Das Collier der Lady Ira

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4.

Samstag, 29. März

Morven saß zusammen mit Nathan Durie im Verhörzimmer einem Häufchen Elend gegenüber. Ken Harrington hatte geweint. Sein Gesicht war gerötet und um die Augen herum leicht geschwollen. Falls er tatsächlich so gebrochen war, wie er wirkte, würde er gestehen, seine Frau erdrosselt zu haben. Dass die Tatwaffe noch nicht gefunden worden war, wollte nichts heißen. Der von der Rechtsmedizin ermittelte Todeszeitpunkt zwischen acht Uhr dreißig und neun Uhr und Harringtons Anruf bei der Polizei um neun Uhr achtunddreißig hatte ihm mehr als genug Zeit gegeben, das Corpus Delicti unauffindbar zu entsorgen.

Laut Obduktionsbericht und der Spurenanalyse stammten Faserspuren, die sich durch die Strangulation am Hals abgelagert hatten, von einem nagelneuen weißen Polypropylenseil, wie man es in jedem Baumarkt und Supermarkt kaufen konnte. Dass sich keine anderen Spuren und auch keine DNA außer der des Opfers an den Fasern gefunden hatten, deutete in doppelter Hinsicht auf eine vorsätzliche Tat hin. Offenbar hatte Harrington das Seil frisch gekauft, vermutlich nur für diesen Mord. Außerdem trug er, als Morven und ihr Team am Tatort eingetroffen waren, immer noch Lederhandschuhe, die er nicht ausgezogen hatte, obwohl es nicht so kalt war, dass man Handschuhe tragen musste – schon gar nicht in einem geheizten Raum. Außerdem hatte er behauptet, seiner Frau den Puls gefühlt zu haben. Das war mit Handschuhen nicht möglich.

»Mr Harrington, es sieht nicht gut für Sie aus«, eröffnete Morven das Verhör. Er blickte sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen und er kein Wort verstanden. »Sie haben für den Todeszeitpunkt Ihrer Frau kein Alibi. Theoretisch hätten Sie lange vor Ihrem Anruf bei der Polizei im Geschäft sein und die Tat begehen können. Sie hatten in der Zwischenzeit genug Gelegenheit, die Waffe und Ihre Kleidung mit den verräterischen Spuren der Tat zu beseitigen.«

Harringtons Augen füllten sich mit Tränen, die ungehindert seine Wangen hinunterliefen. Er schüttelte den Kopf, langsam zunächst, dann immer heftiger. »Ich habe ihr nichts getan!«, heulte er los. »Ich habe sie doch geliebt!« Er verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte.

Durie schnaubte. »Sie haben Ihre Frau mehrfach geschlagen, und zwar so sehr, dass Nachbarn die Polizei gerufen haben und Ihre Frau sogar zweimal im Krankenhaus behandelt werden musste. Das nennen Sie Liebe?« Er schüttelte den Kopf. »Dann möchte ich nicht erleben, wie Sie Ihre Feinde behandeln.«

Harrington antwortete nicht.

»Sie haben Ihre Frau mit Eifersucht verfolgt, die nach Aussagen Ihrer Nachbarn und Verwandten völlig unbegründet war«, fuhr Durie fort. »Das soll Liebe sein? Ich sage Ihnen mal was von Mann zu Mann. Wenn man eine Frau liebt, vertraut man ihr und bezichtigt sie nicht völlig grundlos der Untreue. Erst recht schlägt man sie nicht. Das tun nur Schlappschwänze.«

Morven zuckte bei der Verachtung in Duries Stimme zusammen, musste ihm aber Recht geben. Harrington reagierte immer noch nicht.

»Und ich sage Ihnen noch was, was Ihnen wahrscheinlich nicht gefallen wird. Eifersucht ist kein Ausdruck von Liebe, sondern von mangelndem Selbstwertgefühl des Eifersüchtigen und vor allem von mangelndem Vertrauen. Hätten Sie mal an sich gearbeitet, um Ihre Eifersucht und deren Ursachen in den Griff zu bekommen, wäre Ihre Frau noch am Leben.«

Das erzeugte endlich eine Reaktion. Harrington riss die Hände vom Gesicht und starrte Durie an. »Aber ich habe sie nicht umgebracht! Ich war das nicht! Das schwöre ich bei Gott, Jesus, Maria und allen Heiligen!« Er hob die Hand zum Schwur – und brach zusammen. Er legte beide Arme verschränkt auf den Tisch, vergrub sein Gesicht in der Armbeuge und weinte zum Gotterbarmen.

Morven empfand gegen ihren Willen Mitleid mit ihm. Außerdem glaubte sie ihm. Er müsste schon ein extrem guter Schauspieler sein, um auf Kommando echte Tränen produzieren zu können und eine solche Verzweiflung vorzutäuschen. Ausgeschlossen war das zwar nicht; Morven hatte schon einmal mit einem eiskalten Verbrecher zu tun gehabt, der eine ähnliche Show geboten hatte, die sich als Fake entpuppte. Aber der hatte nicht schon vor der Vernehmung geweint.

Doch wenn Harrington seine Frau nicht umgebracht hatte – wer dann?

»Bitte beruhigen Sie sich, Mr Harrington«, sagte sie sanft. »Können Sie uns ein paar Fragen beantworten? Wenn Sie wirklich unschuldig sind, können Sie uns vielleicht helfen, den wahren Täter zu finden.« Sie holte ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Hosentasche und schob es ihm hin.

Er nahm es, zog mit zitternden Fingern ein Taschentuch heraus, wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich. Starrte erst auf die Tischplatte vor sich und warf Morven nach einer Weile mit gesenktem Kopf einen flackernden Blick zu. Schließlich nickte er. »Fragen Sie.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Danke. Zunächst ein unbedeutendes Detail. Sie haben vor Ort ausgesagt, dass Sie Ihrer Frau den Puls gefühlt haben.«

Harrington runzelte die Stirn, ehe er nickte.

»Der Verdächtige hat genickt«, diktierte Durie dem laufenden Aufnahmegerät.

»Ja«, bestätigte Harrington.

»Aber bei unserem Eintreffen haben Sie Handschuhe getragen.«

Wieder ein Stirnrunzeln. Schulterzucken. »Habe ich das?«

»Haben Sie«, bestätigte Morven. »Mit Handschuhen kann man aber keinen Puls fühlen. Sind Sie sicher, dass Sie Ihrer Frau den Puls gefühlt haben?«

Harrington starrte auf die Tischplatte, knetete das Papiertaschentuch und runzelte erneut die Stirn. »Ja«, antwortete er nach einer Weile. »Ich habe einen Handschuh ausgezogen.«

»Und ihn dann wieder angezogen?«, hakte Durie nach. »Das ist zumindest ungewöhnlich.

Kopfschütteln. »Daran erinnere ich mich nicht. Aber das muss ich wohl getan haben.« Harrington sah auf. »Ist das wichtig?«

»Wir versuchen nur, die Dinge logisch nachzuvollziehen«, beruhigte ihn Morven.

»Ich mag nicht gerne Dinge anfassen. Ohne Handschuhe fühle ich mich …« Er zuckte mit den Schultern. »Also, ich habe den vermutlich wieder angezogen. Als Reflex.«

Das war zumindest eine nachvollziehbare Erklärung, die aber noch zu prüfen sein würde.

»Hatte Ihre Frau Feinde?«, wollte Morven wissen.

Harrington schüttelte den Kopf, erinnerte sich aber wohl daran, dass seine Aussage aufgezeichnet wurde und ein Kopfschütteln oder Nicken als Antwort nicht genügte. »Nicht, dass ich wüsste«, fügte er hinzu. »Zumindest hat sie nie so was erwähnt.«

»Keinen Streit mit nervtötenden Kundinnen oder Kunden, die mit ihrer Arbeit unzufrieden waren?«, hakte Durie nach. »Manche sind ja so anspruchsvoll, dass sie sich über alles aufregen.«

Harrington nickte und schüttelte erneut den Kopf. »Klar, das kam ab und zu vor. Aber Gwyn hat nie erzählt, dass jemand sie bedroht hätte.«

»Was ist mit der Konkurrenz?«, fragte Morven. »Wie wir inzwischen wissen, hat Ihre Frau als Goldschmiedin einen hervorragenden Ruf. Sie hat sogar zweimal einen Designerpreis gewonnen. Das hat doch bestimmt so manchen Neider auf den Plan gerufen.«

Harrington zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Wenn ja, hat sie darüber nicht geredet.«

Morven schüttelte innerlich den Kopf. Wenn sie einen Partner gehabt hätte, sie hätte ihm als Erstem von solchen Vorkommnissen berichtet. Das gehörte für sie zu einer Partnerschaft. Man tauschte sich aus, wie der Arbeitstag gewesen war und was es an Neuigkeiten gab. Offenbar hatte in der Ehe der Harringtons so einiges nicht mehr gestimmt, und Ken Harringtons Eifersucht war nur eine Baustelle von vielen.

»Wie war das an ihrem Todestag? Sie haben vor Ort gesagt, Ihre Frau habe schon im Vorfeld ein verspätetes Heimkommen angekündigt wegen eines Kunden, der zu Ladenschluss oder vielleicht noch später etwas abholen wollte.«

»Ja.«

»Kam das öfter vor?«

Harrington schüttelte den Kopf. »Nein. Darum dachte ich ja …« Er warf Durie einen kurzen Blick zu. »Darum habe ich mir Sorgen gemacht, als sie eine halbe Stunde nach der üblichen Zeit noch nicht wieder zu Hause war.«

Nicht nur für Morven war offensichtlich, dass Harringtons »Sorgen« die pure Eifersucht gewesen war. Wieder einmal fand sie bestätigt, dass Eifersucht das logische Denken aushebelte. Kein Mensch, der den Partner oder die Partnerin betrog, würde das zu einem Zeitpunkt tun, der Misstrauen erregte wie ein vorgeschützter später Kundenbesuch, sondern den Betrug durchführen, wenn keine Gefahr bestand, erwischt oder im Vorfeld überhaupt verdächtigt zu werden: in der Mittagspause, bei einem angeblichen Meeting während der normalen Arbeitszeit …

»Mr Harrington, wissen Sie, wer Zugang zum Laden Ihrer Frau hat? Schlüssel, Passwörter für die Buchhaltung und so weiter.«

Harrington nickte. »Ihre Assistentin, Fiona Gall. Sie arbeitet im Verkauf, während Gwyn in der Goldschmiede …« Wieder flossen Tränen. »Sie hat so wundervolle Sachen hergestellt!« Wieder legte er den Kopf auf die Arme und heulte.

Morven sah keinen Sinn in der Fortsetzung der Vernehmung, die sowieso nichts brachte, weil Harrington zu wenig wusste. Mit etwas Glück konnte Fiona Gall ihnen mehr helfen. »Ende der Vernehmung: zehn Uhr fünfzehn«, sprach Morven ins Mikrofon und schaltete das Aufnahmegerät aus. Sie gab Constable Morris, der stumm in der Ecke neben der Tür stand, einen Wink, Harrington in die Zelle zurückzubringen. Seufzend lehnte sie sich zurück und schüttelte den Kopf, kaum dass Harrington draußen war.

»Sie glauben ihm seine Unschuldsbeteuerung?«, vergewisserte sich Durie.

»Sie nicht?«

Durie wiegte den Kopf. »Ich schließe nicht aus, dass er unschuldig sein könnte. Aber meine Vorgesetzte sagt immer, dass wir nur den beweisbaren Tatsachen glauben sollten.« Er zwinkerte ihr zu.

 

Morven grinste flüchtig. »Womit sie Recht hat«, stimmte sie ihm zu. Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Wir können ihn noch bis Montag ohne Haftbefehl festhalten. Wenn wir bis dahin keine stichhaltigen Beweise oder zumindest Indizien für seine Schuld gefunden haben, müssen wir ihn gehen lassen.«

Durie wiegte den Kopf. »Der Knackpunkt ist das Seil. Wenn wir das finden, müssten sich daran außer DNA vom Opfer auch Faserspuren von Harringtons Handschuhen befinden. Vorausgesetzt, er ist der Täter. Und vorausgesetzt, er hat es nicht irgendwo entsorgt, wo alle Spuren zerstört oder kontaminiert wurden. Zum Beispiel in einem Gully.«

Morven schnitt eine Grimasse. »Dann würden wir es sowieso nicht finden, denn wir können nicht jeden Gully entlang der Straße, in der das Geschäft liegt, nach dem Seil absuchen. Ganz abgesehen davon, dass die Kanalisation es längst sonst wohin gespült hat, falls der Täter es tatsächlich in einen Gully geworfen hat.« Sie stand auf. »Wir befragen die Assistentin. Sicherlich kann sie uns mehr sagen.«

»Wenn sie nicht nur Mrs Harringtons Assistentin, sondern vielleicht auch ihre Freundin war, ganz bestimmt«, stimmte Durie ihr zu.

Sie verließen den Verhörraum. Vor der Tür kam ihnen Detective Sergeant Molly MacKay entgegen, einen Folder in der Hand, mit dem sie den beiden zuwinkte.

»Die Berichte über die Durchsuchung von Harringtons Haus und Auto und die Untersuchung seiner Kleidung, die er am Tatort getragen hat. Ich fasse kurz zusammen. Weder im Haus noch im Auto noch anderswo auf dem Grundstück wurde ein Seil gefunden oder ein Rest davon, das zu den Fasern an der Leiche passt. An seiner Kleidung befinden sich keine Spuren der Kleidung, die seine Frau am Todestag getragen hat. Die Handschuhe weisen ebenfalls keine signifikanten Spuren auf. Nur ein paar wenige Hautzellen seiner Frau, die aber zum Beispiel bei einem Handschütteln zum Abschied übertragen worden sein können oder dass sie die Dinger beiseite geräumt hat, als sie ihr im Weg lagen. Hätte er seine Frau erdrosselt, müsste erheblich mehr DNA vorhanden sein – und auch an anderen Stellen der Handschuhe, beispielsweise auf den Fingerrücken.«

Und Harrington hatte keine Zeit gehabt, die Kleidung zu wechseln, um unkontaminierte anzuziehen, bevor er die Polizei rief.

»Außerdem haben zwei Nachbarn unabhängig voneinander ausgesagt, dass Harrington am Tatabend um ungefähr neun Uhr weggefahren ist«, ergänzte Mac­Kay. »Man weiß das deshalb so genau, weil er, ich zitiere: ›mal wieder die Garagentür geknallt hat, dass die Wände wackelten‹. Offenbar hat er noch ein mechanisch schließendes Tor.« Sie reichte Morven die Akte. »Wie es aussieht, ist Mr Harrington nicht der Täter.«

»Scheiße«, murmelte Durie und schüttelte den Kopf. »Er hätte trotzdem verdient, im Gefängnis zu schmoren.«

Morven lächelte traurig. »Leider ist Eifersucht – krankhaft oder nicht – nicht strafbar.«

»Leider!«, stimmte er ihr nachdrücklich zu.

Sie schüttelte den Kopf. »Okay, Harrington ist höchstwahrscheinlich nicht der Täter. Hoffen wir, dass die Assistentin mehr weiß.«

***

Fiona Gall, eine Mittdreißigerin mit blauen Augen und einer flammenroten Lockenpracht, die an das Mädchen aus dem Film »Merida« erinnerte, war sichtlich mitgenommen vom Tod ihrer Chefin. Das Gesicht blass, der Ausdruck tieftraurig, die Bewegungen fahrig, und ihre Hand zitterte, als sie sich Tee einschenkte, den sie auch Morven und Durie anbot, die aber beide dankend ablehnten.

»Wer tut denn so was?«, fragte sie und trank einen Schluck Tee, an dem sie sich den Mund verbrannte, die Tasse klirrend auf die Untertasse setzte und auf den Tisch zurückstellte. »Wie kann ich helfen?«

»Mrs Harrington hat am Abend ihres Todes angeblich einen Kunden erwartet, der noch spät etwas abholen wollte«, antwortete Morven. »Zumindest hat sie das gegenüber ihrem Mann behauptet. Wissen Sie etwas darüber?«

Fiona Gall nickte. »John MacDonald. Er hatte bei ihr ein Schmuckstück bestellt, das er seiner Frau zum Geburtstag schenken wollte.«

Morven und Durie sahen einander an. Also hatte es den späten Kunden wohl tatsächlich gegeben.

»Aber in dem computergeführten Terminkalender war dieser Termin nicht eingetragen«, teilte Durie ihr mit.

»Was?« Fiona Gall schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe ihn selbst eingetragen, nachdem Mr MacDonald ihn am Tag zuvor telefonisch mit Mrs Harrington vereinbart hatte. Ich habe ihn noch extra rot markiert, weil er so spät war und Mrs Harrington immer sehr pünktlich Feierabend machte. Sie musste – wollte immer sehr pünktlich zu Hause sein.«

»Wollte sie das oder musste sie, weil sonst ihr Mann einen Eifersuchtsanfall bekommen hätte?«, hakte Durie nach.

Fiona Gall errötete leicht. »Das wissen Sie also schon.« Sie seufzte. »Sie musste. Mr Harrington hat einmal einen Riesenaufstand gemacht. Wir – also, Mrs Harrington und ich – saßen gemeinsam über dem Jahresabschluss. Irgendwas stimmte nicht, und wir haben verzweifelt den Fehler gesucht, der sich einfach nicht finden lassen wollte. Wir waren so vertieft darin, dass wir nicht auf die Zeit geachtet haben und Mrs Harrington deshalb vergessen hat, ihren Mann anzurufen und ihm Bescheid zu sagen, dass sie sich verspätet.«

Morven ahnte, wie die Geschichte weiterging.

»So ungefähr gegen neun Uhr platzte Mr Harrington ins Geschäft und machte eine Szene, weil er glaubte, seine Frau wäre mit einem anderen Mann zusammen.« Fiona Gall schüttelte den Kopf. »Er hat alles durchsucht, wo sich ein Mensch hätte verstecken können. Aber denken Sie bloß nicht, dass er an die Unschuld seiner Frau geglaubt hat, als er keinen nackten Mann im Kleiderschrank fand.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus, und sie verzog angewidert das Gesicht. »Stattdessen hat er ihr unterstellt, ihr Lover wäre schon gegangen, und er hätte ihn bloß verpasst. Und obwohl ich ihm versichert habe, dass ich die ganze Zeit mit seiner Frau zusammen war und wir wirklich nichts anderes getan haben, als den Fehler zu suchen, hat er das nicht geglaubt und mir ins Gesicht gesagt, dass ich lüge, um seine Frau zu decken.«

»Haben Sie?«, hakte Durie nach.

»Himmel, nein!« Fiona Gall hob abwehrend beide Hände. »Für so was gebe ich mich nicht her.« Sie schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht mal für meine beste Freundin tun.«

Womit sie klargestellt hatte, dass sie nur die Angestellte ihrer Chefin, aber nicht ihre Freundin gewesen war.

Sie blickte Morven und Durie bedrückt an. »Ich glaube, er hätte sie geschlagen, wenn ich nicht da gewesen wäre.« Sie schnaufte. »Wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Mrs Harrington hat schon manches Mal ein blaues Auge gehabt. Und sie hat sich nur nicht scheiden lassen aus Angst, dass er sie dann umbringt.«

»Hat sie das gesagt?«

Fiona Gall nickte. »Mehrfach. Und an dem besagten Abend habe ich das auch mit eigenen Ohren gehört. ›Wenn du einen anderen hast oder mich verlässt, bringe ich dich um!‹, hat er gedroht. Und die Faust gegen sie geschüttelt. Wie gesagt: Ich bin mir sicher, dass er sie geschlagen hätte, wenn ich nicht da gewesen wäre.« Sie nickte heftig, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

Das warf ein neues Licht auf die Sache. Harrington hatte seine Frau vielleicht nicht selbst umgebracht, könnte aber durchaus jemanden dafür engagiert haben. Zum Beispiel Mr John MacDonald.

»Was ist mit diesem MacDonald?«, fragte Morven aus diesem Gedanken heraus. »Hatten Sie den Eindruck, dass es ein echter Auftrag ist oder nur ein Vorwand?«

Fiona Gall blickte sie verständnislos an. »Vorwand – wofür?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nie mit dem Mann persönlich zu tun gehabt. Er war nur einmal da, um mit Mrs Harrington den Auftrag zu besprechen, und da war ich gerade in der Mittagspause. Und sie hat mir nichts weiter darüber gesagt, außer dass er ein Schmuckstück in Auftrag gegeben hat, dessen Anfertigung eine Weile dauern würde.«

»Um was für ein Schmuckstück handelte sich?«, hakte Durie nach.

»Das weiß ich nicht. Mrs Harrington hat mich in die Kundenaufträge nur eingeweiht, nachdem sie das jeweils bestellte Schmuckstück fertig hatte. Dann hat sie es mir gezeigt und nach meiner Meinung gefragt. Aber vorher durfte niemand etwas Konkretes wissen und es erst recht nicht ansehen, bevor es nicht fertig war.« Fiona Gall zuckte mit den Schultern. »Sie war in dem Punkt ein bisschen abergläubisch. Und ich habe auch nie nachgefragt. Ging mich ja nichts an. Aber ich glaube, es muss entweder eine mehrreihige Halskette oder ein dicht an dicht mit kleineren Edelsteinen besetztes Armband gewesen sein, denn andere Anfertigungen dauern – dauerten bei Mrs Harrington in der Regel nicht ›eine Weile‹ in dem Sinn, den sie gemeint hat.«

»Von welchem Zeitraum sprechen wir?«, erkundigte sich Durie.

»Mindestens vier Wochen. Und das auch nur, wenn sie die benötigten Zutaten – Materialien – vorrätig hatte oder sie leicht zu besorgen waren. Zum Beispiel das Besorgen eines schwarzen Opals dauert seine Zeit, weil diese Steine nicht nur selten sind, sondern sehr verschieden in der Qualität und natürlich im Grad ihrer Dunkelheit.« Sie lächelte flüchtig. »Denn im Gegensatz zu ihrer Bezeichnung sind schwarze Opale niemals vollständig schwarz. Sie haben immer diesen für Opale typischen perlmuttartigen Farbschimmer, sonst sind es keine Opale. Und natürlich mussten das Material auch schon weitgehend verarbeitungsfertig, also vorgeschliffen sein. Wenn sie zum Beispiel einen Rohdiamanten selbst komplett schleifen musste, dauerte das seine Zeit. Sie hat auch ein Zertifikat als Edelsteinschleiferin und die entsprechenden Gerätschaften in der Werkstatt.«

Morven empfand einen Anflug von Ungeduld. Sie wollte keinen Vortrag in Edelsteinkunde und deren Verarbeitung, sondern hatte einen Mord aufzuklären.

Fiona Gall musste ihr das wohl ansehen oder spüren, denn sie wurde ernst und räusperte sich, was verlegen klang. »Aber es gibt Akten über jeden Spezialauftrag«, kam sie wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Die sind im Computer hinterlegt. Weil Mr MacDonald seine Bestellung an dem Abend abholen wollte, muss das Schmuckstück ja fertig gewesen sein. Mrs Harrington hat immer akribisch dokumentiert, was die Kunden wünschen, damit hinterher niemand behaupten kann, dass sie etwas nicht so gemacht hat, wie sie beauftragt wurde.«

»Kam das vor?«, wollte Durie wissen.

Fiona Gall nickte. »Mindestens einmal, aber das war vor meiner Zeit. Und seitdem hat sie diese Akten geführt, wie sie mir mal sagte. Und von jedem fertigen Schmuckstück hat sie natürlich auch Fotos gemacht und die der Akte beigefügt.« Sie lächelte flüchtig. »Falls mal ein Stück noch im Laden oder später beim Kunden gestohlen wird, hätte sie der Polizei mit dem Foto helfen können.«

Morven fand das sehr vorausschauend, denn nicht alle Menschen fotografierten für ebenso einen Fall ihre Wertsachen. »Hatte Mrs Harrington Feinde oder Neider, die ihr das Leben schwer gemacht haben?«, stellte sie eine der üblichen Routinefragen.

»Außer ihrem Mann, der meiner Überzeugung nach ihr größter Feind ist – war, wüsste ich niemanden. Sie hat immer ordentliche – nein: beste Arbeit geleistet, und die Kundschaft war immer sehr zufrieden; zumindest soweit ich weiß. Falls mal jemand unzufrieden war, habe ich das nicht mitbekommen.«

»Wie es aussieht, wurde im Geschäft nichts gestohlen, obwohl dort eine Menge Wertsachen quasi auf dem Präsentierteller liegen«, sagte Durie. »Können Sie sich vorstellen, wer außer dem Ehemann ein Motiv haben könnte, Ihre Chefin zu töten?«

Fiona Gall schüttelte den Kopf. »Niemanden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben auch nicht so besonders viel miteinander geredet. Ich war vorn im Laden und sie die meiste Zeit in der Werkstatt. Ab und zu saßen wir beim Tee zusammen, wenn wir Pause gemacht haben. Und da haben wir dann ein bisschen geplaudert. Aber Mrs Harrington hat außer ihrem Mann nie jemanden erwähnt, mit dem sie Ärger hatte. Aber das will ja nichts heißen.«

In der Tat. Persönliche Probleme, sofern sie einem nicht auf der Seele brannten, besprach man nicht mit Angestellten.

»Noch mal zurück zu dem Termin mit Mr MacDonald«, bat Durie. »Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie den eingetragen haben?«

»Ja.« Fiona Gall nickte nachdrücklich. »Hundertprozentig. Ich habe den Eintrag noch am Donnerstagmorgen gesehen, als ich für nächsten Mittwoch einen Beratungstermin für ein Brautpaar eingetragen habe.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh Gott, ich muss alle Termine absagen. Das habe ich total vergessen.«

 

»Könnte es einen Grund geben, warum Mrs Harrington ihn vielleicht gelöscht hat?«, hakte Durie nach.

Kopfschütteln. »Das hat sie nie getan. Außer wenn ein Termin abgesagt wurde. Schließlich ist der Terminkalender auch ein Nachweis ihrer Arbeit. Manchmal hat sie nicht nach dem Wert des Endprodukts abgerechnet, sondern nach Stundenhonorar für die tatsächlich geleistete Arbeit. Sie hat ihn am Jahresende immer ausgedruckt und in den Ordner mit den Jahresabschlüssen geheftet.«

»Wann haben Sie am Donnerstag Feierabend gemacht?«, wollte Morven wissen.

»Um sieben. Ich musste noch etwas besorgen. Und um die Zeit, noch dazu am Donnerstagabend, war sowieso selten noch was los.«

Morven und Durie sahen einander an.

»Wann gehen Sie gewöhnlich?«

»Um acht oder kurz danach, je nachdem, ob es noch was aufzuräumen gibt.«

Offenbar hatte der geheimnisvolle Mr MacDonald bewusst den späten Abholtermin gewählt, weil er dann sicher sein konnte, dass Gwyn Harrington allein im Laden war. Möglicherweise hatte er den Laden beobachtet und gesehen, dass Fiona Gall schon früher gegangen war und er freie Bahn hatte. In dem Fall hätte er zwischen dem Mord und dem Eintreffen von Ken Harrington noch genug Zeit gehabt, um nicht nur zu verschwinden und vorher die Überwachungsvideos zu löschen, sondern auch die Tatwaffe unauffindbar verschwinden zu lassen.

Morven beugte sich leicht vor. »Hat Mrs Harrington zufällig erwähnt, ob Sie diesen John MacDonald persönlich kennt? Also, ob sie ihn schon kannte, bevor er ihr den Auftrag erteilte.«

Fiona Gall schüttelte den Kopf. »Nein. Aber – ausgeschlossen ist das natürlich nicht.«

»Kennt jemand außer Ihnen und Ihrer Chefin die Passwörter zum Computer, dem Sicherheitssystem, dem Safe?«

Erneutes Kopfschütteln. »Niemand. Und Mrs Harrington hat sie meines Wissens auch nie aufgeschrieben und ich ebenfalls nicht.« Sie blickte Morven und Durie abwechselnd an. »Was wird denn nun mit dem Geschäft?«

»Das muss am Ende Mr Harrington entscheiden«, antwortete Morven. »Er ist, falls seine Frau keine näheren erbberechtigten Verwandten hat, der Erbe. Im Moment ist das Geschäft sowieso noch ein Tatort. Also können Sie davon ausgehen, dass Sie bis auf Weiteres Urlaub haben. Und sicherlich wäre es nicht verkehrt, wenn Sie sich vorsorglich nach einem neuen Job umsehen.«

Fiona Gall nickte. »Das ist wohl das Beste.«

»Eine letzte Frage«, sagte Durie. »Wissen Sie noch, wann Mr MacDonald das Schmuckstück bestellt hat?«

Kurzes Nachdenken. »Vor ungefähr sechs Wochen. Wenn ich mich recht erinnere, war das etwa Mitte Februar.« Erneutes Nachdenken. »Um den zehnten herum, glaube ich, aber bestimmt nicht später als den fünfzehnten.« Sie nickte. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber es muss wirklich ein besonderes Stück gewesen sein, denn ich glaube, schon am nächsten Tag hat Mrs Harrington fast nur noch in der Werkstatt zugebracht und Steine geschliffen.« Sie verzog das Gesicht. »Obwohl die schallgedämmt ist, hört man dieses jaulende Geräusch, das wie der Bohrer beim Zahnarzt klingt. Und nach dem Auftrag von Mr MacDonald lief das Ding fast den ganzen Tag. Also denke ich, dass sie da ausschließlich an seinem Auftrag gearbeitet hat.«

Morven reichte ihr eine Visitenkarte. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, auch wenn es Ihnen unwichtig erscheinen sollte, melden Sie sich bitte. Und bestimmt haben wir später noch die eine und andere Frage. Außerdem brauchen wir den Code für den Safe. Vielleicht befindet sich etwas darin, was uns einen Hinweis gibt.«

Fiona Gall zögerte, nahm dann einen Zettel und notierte vier Zahlenreihen. »Der Erste ist für den Safe, der Zweite für den Tresor, der Dritte für den Computer und der Letzte für die Alarmanlage. Falls Sie den brauchen.«

»Vielen Dank, Ms Gall.«

Morven und Durie verabschiedeten sich und verließen Fiona Galls Wohnung.

»Also hat es den geheimnisvollen Kunden tatsächlich gegeben«, resümierte Durie auf dem Weg zu ihrem Dienstwagen. »Hat er den Termin gelöscht?«

Morven schüttelte den Kopf. »Dann müsste er das Passwort für den Computer kennen.«

Durie schüttelte ebenfalls den Kopf. »Als wir am Tatort ankamen, war der Computer noch eingeschaltet; zwar im Stromsparmodus, aber eingeschaltet. Wenn Mrs Harrington ihn noch gar nicht ausgeschaltet hatte, wäre es für ihn kein Problem gewesen, den Termin zu löschen. Und seine Akte gleich mit.«

»Scheiße«, murmelte Morven. »Wir sollten unbedingt nachsehen.«

Auf dem Weg zurück ins Präsidium betete sie inständig, dass wirklich nur der Termin gelöscht worden war.

***

Die »Hexe« warf Morven und Durie nur einen kurzen Blick zu, als sie deren Allerheiligstes betraten. Aber der sprach Bände und signalisierte die deutliche Warnung, sie bloß nicht zu stören.

»Tut mir leid, Ally, aber wir können auf dein Bedürfnis nach Ungestörtheit keine Rücksicht nehmen«, antwortete Morven auf die stumme Botschaft.

Allison Brady grunzte nur und ließ ihre Finger weiter über die Tastatur tanzen in einer Geschwindigkeit, dass Morven sich nicht zum ersten Mal fragte, wie sie überhaupt die richtigen Tasten treffen konnte, ohne ihre Finger zu verheddern. Nicht nur diese atemberaubende Geschwindigkeit im Tippen war für Allys Spitznamen verantwortlich. Sie war eine Hexenmeisterin am Computer und steckte nahezu alle Kolleginnen und Kollegen in ganz Schottland, wahrscheinlich sogar des ganzen Königreichs und etliche ausländische Koryphäen, in die Tasche.

»Was immer ihr wollt, die Antwort ist Nein«, beschied sie den beiden.

»Wie schade«, meinte Morven scheinheilig. »Ich wollte dich zum Essen einladen.«

»Nein«, beharrte Ally, zwinkerte ihr zu, und beide lachten.

Sie waren seit ihrer gemeinsamen Zeit auf dem Po­lice College befreundet. Vorübergehend hatten sich ihre Wege nach dem Abschluss getrennt, weil Ally eine Spezialausbildung zum Computercrack absolviert hatte, aber seit ein paar Jahren waren sie im selben Revier in Corstorphine und hatten ihre Freundschaft nahtlos fortgesetzt.

»Ich weiß schon, weshalb ihr gekommen seid«, war Ally überzeugt. »Die Überwachungsaufzeichnungen vom Computer aus dem Juweliergeschäft.« Sie schüttelte den Kopf und blickte Morven an, ohne das Tippen zu unterbrechen. »Gelöscht. Aber nicht einfach nur gelöscht, sondern mehrfach überschrieben. Da war ein Profi am Werk, der oder die genau wusste, was er oder sie tun musste, damit ich die Dateien nicht wiederherstellen kann.« Sie fletschte die Zähne und knurrte. »Ich hasse so was!«

»Du hast mein volles Mitgefühl«, versicherte Morven. »Aber wir sind nicht nur deshalb hier. Auf dem Computer befinden sich die Dateien über die Aufträge, die das Opfer ausgeführt hat. Der Auftrag, der uns interessiert, stammt von einem John MacDonald, und Mrs Harrington hat für ihn ein Schmuckstück angefertigt. Wir brauchen seine Adresse, die in der Akte stehen müsste.«

Ally rollte mit ihrem Stuhl zu einem Nebentisch, auf dem ein anderer Computer stand. Morven erkannte in ihm den, den sie aus Gwyn Harringtons Geschäft mitgenommen hatten. »Ich lasse auf dem Überwachungscomputer ein Suchprogramm nach versteckten oder kürzlich gelöschten Dateien laufen«, erklärte sie. »Aber Fehlanzeige. Wie gesagt, wer immer die Überwachungsaufzeichnung nach acht Uhr abends gelöscht hat, ist ein Profi.« Sie rief einen Dateiordner auf, der mit »Aufträge« bezeichnet war und öffnete ihn. »Ich finde hier fünf John MacDonalds mit unterschiedlichen Adressen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kein Wunder. Die MacDonalds sind der größte Clan des Landes, und John ist kein seltener Vorname. Wann wurde der Auftrag erteilt?«

»Vermutlich zwischen dem zehnten und fünfzehnten Februar«, antwortete Durie.