Einmal noch schlafen, dann ist morgen

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Eines verstehe ich nur nicht. Bobos werden oftmals auch Gutmenschen geheißen. Ich frage mich nur, wie muss eine Gesellschaft drauf sein, dass ein solches Wort zum Schimpfwort verkommen kann? Die Gebrüder Moped geben in ihrem Buch Heute gehört uns Österreich und morgen die ganze Scheibe eine Antwort:

GEBRÜDER MOPED

Insbesondere die jüngste Edition des Modells Gutmensch kennt in ihrer Umsetzung der pädagogischen Gehirnwäsche kein Erbarmen. Der Hipster. Zweimal Muttermilch macchiato bitte! Hipster-Eltern sind die mit Abstand schlimmste Form der Spezies Gutmensch. Sie kutschieren ihren Sprössling (Geburtsgewicht 4000 Instagram) im Kinderwagen aus Olivenholz zur Sojamilchtaufe. Dem Kleinen werden die Milchzähne gezogen. Wir sind schließlich vegan. Hipster erziehen ihre Kinder hartnäckig zu Toleranz und Multikulturalität. Sie reisen liebend gerne in entlegene Regionen, um dort fremde ihnen nicht vertraute Kulturen kennenzulernen. Der alljährliche Ausflug in den Wiener Gemeindebau.

Wieder denke ich an mein 16-jähriges Ich. Nimm das alles nicht so ernst, will ich ihm gerne zurufen. Das was wir sind, wird nie zu wenig sein haben wir damals mit Mondscheiner gesungen. Es war mehr eine Hoffnungsformel für uns selbst, und die Behauptung, diesen Beruf machen zu können, als eine Parole. Und einen Wimpernschlag später findet man sich plötzlich wieder mit Kindern und Hund, und die Leute sagen nicht mehr verächtlich »schau, ein Punk«, sondern »schau, ein Bobo«.

Mein 16-jähriges Ich hat seine T-Shirts abgenommen. Ich mache mir einen Espresso mit meiner super Maschine und lege wieder einmal Nevermind auf. Natürlich auf Vinyl. Kurt Cobain konnte nicht mehr zum Bobo werden. Er hat sich mit 27 Jahren erschossen. Die Musik hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Ich drehe den Volumenregler auf Maximum. Plötzlich läutet es an der Tür. Sie stellt sich höflich vor. Ihr Name ist Polly. Ich gratuliere zu ihren T-Shirts.

POLLY

Die gehörten meinem Vater. Ich verwende sie als Schlafleiberl.

Sie bittet mich, leiser zu drehen, weil sie lernen muss. I promise you. I have been true singt Kurt gerade. Verwirrt notiere ich die Liste für den heutigen Tag.

AKTIVITÄTEN FÜR MENSCHEN, DIE EINMAL IDEALE HATTEN UND SICH MITTLERWEILE ABER NICHT MEHR ALLZU VIEL VOM LEBEN ERWARTEN

1)Minigolf spielen

2)Tretboot fahren

3)»Schnürlsamthose« googeln

4)Mit Jogginghose in die Kirche gehen

5)Nach Baden bei Wien ziehen

6)Den Saugroboter wöchentlich auf die neueste Software updaten

7)Die kalte Progression verstehen

8)Den Bahnhof von Laa an der Thaya für die Modelleisenbahn maßstabgetreu nachbauen

9)Während der Coronakrise sagen: »Es ist nur ein Raucherhusten.«

10)Während der Coronakrise »Dritte Kassa bitte!« rufen

11)Alkoholfreies Bier trinken

12)Den Brief von der Sozialversicherung für Selbständige öffnen3

13)Ratgeber lesen

14)Ratgeber schreiben und dann sagen: »Es ist eh kein Ratgeber.«

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IRGENDWAS KANN EIN JEDER

Von der Pflicht zur Schrulligkeit

CHRISTINE NÖSTLINGER

Freunde darf man nicht enttäuschen, und gute Freunde tauscht man auch nicht aus.

Ich wurde von einem sehr guten Freund einmal so sehr enttäuscht, dass es mich ziemlich aus der Kurve gehoben hat und ich dort lange liegen geblieben bin, unsicher, ob ich wieder aufstehen wollen würde. Zum Glück konnte ich es eines Tages, und plötzlich sah ich ganz genau, was Freunde für mich erfüllen müssen, um diesen Titel zu erwerben. Umgekehrt gilt das natürlich auch. Loyalität ist so ein Wort. Aber wenn diese voll erfüllt ist, ist das schon mehr als die halbe Miete.

Ich habe ein paar wenige sehr enge Freunde. Sie sind launisch, trinkfest, faul und ganz wunderbar. Ich möchte die Geschichten von dreien von ihnen erzählen. Der erste Freund ist Finne. Er hört auf den schönen Namen Juhani. Also genau genommen kommt nur seine Mutter aus Finnland, er ist in Wien geboren. Er spricht auch leider nur wenig finnisch. Aber ein bisschen was kann er. Kalsarikänt ist finnisch und heißt, sich alleine zu Hause in Unterhosen betrinken. Ich beneide die Finnen um dieses Vokabel. In Finnland gibt es auch keine Kilometer, sondern poronkusema. Das ist die Länge, die ein Rentier zurücklegt, ohne pinkeln zu müssen, und zu einem Arzt sagen sie Läakari. Klingt ein bisschen wie Yakari, die Serie vom kleinen Indianer, der mit den Tieren sprechen kann, und sehr entfernt wie Daktari, der Buschdoktor mit Clarence, dem schielenden Löwen – aber das ist eine andere Geschichte. Wenn Juhani sehr betrunken ist, kann er auch mit Tieren sprechen. Aber das streitet er am nächsten Tag dann gerne ab. Wir kennen einander schon seit dem Kindergarten. Wollen Sie wissen, wie man auf finnisch zählt? Yksi, kaksi, kolme heißt 1, 2, 3. Im Kindergarten fanden wir das urlustig. Heute, wenn wir ziemlich betrunken sind, übrigens auch noch.

Wenn von Finnland die Rede ist, darf natürlich Aki Kaurismäki nicht fehlen. Ich glaube, er hat die Entschleunigung erfunden und stellt uns mit seinen Filmen auf die Probe. Trotzdem sind die Filme keine Sekunde langweilig, sondern poetisch und hochkomisch. Juhani hat auch eine göttliche Langsamkeit. Er widmet sich den Dingen in einer Ruhe, die mir jedes Mal imponiert. Multitasking ist ihm fremd und ich glaube auch zuwider.

Jedenfalls heißt mein Freund mit Nachnamen Zebra, also so hieß er nicht immer. Sein Großvater hatte so geheißen, ließ den Namen aus Rücksicht auf seinen Sohn – Juhanis Vater – ändern, weil er Angst hatte, dass die Kinder den Vater meines Freundes in der Schule hänseln würden. Juhani ging vor Gericht und wurde in erster Instanz abgelehnt mit der Begründung: »Zebra ist ein in der Steppe lebendes Pferd und kein Name.« Der Richter hieß übrigens Fuchs. Juhani machte weiter. Fragen Sie jetzt nicht, warum er nichts anderes zu tun hat. Jedenfalls gab ihm das Höchstgericht recht. Das ist alles wahr. Kann man googeln. Zeitungen haben darüber berichtet und sogar in der TV-Sendung Willkommen Österreich machte sich Grissemann über meinen Freund lustig. Die Geschichte geht weiter, teilt sich jetzt aber in zwei Handlungsstränge. Juhani darf jetzt also Zebra heißen. Seine große Schwester ist logischerweise auch halbe Finnin, vor nicht allzu langer Zeit gebar sie eine Tochter und nannte sie Tiina. In Finnland schreibt man Tiina mit zwei ii. Der Vater des Kindes, auch an diesem Strang der Handlung ist alles wahr, geht zum Standesamt, um den Namen seiner Tochter eintragen zu lassen. Der Beamte reicht ihm die Geburtsurkunde und sagt:

BEAMTER

Den Rechtschreibfehler hob I eana aus’bessert.

VATER

Nein, das ist schon richtig, unsere Tochter hat einen finnischen Namen, da schreibt man das so.

BEAMTER

Na guat. Heutzutage kann man auch schon Zebra heißen.

Der Vater, lässig im Gehen:

VATER

Ja, das ist mein Schwager.

Ich frage mich manchmal, was ich an meinen Freunden so mag. Was sie für mich besonders macht, neben ihrer Loyalität und Hilfsbereitschaft. Wahrscheinlich, dass sie Schrullen sind. Sie sind so aus der Zeit gefallen, auch wenn sie versuchen, es nicht zu sein.

Wolfgang, der Wirt und älteste im Bunde (wir nennen ihn zärtlich »Opa«), feierte einen runden Geburtstag. Er hatte eine kleine Anzahl von Menschen um sich versammelt. Zu späterer Stunde nahmen wir gemeinsam noch eine weiße Korrektur an der Bar zu uns. (Die weiße Korrektur ist das Pendant zum Reparaturseidel. Man trinkt sie allerdings noch vor dem Schlafengehen. Nachdem die meisten Gäste gegangen sind, alle ihr »Menü« hatten – einschließlich Espresso und Averna, möglichst in einem tiefgekühlten Glas serviert – eine sizilianische Tradition, die wir übernommen haben –, und die Küche tipptopp wiederhergestellt ist, dann ist es Zeit für die weiße Korrektur. Ein allerletztes Glas Weißwein im kleinsten Kreis.) Wir waren also im Begriff, uns über die weiße Korrektur herzumachen. Wolfgang blickte in die Runde und stellte zufrieden fest:

WOLFGANG, DER WIRT

Kein einziger Normaler dabei.

Das Wort Schrulle ist längst nicht mehr wirklich gebräuchlich, und dennoch ist es präzise. Heute würde man wahrscheinlich Nerd oder Freak sagen. Da gibt es Ähnlichkeiten. Aber die Schrulle ist immer eine Schrulle, auch wenn sie nicht beobachtet wird. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wolfgang, der Wirt, ist ein phänomenaler Koch. Wenn Jamie Oliver ihn kennen würde, würde er ständig Wolfgangs Rezepte in seinen Büchern verbraten. Wolfgang ist aber als Schrulle auch seiner Schrulligkeit verpflichtet und so finde ich in einem seiner Lieblingsrezepte, Polpette di Sarde, eine handgeschriebene Notiz hinzugefügt: »Pro Bällchen, zwei Rosinen und zwei Pinienkerne.« Auf seine Kochkunst angesprochen pflegt Wolfgang übrigens zu sagen:

WOLFGANG, DER WIRT

Irgendwas kann ein jeder.

Wolfgang ist Kaffee ein Anliegen, nein mehr: eine Lebenseinstellung. Er ist schließlich im Herzen Neapolitaner. Er hat eine italienische Tradition mit nach Wien genommen:

CAFFÈ SOSPESO

Im Lokal einen Kaffee bestellen, einen zweiten zahlen und an Bedürftige spenden, weil das heiße, schwarze Getränk nicht nur ein Genussmittel, sondern auch ein Grundrecht im Leben eines Neapolitaners/einer Neapolitanierin darstellt. Die Idee hat sich von Italien aus über die Welt verbreitet, aber eben, wie ich finde, nicht genug. Sie ist wie die meisten großen Ideen im Grunde einfach (nur draufkommen muss man halt.) Oder wie Alfred Dorfer in einem Programm sagt:

 

ALFRED DORFER

Ich habe auch oft gute Ideen, aber leider nie als Erster.

Man bestellt einen Espresso an der Bar und bezahlt zwei. Der Kellner oder die Kellnerin malt einen Strich auf die Kreidetafel und reicht den Kaffee. Obdachlose oder Menschen mit zu wenig Geld können von draußen erkennen, ob und wie viele Striche sich auf der Tafel befinden. So kann man die Bar betreten und mittels einer stummen Geste Richtung Tafel einen Espresso bestellen. Das Ganze ist unaufwendig und absolut würdevoll. Der Kreidestrich wird dann weggewischt und der Kaffee serviert. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass solche Errungenschaften eine Gesellschaft zusammenhalten. Die Decke der Zivilisation ist bekanntlich dünn und hat in den letzten Jahren auch in Europa und leider auch in meinem geliebten Italien durch stumpfsinnige Nationalisten Risse bekommen, aber Ideen wie der Caffè sospeso sind Möglichkeiten, um dagegenzuhalten.

Einmal bin ich mit Wolfgang in seinem Auto mitgefahren. Er wechselte die Spur, ohne zu blinken oder ließ sich eine ähnlich lässliche Sünde zu Schulden kommen. Man kennt das, Grund genug, um den Hintermann vollkommen auf die Palme zu bringen. (Licht-) hupend, gestikulierend fuhr dieser schimpfend hinter uns her. An der übernächsten Kreuzung stieg Wolfgang aus und ging zum immer noch vor Wut schnaubenden Fahrer des Autos hinter uns. Er redete ruhig auf ihn ein, und das Verhalten schlug plötzlich um. Sie gaben einander die Hand und wir fuhren weiter. Ich fragte ihn, wie das möglich gewesen sei. Wolfgang antwortete grinsend, während er sich eine Gitanes ansteckte:

WOLFGANG, DER WIRT

Wenn du jemandem, der dir gerade die Nase brechen will, sagst, dass du die ganze Schuld auf dich nimmst, und dass er mit seiner Wut natürlich vollkommen recht hat und du nicht wissen würdest, wie du das jemals wieder gutmachen könntest, bringst du ihn garantiert aus dem Konzept.

Der dritte Freund heißt Peter. Er ist Doktor der Mathematik und Doktor der Philosophie, arbeitet allerdings in einem Kindergarten. Er raucht nicht und trinkt nicht, isst keinen Zucker, hat kein Handy und keinen Kühlschrank. Einmal am Tag geht er für fünf Minuten ins Internet, um E-Mails zu lesen. Wenn ich mir mit ihm etwas ausmache, dann gilt das und dann lässt sich die Vereinbarung in Ermangelung der Möglichkeit auch nicht kurzfristig verschieben oder absagen. Es ist ein schönes, beruhigendes Gefühl, ein Fixstern im Kalender. Peter hat eine sehr großartige Eigenschaft. Er wertet nicht. Er hört sich alles an und nimmt dann eine Gegenposition ein, aber nur, um das Gespräch voranzutreiben. Wenn wir Längeres zu besprechen haben, laufen wir gemeinsam durch die Stadt oder schreiben uns Briefe. Es ist herrlich, einen Brief zu bekommen. Irgendwo habe ich gelesen, und ja, es ist vielleicht ein wenig abgedroschen, aber deswegen nicht weniger wahr: Schreiben Sie den Menschen, die Ihnen etwas bedeuten, Briefe. Ihre Whatsapp-Nachrichten werden sich nämlich nicht in 50 Jahren auf dem Dachboden wiederfinden lassen.

ANTON TSCHECHOW

Kunst kann bald jemand. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.

Auf der Suche nach den Zitatnachweisen sind wir darauf gestoßen, dass er das angeblich nie gesagt hat. Was wiederum eine mutige Aussage ist, weil wer will das wissen? Es war ja niemand sein ganzes Leben lang durchgehend bei ihm, um selbiges mit Sicherheit feststellen zu können. Wenn er es also tatsächlich nicht gesagt haben sollte, ist es, wie ich finde, trotzdem nicht weniger wesentlich.

Auf Ö1 höre ich eine Sendung über die Anfänge des Fernsehens. Die Menschen putzten sich heraus und machten sich fein und setzten sich dann im Abendkleid und mit Anzug und Krawatte vor den Fernseher. Wenn ich so etwas höre, springt mein Herz höher. Den kleinen Dingen Raum zu geben kann so schön sein. Heute machen so etwas leider nur mehr die Schrullen. Ich glaube, die Welt wäre viel ärmer ohne sie. Mit meinen Freunden verbringe ich Zeit, in der nichts passieren muss. Zeit, die auf nichts abzielt. Es wird gekocht, gegessen und getrunken und manchmal einfach nur gewartet auf die Themen, die dann unsere Neugierde wecken.

Ich habe eine Liste unserer »Erkenntnisse«, die wir hatten, weil wir einfach gemeinsam haben Lebenszeit verstreichen lassen.

LISTE DES SINNLOSEN WISSENS

1)Suizid war bis in die 1950er-Jahre in England verboten. Gelang der Suizid nicht, stand darauf die Todesstrafe.

2)»Please remove your child before folding« warnen einige Hersteller von Kinderwägen in ihren Bedienungsanleitungen in den Vereinigten Staaten. Man möge also nicht vergessen, das Kind vor dem Zusammenklappen des Wagens herauszunehmen.

3)Die Arschkarte ziehen ist eine Redewendung aus dem Fußball, aus einer Zeit, als es nur Schwarz-Weiß-Fernsehen gab. Da man rot und gelb nicht unterscheiden konnte, war klar, dass der Spieler, wenn der Schiedsrichter die Arschkarte zog, vom Platz musste.

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EINMAL NOCH SCHLAFEN, DANN IST MORGEN

Sätze, die mich über Jahre verfolgen. Ich versuche zu verstehen, wo sie herkommen

MANUEL

Kinder, was ich mir heuer von euch zum Geburtstag wünsche, ist ein paar Tage Ruhe und weniger Streit.

Dann bin ich sehr glücklich.

KINDER

Wir haben aber schon was in der Schule gebastelt!

Mein Vater hat mir zum 18. Geburtstag ein Buch geschenkt. Er hat darin ein paar Sätze gesammelt, die meine Geschwister und ich im Laufe der Jahre so gesagt haben und die ihm wesentlich erschienen. Ich habe diese Idee von meinem Vater übernommen und schreibe unregelmäßig Dinge auf, die unsere Töchter so von sich geben. Ich nehme mir jetzt die Freiheit heraus und veröffentliche ihre Zitate. Ich hoffe, dass ihr euch dereinst darüber freuen werdet, liebe Töchter.

Ronja, in etwa drei, wir sitzen im Park und zelebrieren die Langeweile:

RONJA

Die Tauben platzen und werden zu Feen.

Das sind so Sätze, die mich über Jahre verfolgen. Ich versuche zu verstehen, wo sie herkommen. Sie werden diktiert, glaube ich. Es handelt sich wohl um Phänomene, wie sie auch große ErfinderInnen und SchriftstellerInnen kennen. Momente, in denen sie das Gefühl hatten, nur die Verbindung halten zu müssen und den Stift übers Papier zu bewegen, weil, was gerade passiert war, hatten sie sich nicht ausgedacht. Es flog ihnen zu, manche sprechen von Antennen. Kinder sind naiv und subversiv, und sie lernen begierig, weil sie es wollen. Irgendwann verlieren sie diese Fähigkeit und ihre Antennen. Die Schule treibt ihnen schließlich den Rest an Subversivität aus.

5. AUGUST 2008

Wir sind auf dem Lande und spazieren durch den Wald. Ich merke, dass du ein Stadtkind bist, da du Nacktschnecken für Hundescheiße hältst. Gestern in der U-Bahn hast du einer Frau mit Burka, also einer Vollverschleierten, aufmerksam zugesehen. Ich habe keine Angst gesehen, keine Wertung in deinen Augen, nur Verwunderung. Du hast dann plötzlich gesagt:

RONJA

Die Frau ist weg.

Wie wahr.

RONJA

Meine Freundin Schneewittchen ist leider gestorben, und mein Freund Braunbär musste in den Zoo.

Als wir durchs Stiegenhaus gehen, wird gerade feucht aufgewischt:

RONJA

Es ist nass, der Mann beest!

Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich glaube, meine Kinder seien besonders kreativ, oder so. Ich glaube, ALLE Kinder sind so, und wir sollten einfach genauer hinschauen und hinhören und uns an ihrer Weisheit erfreuen.

RONJA

Der Papa hat einen Penis, die Mama eine Scheide und die Ronja eine Windel.

MÄRZ 2009

Ich habe einen starken Schnupfen. Wir gehen die Straße entlang, du hältst meine Hand. Achtlos spucke ich Rotz auf die Straße. Du sagst nur:

RONJA

Bitte mich nicht anspeiben, Papa.

In diesem Satz steckt dein Wesen. Achtsam, emphatisch, und so humorvoll.

APRIL 2009

RONJA

Ist es schon dunkel?

MANUEL

Ja.

RONJA

Wahnsinn, die Mama ist im Dunklen draußen!

MAI 2009

Wir waren heute bei der Oma. Auf der Autobahn überholte uns ein Rettungswagen mit Blaulicht. Besonnen siehst du aus dem Fenster und sagst zu dir selbst:

RONJA

Jetzt ist schon wieder was passiert.

Später, am Gürtel blendet dich die Abendsonne.

RONJA

Obwohl wir keine Sonnenbrillen haben, scheint die Sonne!

Abends, kurz bevor du einschläfst, sagst du:

RONJA

Morgen werde ich in die Zeitung schauen, vielleicht ist was Interessantes drin, Kühe oder so.

RONJA

Ich werde schon noch größer. Aber wird die Welt auch noch größer? Ich glaube nicht. Afrika vielleicht.

Du beginnst zu realisieren, dass es den Tod gibt.

RONJA

Die Menschen, die ganz oben am Himmel sind, sind schon gestorben. Wenn sie sich nicht an den Wolken festhalten, fallen sie runter und werden wieder lebendig.

Ich war ein paar Tage drehen und versuche, mit dir jetzt wieder ins Gespräch zu kommen.

MANUEL

Ich habe dich vermisst!

RONJA

Ich dich eigentlich nicht.

MANUEL

RONJA

(überlegt) Ich habe eigentlich gar nicht an dich gedacht.

15. SEPTEMBER 2010

Wir hören Sergeant Pepper.

RONJA

Wie viele Beatles leben noch?

MANUEL

Zwei.

RONJA

Die anderen hatten ein kürzeres Leben. Wie heißen die, die noch leben?

MANUEL

Paul und Ringo.

RONJA

Ich will die mal treffen!

Ein Dialog, den ich aufgeschrieben habe, ohne Datum. Es ist aber auch egal, weil deine Worte sind zeitlos und wichtiger denn je.

MANUEL

Gibt es in deiner Kindergartengruppe eigentlich auch Flüchtlinge?

RONJA

Nein, nur Kinder.

Heute waren wir spazieren. Wir spielen Geburt und Spitalsaufenthalte nach. Manchmal reisen wir zum Nordpol. Du hast dein Notizbuch aufgeschlagen. Und schaust immer wieder nach, was wir als Nächstes tun müssen.

In der Zwischenzeit ist deine Schwester geboren.

8. OKTOBER 2013

Luise, du bist eine unglaubliche Person. Hast alle Menschen um dich herum im Griff. Wenn du gut drauf bist, lässt du deinen Charme spielen, und alles liegt dir zu Füßen. Wenn du nicht so gut drauf bist, kann es für alle Beteiligten ganz schön anstrengend sein. Was mich immer und immer wieder beeindruckt, ist die unbedingte Loyalität zu deiner Schwester (und umgekehrt). Vor ein paar Nächten konntest du sehr schlecht schlafen, und Stefanie musste immer und immer wieder antreten. Irgendwann hatte sie dich so weit, und ihr habt den Deal gemacht, dass ihr euch beim Frühstück wiederseht. Stefanie sagt im Gehen:

STEFANIE

Ich freu mich auf das Frühstück mit dir!

Du brüllst ihr nach:

LUISE

Und was ist mit der Ronja? Auf die freust du dich nicht?

DEZEMBER 2013

LUISE

Ich habe eine gute Idee gefunden.

Jetzt will ich raus, die frische Luft schnappen.

LUISE

Ich habe Lulu ausgeschüttet.

LUISE

Wir könnten im Bett herumspazieren, bis der Sommer kommt.

Während deine Schwester immer alles mit uns besprechen wollte und will, entscheidest du praktisch autonom. Im Fasching warst du heuer als Klavier.

LUISE

Es gibt Kinder, die haben keinen Parmesan.

 

LUISE

Einmal noch schlafen, dann ist morgen.

OKTOBER 2014

LUISE

Ich liebe Superstars.

LUISE

Lorenz ist mein bester Freund.

STEFANIE

Und wer ist deine beste Freundin?

LUISE

Das bin ich selber.

FEBRUAR 2015

Tobsucht ist ein großes Thema. Jedes Anziehen ist ein Nervenzusammenbruch.

LUISE

Ich will, dass du mir nie wieder hilfst, bis ich sterbe.

Stefanie ist viel geduldiger als ich. Sie kann über Stunden alles vergessen und nur in die Kinderwelt eintauchen. Momentan ist sie aber wirklich mit ihrem Latein am Ende, so habe ich sie noch nie erlebt.

Aber sie versucht alles. Zum Beispiel zeichnet und schreibt sie mit dir zusammen Märchen:

LUISE

Es war einmal ein Blumenkind, das lebte mit seinem Opa und seiner Oma zusammen. Es hatte ein Pony, wo es älter wurde, konnte das Kind schon alleine hinfuhren. Dann wurde der Opa alt und stirbte. Die Prinzessin springt ins Bällebad, und die Oma und der Opa wachen beide wieder auf, sie haben nur so gespielt, dass sie gestorben sind. Und jetzt ist die Geschichte aus.

LISTE MIT MEINEN LUISE-LIEBLINGSZITATEN

1)Man kann sich die Mama, wenn sie gestorben ist ja aufheben.

2)Papa, du kriegst das Bild, wo ich mich am wenigsten bemüht habe.

3)Ich werde Künstlerin, aber pronto.

4)Ich interessiere mich überhaupt nicht für Fußball, aber ich schaue es, weil ich gerne fernschau’.

5)Essen Frösche Blumen?

6)Dass ich zaubern und fliegen kann, wünsche ich mir schon seit ich geboren bin.

7)Bitte lies’ noch eine Folge!

8)Ich bin froh, dass ich geboren bin.

Und mit diesem Vorlauf an Zitaten, an Subversion, an Anarchie will ich einen Sprung machen ins Jetzt. Die Aufzeichnungen sind rar geworden. Der Schulalltag hat euch im Griff, und das mag ein Grund sein, warum immer weniger Zitate von euch rausgeschleudert werden.

FREITAG, DER 13. MAI 2020

Ich sitze vor der Schule und warte auf dich. Ein Mädchen stürmt weinend aus dem Schulgebäude auf seine Mutter zu.

MÄDCHEN

Ich habe eine Drei in Mathe!

Ich mische mich ein:

MANUEL

Ich hatte nie eine Drei in Mathe.

Die Mutter des Mädchens erklärt mir, dass ihre Tochter tolle Geschichten schreibt, aber mit der Rechtschreibung Probleme hat.

Ich beobachte, dass Buben eine Drei meistens abfeiern und Mädchen eine solche oft als beschämend empfinden, und sehe das als nur ein Beispiel dafür, dass wir beim Thema Gleichstellung noch einiges zu tun haben. Lesen Sie dazu unbedingt Feministin sagt man nicht von Hanna Herbst. Wieder werde ich bei Peter Bichsel fündig, konkret in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen.

PETER BICHSEL

Rechtschreibung ist nichts anderes als ein Selektionsmittel, das auf Umwegen die notwendigen Analphabeten schafft. Das Ziel der Schule ist nicht Bildung, sondern Selektion.

Und dann haut er in seinem Werk Schulmeistereien den Satz schlechthin raus:

PETER BICHSEL

Der Maßstab jedenfalls ist die Schule, nicht der Schüler. Deshalb kann der Schüler an der Schule scheitern, die Schule aber nicht am Schüler.

EGON FRIEDELL

Das schlimmste Vorurteil, das wir aus unserer Jugendzeit mitnehmen, ist die Idee vom Ernst des Lebens. Daran ist die Schule schuld. Die Kinder haben nämlich den ganz richtigen Instinkt: Sie wissen, dass das Leben nicht ernst ist und behandeln es als Spiel und einen lustigen Zeitvertreib.

HERMANN HESSE

Und so wiederholt sich von Schule zu Schule das Schauspiel des Kampfes zwischen Gesetz und Geist, und immer wieder sehen wir Staat und Schule atemlos bemüht, die alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister an der Wurzel zu knicken. Und immer wieder sind es vor allem die von den Schulmeistern Gehassten, die Oftbestraften, Entlaufenen, Davongejagten, die nachher den Schatz unseres Volkes bereichern. Manche aber – und wer weiß wie viele? – verzehren sich in stillem Trotz und gehen unter.

Ich richte mich nicht gegen LehrerInnen, ganz im Gegenteil. Sie machen, soweit ich das beurteilen kann, zum größten Teil einen hervorragenden, unterbezahlten Job. Ich klage das System an, das in einem ideologischen Stillstand gefangen ist. Es wurde irgendwann für gefügige Preußen erfunden und hat sich in der Grundstruktur kaum verändert, wenngleich das Antlitz etwas freundlicher geworden ist.

ICH HATTE DAS GLÜCK, DASS MICH ALS KIND WORTE SÜCHTIG MACHTEN.

(Alles, wirklich alles von Astrid Lindgren muss man lesen. Die Brüder Löwenherz und Madita und natürlich Pippi Langstrumpf, das Rolemodell aller mutigen Mädchen und Buben. Aber auch Geschichten wie Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer können durch nichts in der Welt ersetzt werden.)

PETER BICHSEL

Es ist ein Elend für die Menschen, dass sie groß geworden sind. Sie sehen, weil sie groß sind, den Anfang des Himmels nicht mehr.

PETER BICHSEL

Ist denn Erwachsenwerden nichts anderes als das Interesse verlieren?

Zum Schluss eine Erkenntnis. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich bin, wie Sie bereits wissen, sehr ordnungsliebend, und ich war stolz, als ich mit meiner Tochter Luise unsere Nachbarin im Waldviertel besuchte. Luise lief, gerade einmal vier Jahre alt, ins Wohnzimmer, sah sich um und meinte:

LUISE

Es ist mir peinlich, wie es da ausschaut.

Insgeheim war ich ein wenig stolz, dass mein Kind so etwas sagte. Gleichzeitig kämpften und kämpfen beide Töchter sehr stark gegen den Wegwerfzwang des Vaters an. Ich glaubte mich lange Zeit im Recht. Ich dachte, dass für alle gelten muss, was für mich gilt. Dass es sich besser lebt in der Ordnung und Reduktion. Ich glaube es irgendwie immer noch. Noch mehr glaube ich daran, wie wichtig es wäre, den Glauben ans eigene Rechthaben zu reduzieren. Alle Friedhöfe sind voll von Männern, die sich für unersetzlich hielten und in allen Dingen stets recht behalten mussten.

ANTWORTEN FINDE ICH FAST IMMER IN BÜCHERN.

Manchmal auch bei Wein und guten Freunden. Bei meinen Töchtern will ich mich entschuldigen, weil ich bei Wilhelm Genazino eine Erklärung gefunden habe, dass es für Kinder wichtig ist Dinge zu horten. In Die Belebung der toten Winkel findet sich folgender Absatz:

WILHELM GENAZINO

Zur geistigen Tätigkeit von Kindern gehört von Anfang an das Sammeln, Aufbewahren und Horten von Gegenständen. Sie erwarten sich von den Dingen Aufschlüsse über ihr rätselhaftes Kindsein inmitten einer nicht kindhaften Welt. Das Verfahren, wie Kinder zu ihren Weltdeutungen kommen, ähnelt dem der Erwachsenen; es ist zufällig und wirr, beglückend und entsetzlich, erfolgreich und enttäuschend, flau und spannend, kurz, es ist poetisch. Der Dichter teilt mit dem Kind die Offenheit seiner Weltteilnahme. Wie das Kind nimmt der Schriftsteller Kontakt mit Details und Dingen auf. Er muss in der Lage sein, mit diesen in längere Versenkungsphasen einzutauchen, auch wenn nicht klar ist, worin sich der poetische Mehrwert einer Versenkung zeigen wird.

Ich werde euch, geliebte Töchter sicher, wahrscheinlich, vielleicht … nie wieder ersuchen, euch von euren Sammlungen zu trennen!

PS. Eine kurze Liste der schönsten Genazino-Romane.

LISTE ROMANE VON WILHELM G.

Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz

Leise singende Frauen

Die Ausschweifung

Die Liebe zur Einfalt

Die Obdachlosigkeit der Fische

Das Licht brennt ein Loch in den Tag

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Mittelmäßiges Heimweh

Das Glück in glücksfernen Zeiten

Außer uns spricht niemand über uns

Mehr braucht es nicht für dunkle Stunden. Oder wie ein weiterer Roman von W. G. heißt: Ein Regenschirm für diesen Tag. Oh Kinder, verzeiht mir. Ich liebe euch.

KINDERSERIEN, DIE MAN AUCH ALS ERWACHSENER IMMER WIEDER SEHEN MUSS

1)Pippi Langstrumpf

2)Shaun, das Schaf

3)Meister Eder und sein Pumuckl

4)Familie Feuerstein

5)Madita

6)Michel aus Lönneberga

7)Die wunderbare Reise des Nils Holgersson

8)Die Muppet Show

9)Alice im Wunderland

10)Anne auf Green Gables

KINDERBÜCHER, DIE MAN AUCH ALS ERWACHSENER IMMER WIEDER LESEN MUSS

1)Mira Lobe – Die Omama im Apfelbaum

2)Alles von Christine Nöstlinger

3)Alan Alexander Milne – Pu der Bär

4)Ottfried Preußler – Die kleine Hexe

5)Erich Kästner – Das fliegende Klassenzimmer

6)Maurice Sendak – Wo die wilden Kerle wohnen

7)Mira Lobe – Das kleine Ich bin Ich

Eine kurze, wahre Geschichte noch. Thomas Alva Edison kommt eines Tages von der Schule nach Hause und gibt seiner Mutter einen Brief. Er sagt: »Mein Lehrer hat mir den gegeben, und ich darf ihn nur meiner Mutter zum Lesen geben.« Die Mutter hat die Augen voller Tränen, als sie dem Kind laut vorliest: »Diese Schule ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten Sie ihn selbst.« Viele Jahre nach dem Tod der Mutter, Edison ist inzwischen ein Erfinder von Weltrang, findet er beim Stöbern den Brief von damals, den der Lehrer an seine Mutter geschrieben hatte. In dem Brief steht: »Ihr Sohn ist geistig behindert, wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben.«

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