsystems, das von Natur aus instabil ist, nicht fundamental.

In den Vereinigten Staaten haben die Ankäufe von Staatsanleihen durch die Zentralbank, die FED, bis Juli 2017 zu einer beträchtlichen Erhöhung ihrer Bilanzsumme auf ungefähr 4500 Milliarden Dollar geführt. Ein kleinerer Betrag an US-Staatsanleihen, aber immer noch ein enormer (in der Größenordnung von 1000 bis 2000 Milliarden Dollar), ist im Besitz von anderen Zentralbanken wie denjenigen von Japan, China, Saudi-Arabien oder von Staatsfonds. Weitere Anleihen wurden von institutionellen Investoren wie zum Beispiel Pensionskassen erworben. Auch in den Vereinigten Staaten versorgte die Zentralbank die Wirtschaft in großem Umfang mit Liquidität, was offiziell vorübergehend gestoppt wurde. In der Tat ist es problematisch, die Bilanz der FED unbegrenzt aufzublähen. In gewisser Weise haben die großen amerikanischen Unternehmen die Aufgabe der FED übernommen, indem sie durch den Rückkauf eigener Aktien riesige Geldbeträge in den Finanzsektor einbringen. Gemäß Analysten der Citibank haben diese Rückkäufe in den USA zwischen 2010 und 2016 3000 Milliarden Dollar erreicht37 und dürften 2018 um weitere rund 1000 Milliarden Dollar ansteigen.

Nach unternehmerischer Logik hätten diese gewaltigen Beträge eigentlich für produktive Investitionen verwendet werden sollen, wodurch Arbeitsplätze entstanden wären. Stattdessen haben sie zu der vorher erwähnten Abkopplung zwischen der Finanz- und der Wirtschaftssphäre beigetragen. Denn die steigenden Börsenkurse stehen im Kontrast zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage. Die Direktoren von solchen Unternehmen haben auf diese Weise komfortable Boni erhalten, da letztere häufig an die Aktienkurse gebunden sind.

Auch in Japan kauft die Zentralbank in riesigem Umfang Staatsanleihen auf. Im Jahr 2014 handelte es sich um einen Betrag von ungefähr 600 Milliarden Euro. Solch große Summen trocknen den japanischen Kapitalmarkt aus. Die japanische Zentralbank besaß im Dezember 2017 mindestens 40 % aller japanischen Staatsanleihen,38 2018 dürfte ihr Anteil sogar 50 % erreichen. Außerdem erwirbt sie gewaltige Mengen an Aktien.39 2016 war sie der wichtigste Aktionär der 55 größten Unternehmen Japans, die im Nikkei-Index 225 vertreten sind.40 Die Ergebnisse dieser Geldpolitik haben 2017 in ein gewisses ökonomisches Wachstum gemündet. Die Lage bleibt trotzdem fragil wegen der enormen öffentlichen und privaten japanischen Verschuldung und wegen des Deflationsrisikos, das nicht ausgeschlossen ist.

Rufen wir uns an dieser Stelle die wichtigen Zielsetzungen dieser drei Zentralbanken in Erinnerung. Das erste Ziel, die Kontrolle der Inflation, stimmt nachdenklich, denn die Zentralbanken versuchen eher, Preiserhöhungen auszulösen, damit die Rate auf 2 % steigt. Dieses Ziel wurde in den Vereinigten Staaten mit einer Preisniveauerhöhung von 2,5 % im Oktober 2018 sowie in der Eurozone im September 2018 mit 2,1 % erreicht. Dabei dürfen aber auch die Inflationsrisiken nicht vernachlässigt werden. In Japan betrug diese 1 % im Oktober desselben Jahres.

Die Inflation hat sich auf den Immobilienmarkt und die Börsen verschoben, wo sie von einer höheren Volatilität begleitet wird. Die Abkopplung der Börsen-Performance von der sozio-ökonomischen Lage kommt von den riesigen Liquiditätsspritzen der Zentralbanken im Finanzsektor.

 

Das zweite Ziel betrifft die Stabilität des Finanzsektors und bleibt im Fachjargon der Ökonomen ein sogenannt «längerfristiges» Ziel, das heißt im Klartext: Es bleibt praktisch unerreichbar. Tatsächlich tragen die in den Finanzsektor eingespeisten Geldbeträge zur Manipulation der Zinssätze wie auch der Preise von Aktien und Anleihen bei, was wiederum zu einer chronischen Instabilität der Finanzmärkte führt.

Für die FED ist ein drittes Ziel schließlich die Vollbeschäftigung. Gemäß den offiziellen Statistiken wird dieses nahezu erreicht; angesichts des Ausmaßes der versteckten Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung scheint allerdings auch dieses Ziel eher ein «längerfristiges» zu sein.41 Im Vergleich zu ihren Zielvorgaben sind die Ergebnisse der Zentralbanken also mittelmäßig.

Die Illusion der Bankenunion

Kehren wir wieder nach Europa zurück in das Jahr 1914, als der französische Staatspräsident Raymond Poincaré zur «Union sacrée» («Heiligen Einheit») aufrief, die von vielen Politikern aufgegriffen wurde:

«Frankreich wird von allen seinen Söhnen heldenhaft verteidigt werden, deren Heilige Einheit vor dem Feind nichts zu brechen vermag.»42

Im Jahr 2014 geht es um eine andere Einheit: die Bankenunion, mit der die europäischen Banken stabilisiert werden sollen und sich die Regierungen stolz brüsten. Ein toller Erfolg in der Tat: Die Bankenunion kann derzeit bestenfalls zwei Institute mittlerer Größe retten und wird erst ab 2025 zufriedenstellend funktionieren. Solange das Finanzsystem nicht saniert wird – mit Banken geringerer Größe, von denen keine als systemrelevant gilt, und mit deutlich höherem Eigenkapital –, bleibt diese Art von Bankenunion eine falsche Lösung, die lediglich der Imagepflege der Brüsseler Verwaltung dient.43 Genau dieser systemrelevante Charakter der nationalen Banken-Champions ist gefährlich, da er Regierungen dazu verleitet, in kritischen Momenten die Sanierungskosten auf den Steuerzahler statt auf den Aktionär und den Inhaber von Obligationen abzuwälzen. Als Vorwand wird angegeben, es gehe darum, die Ausbreitung des Ausfall- oder Konkursrisikos zu begrenzen.

Den Steuerzahler ohne jede Gegenleistung dazu zu zwingen, die Rechnung zu bezahlen, obwohl er für die Schwierigkeiten einer bestimmten Bank nicht verantwortlich ist, ist nicht zu rechtfertigen und zieht seine Verarmung nach sich. Der Schutz des Steuerzahlers und die Rückübertragung der Verantwortung auf den Aktionär und den Inhaber von Obligationen verlangt nach einem Finanzsystem mit kleineren Banken, die Eigenverantwortung tragen, das heißt letztendlich in Konkurs gehen können, wenn ihre Strategie sich als zu riskant erweist.

Die Austeritätspläne

Wie bereits eingangs des Kapitels erwähnt, versuchen die Regierungen die Finanzmärkte auch über die Einführung von Austeritätsplänen zufriedenzustellen, die von den Finanzmärkten nur dann positiv aufgenommen werden, wenn sie ausreichend streng sind. Sonst werden sie zumeist als «verspätet» oder «zu lasch» bezeichnet. Sollte man, um den Finanzmärkten Genüge zu tun, die Löhne der europäischen Arbeiter auf das Niveau ihrer vietnamesischen oder indischen Kollegen absenken, damit Europa wieder wettbewerbsfähig würde? Seien wir doch ehrlich: Solche politischen Maßnahmen sind äußerst gefährlich! Sie führen zu prekären Arbeitsverhältnissen und zur Verarmung der Angestellten. Fast fragt man sich, ob eine Rückkehr ins frühe neunzehnte Jahrhundert angezeigt wäre, damit die Finanzmärkte Ruhe geben – also in eine Zeit ohne Rentensystem oder Sozialversicherungen …

Paradoxerweise stürzen sich die Finanzmärkte mit Vehemenz auf die Arbeitskosten, sind jedoch keineswegs alarmiert, wenn es um die Auswüchse bei der Entlöhnung einer beträchtlichen Anzahl von leitenden Angestellten in den Großbanken und Großkonzernen geht (siehe dazu das folgende Kapitel). Sie sollten sich überdies Sorgen machen über die Fälle von exzessiven Dividenden und über die Kosten, die dafür auf den Unternehmen lasten. Ganz offensichtlich analysieren sie diese Probleme nicht mit derselben Schärfe.

Die Diktatur der Finanzmärkte

Wäre es ein Sakrileg, den Einfluss der Finanzmärkte einschränken zu wagen? Legen Institutionen, die sich – übrigens größtenteils vergeblich – damit abmühen, die von ihnen selbst als irrational dargestellten Märkte zu befriedigen, sobald diese auf vorgeblich gute Nachrichten mit einem Kursrückgang reagieren, nicht selbst eine irrationale Haltung an den Tag? Wenn sich die Finanzmärkte gemäß der modernen Finanztheorie häufig irrational verhalten, wäre der Versuch, sie zufriedenzustellen, nicht nur illusorisch, sondern würde sie in ihrer Tendenz zur Irrationalität noch bestärken.

Aber wer versteckt sich eigentlich hinter den Finanzmärkten? Elektronische Götter der Moderne, deren unwiderrufliche Urteile in Echtzeit auf unseren Bildschirmen aufleuchten? Prosaischer ausgedrückt, handelt es sich um mächtige Akteure wie Investmentbanken und spekulative Fonds, welche ebendiese Märkte manipulieren oder es zumindest versuchen, um aus ihren Einsätzen Gewinn zu schlagen. Diese Machenschaften führen zu scheinbar erratischen Bewegungen der Börsenkurse und reißen die Wirtschaft mit in eine gefährliche Abwärtsspirale. Die von solchen Akteuren dominierten Märkte beruhigen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt, denn auf diesen Märkten, deren finanzielle Transaktionen in immer höherer Frequenz (bis zu einigen Mikrosekunden) abgewickelt werden, ist es die fieberhafte Hektik und nicht die Stabilität, die Gewinne erzeugt.

Überdies breitet sich in der Bevölkerung immer mehr ein Gefühl der Ohnmacht aus. Politiker werden für ihre Programme gewählt; diese werden jedoch häufig sofort wieder verworfen, sobald sie das Pech haben, den Finanzmärkten zu missfallen. Die Macht der Märkte läuft den Grundprinzipien der Demokratie zuwider.

Im Jahr 1966 erklärte General de Gaulle auf einer Pressekonferenz im Elysée-Palast:

«Die Politik Frankreichs wird nicht an der Börse gemacht.»44

Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass dieses Kapitel heute abgeschlossen ist. Fortan sind es die elektronischen Finanzmärkte, welche die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Ausrichtung der Länder bestimmen. Linke wie rechte Politiker dürfen nur eine Politik verfolgen: die der Finanzmärkte. Das läuft auf eine Form von Diktatur hinaus.

Griechenland ist unter Vormundschaft gestellt

Anfang November 2011 besaß Georgios Papandreou, damals noch Ministerpräsident Griechenlands, die Kühnheit, ein Referendum anzukündigen, damit die Bürger ihre Meinung zu der von Europa angebotenen Finanzhilfe für ihr Land und den damit einhergehenden Austeritätsplänen kundtun konnten. Wenige Tage später hat Papandreou sein Amt verloren. Es wäre wünschenswert, dass in unserem vorgeblich demokratischen Rahmen nicht nur griechische, sondern auch deutsche und französische Bürger über sie direkt betreffende Fragen und über die Verwendung öffentlicher Gelder mitbestimmen könnten! Ende 2014 kündigte der IWF an, Griechenland kein weiteres Geld zu leihen, bis die nächste Regierung gebildet sei, was für Januar 2015 vorgesehen war. Die Europäische Union stand dem IWF in nichts nach. Pierre Moscovici, der EU-Wirtschaftskommissar, warnte in regelmäßigen Abständen: «Griechenland muss die eingegangenen Verpflichtungen erfüllen und die notwendigen Reformen einführen.» Für den ehemaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble gab es keine Alternative zu den in Griechenland eingeführten Reformen. Sofort nach den Wahlen erklärte die Rating-Agentur Moody’s, dass der Sieg der Partei Syriza «negative Auswirkungen auf die Wachstumsperspektiven» der Wirtschaft habe,45 und der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, warnte: «Es kann keine demokratische Abwahl der europäischen Verträge geben.» Die Troika, das heißt die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), hat eine eigenartige Vorstellung von Demokratie: Ihre eigenen Forderungen sollen Vorrang vor dem Votum der Wähler haben. Die Bürger dürfen zwar wählen, ihre Regierungen sollen sich jedoch an bestimmte «Empfehlungen» halten. Andernfalls wird die Bevölkerung zunächst verwarnt und dann bedroht für den Fall, dass sie die Kühnheit besitzen sollte, die erneute Verhandlung und die Streichung eines Teils ihrer Schulden in Erwägung zu ziehen; obwohl doch diese Schulden zu einem großen Teil das Ergebnis einer Steuer- und Finanzpolitik sind, die meist von internationalen Institutionen und Großbanken vorgeschrieben wurde.

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