Die Chroniken von 4 City - Band 4

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Verfolgt

Wir haben das Lager früh am Morgen wieder verlassen. Der Smog hat uns wie immer empfangen. Er ist ein ständiger Begleiter. Es weht so gut wie kein Wind zwischen den Häuserblocks und der Dunst hängt noch dichter über 4-City als sonst.

4-City?

Die Stadt sollte besser in Steam-City umgetauft werden.

Die Stimmung ist getrübt. Stiff und ich haben seit dem Vorfall am letzten Abend kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen. Ich bin nicht sicher, wer hier eigentlich auf wen sauer ist.

Das Schweigen hat aber auch so seine Vorteile. Ich hatte viel Zeit, in die Tiefen meines Bewusstseins abzusinken und über das Erlebnis von gestern Abend nachzudenken. Plötzlich wurde die Vergangenheit zur Gegenwart. Entgegen jeder Absicht sah ich mich in jenem Moment unter der Dusche plötzlich im Regen auf einer Wiese, zwischen Bäumen vor Aurora und der Forschungseinrichtung wieder. Der Forschungseinrichtung, in welcher ich erschaffen wurde. Als wären 200 Lebensjahre einfach getilgt. Als hätten sich die ganzen landschaftlichen Eindrücke von damals entfaltet. Es fühlte sich nach mehr, als nur nach einer Erinnerung an. So als wäre ich leibhaftig wieder dort gewesen. Es war, als hätte mein Körper auf die direkten Sinnesreize des kalten Wasser in der Dusche, mit einer Reise in die Vergangenheit reagiert und mein Bewusstsein im Schlepptau hinter sich hergezogen.

Es gab gestern keinen Wald und Regen oder sonst etwas. Es gab nur Stiff, vor dem ich splitterfasernackt wieder erwacht bin und der mich als ein Ding mit Funktionsstörung bezeichnet hat.

Der Geruch des Waldes und des Regens waren mir vertraut. Mein Leben wurde anscheinend deutlich geprägt durch die, über 200 Jahre zurückliegenden Erfahrungen an jenem Ort. Die Erinnerung versorgte mich mit dem Gefühl von Heimat. Ein wohliges Urvertrauen, das in meiner Brust aufglühte.

Es war ein Ort, der in den Tiefen meines Gedächtnispalastes verschwunden gewesen zu sein schien. Und die Kälte des Wassers unter der Dusche war wie ein Schlüssel, der in ein Schloss dieses Palastes passte und eine Tür zu meiner Vergangenheit und meiner eigenen Identität geöffnet hat.

Auf einmal stiegen aus den Tiefen unglaubliche Details auf – und ich kann nicht ergründen, woher sie gekommen sind. Es war ein rätselhafter und magischer Moment.

Ich fasse zusammen: Diese Erinnerung war wie ein Zugang zu meiner persönlichen Identität. Sie hat etwas in mir verändert. Ich fühle mich nun anders. Verbundener mit mir selbst. Ich frage mich: Sind wir letztlich nichts anderes als Erinnerungen?

Erst am Nachmittag passiert wieder etwas, das mich aus meiner Gedankenwelt in die reale Welt zurückholt.

»Was sind das für Geräusche?«, frage ich. »Oh, jetzt habe ich gesprochen. Eigentlich wollte ich, dass du den Anfang machst«, ergänze ich und schaue Stiff an.

»Warum sollte ich?«

»Weil ich eine Entschuldigung erwarte.«

Reico steht neben uns und schaut immer denjenigen an, der gerade spricht. Es sieht lustig aus.

»Für was soll ich mich denn entschuldigen?«

»Das musst du selbst herausfinden!«

»Keine Ahnung, was mit dir los ist«, brummt Stiff.

»Und was sind das nun für Geräusche?«, bohrt Reico nach.

»Das kommt aus dem Zentrum. Das sind die Menschen«, antwortet Stiff.

»Sind wir bald da?«

»Leider nein. Wenn wir Glück haben, erreichen wir heute die Mauer und werden diese umrunden, bis wir beim geheimen Eingang ankommen.«

»Die Menschen im Zentrum müssen sehr laut sein, wenn man sie jetzt schon hören kann.« Ich lausche dem leisen Wum Wum Wum.

»Das ist der Bass, den wir hören. Es ist die Musik der Tejas. Separatisten. Niemand kann so laut schreien.«

»Musik«, flüstere ich. »Die Tejas müssen taub auf den Ohren sein.«

Stiff muss lachen und gibt nilpferdartige Grunzlaute von sich. Irgendwie finde ich das süß.

»Was ist so komisch?«

»Die Tejas sind nicht taub. Sie leiten die Musik über das Röhrensystem der alten Wasserleitungen bis hierher in die Stadt.«

»Warum tun sie das? Und warum nennen sie sich so? Tejas? Auf Sanskrit ist das das Wort für Feuer. Was hat das zu bedeuten?«

»Die Tejas sind die Treulosen, weil sie sich von der Regierung abgewandt haben. Sie werden von uns wegen Verrat an den Regeln der Gesellschaft verfolgt und zur Rechenschaft gezogen. Es ist außerdem verboten, diese Art von Musik zu hören. Wir vermuten, dass sie die Musik in die Stadt leiten, damit sie Verbündete finden.«

»Verrat kenne ich aus dem Nibelungenlied und von Shakespeare und Julius Cäsar. In vielen Büchern ist der Verrat ein Thema.«

»Hast du schon mal einen Tejas gesehen?«, fragt Reico.

»Viele!«

»Er lügt!«, sage ich. Stiff schaut mich erstaunt an. »Deine Mikroexpressionen deuten darauf hin.«

»Okay, ich habe noch keinen gesehen.«

»Warum glaubst du dann, dass sie böse sind?«

»Weil die Regierung es verkündet.«

»Nimmst du alles an, was die Regierung bestimmt?«

»Weißt du, was ich glaube? Dieses Gespräch führt uns nirgendwo hin.«

»Warum hast du uns angelogen?«

»Keine Ahnung.«

»Kann es sein, dass du an der Aussage der Regierung zweifelst und deshalb gelogen hast?«

»Können wir das Thema wechseln?«, fragt Stiff verzweifelt.

»Natürlich«, applaudiert Reico. »Wenn dir das Kreuzverhör unangenehm wird, dann wechseln wir eben das Thema.«

»Hast du schon mal getanzt?«, will er von mir wissen.

Ich schüttle den Kopf, weil ich mich nicht daran erinnern kann.

»Vielleicht«, antworte ich mit gedämpfter Stimme »Ich habe da so ein Problem mit meinem Gedächtnis.«

»Erinnern und Gedächtnis ist nicht das gleiche«, weiß Reico und ich schaue sie überrascht an.

»Was ist mit dir?«, wendet er sich an Reico.

»Ja, sie kann tanzen«, antwortet sie und mein Kopf schnellt wieder von Stiff zu ihr. Ich starre sie an. »Ups«, piepst Reico.

»Du weißt, dass ich schon einmal getanzt habe?«, bohre ich nach und meine Stimme überschlägt sich fast. Natürlich. Warum bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen. Reico kennt mich. Vielleicht ist sie schon sehr lange an meiner Seite. Was weiß sie alles über mich? Sie könnte mir etwas über mich erzählen. Vielleicht kann sie mir sagen wer ich bin, was ich alles getan und erlebt habe. Sie ist eine Synth. Sie hat bestimmt ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen. Einen integrierten Speicher, der nichts vergisst.

»Du weißt, dass ich getanzt habe?«, frage ich erneut, weil Reico mindestens genauso überrascht zu sein scheint wie ich selbst.

»Ja. Das ist aber lange her.«

»Wie lange?«

»Es war im Sommer ...«, beginnt sie und verstummt. »Sommer im Jahr 2046.«

»Das sind über zweihundert Jahre«, mischt sich Stiff ein.

Ich stehe nun direkt vor Reico.

»Was schaust du mich so an?«, fragt sie mit großen Augen.

»Das ist doch klar. Erzähl mir mehr. Erzähl mir alles!«

»Das ist alles. Wir haben getanzt. Mehr weiß ich nicht. Die Erinnerung war plötzlich da und jetzt ist sie wieder weg. So einfach ist das«, murrt Reico, als wäre es die unbedeutendste Nebensächlichkeit der Welt. Leider kann ich aus ihrem Gesicht nicht ablesen, ob sie mich gerade anschwindelt oder die Wahrheit spricht.

»Wir? Du und ich?«, platzt es plötzlich aus mir heraus, als ich mir ihre Worte nochmal durch den Kopf gehen lasse.

Stiff steht bei uns und beobachtet, wie ich von Sekunde zu Sekunde unruhiger werde und wie Reico im Gegensatz zu mir schon wieder im Hier und Jetzt angekommen ist.

»Ja wir haben getanzt«, sagt sie beiläufig. »Können wir jetzt wieder weitergehen? Meine Beine wollen sich bewegen«, meint sie und wendet sich an Stiff. »Geht es da lang?«

Stiff nickt und Reico marschiert einfach los.

Ich mache eine Geste der Ratlosigkeit. Schultern hoch, Unterarme angewinkelt, Handflächen Richtung Himmel, wo der Dampf und der Nebel an Helligkeit verlieren. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Es wird Nacht werden, bis wir im Zentrum von 4-City ankommen.

»Ab hier müssen wir vorsichtiger sein«, warnt uns Stiff eine gute Stunde später.

»Warum das denn?«

»Das Zentrum von 4-City ist nicht ohne Grund von einer Mauer umgeben. Die Menschen schützen sich vor den Clans der Schrottsammler. Diese schrecklichen Kreaturen sind überall verstreut. Ausgestoßene. Gesetzlose. Bestien. Halb Mensch, halb Tier. Sie sind die Ausgeburt der Hölle, vergewaltigen Frauen, töten Kinder und fangen Männer, um sie in ihren Arenen bis zum Tod kämpfen zu lassen.«

»Das ist ja so aufregend. Genauso wie einst bei den mächtigen Gladiatoren im alten Rom«, sage ich begeistert und merke erst, als es zu spät dafür ist, dass meine vor Staunen und Entzücken zitternden Worte ungewollt meine Lippen verlassen haben.

»Hört sich so an, als hättest du keine Angst.«

»Warum sollte ich?«

»Vergewaltigen? Töten? Gefangener zu sein und sich unter dem Johlen und Gebrüll von Schrottsammlern die Kehle aufschlitzen zu lassen?«

»Du hast vollkommen Recht! Eigentlich sollte ich Angst haben. Gut, dass ich so eine gefühlslose Schaufensterpuppe bin.«

»Oh ja, gut für dich!«, betont Stiff. Ich blicke kurz zu Reico, zwinkere ihr zu und verdrehe meine Augen. Sie muss lauthals loslachen, was natürlich nicht in meiner Absicht lag. Zum Glück verstummt sie genauso schnell wieder.

»Also was schlägst du vor?«, frage ich brav unseren Anführer.

»Es gibt mehrere Schrottsammlerclans, die um den Ring der Innenstadt ihre Lager aufgeschlagen haben. Normalerweise bringen sich die Schrottsammler gegenseitig um. Wenn es jedoch darum geht, die Menschenstadt zu belagern, dann machen sie eine Ausnahme. Gott steh uns bei, falls sie eines Tages einen einzigen Master haben sollten, der alle Clans vereint. Sie sind uns zahlenmäßig weit überlegen.«

 

»Zurück zu meiner Frage. Was ist dein Plan?«

»Wir schleichen uns an ihnen vorbei.«

»Oh, so wie in der Kirche? Dann brauchen wir ja noch Tage, bis wir ankommen.«

»Ja, wenn es sein muss«, lächelt Stiff, doch dann verzieht sich sein Gesicht plötzlich zu einer Grimasse. »Nein! Nein, nicht so wie in der Kirche! Ihr macht genau das, was ich euch sage und keine eigenen Sachen.«

»Verstehe, wir sollten dieses Mal besser auf dich hören, nicht dass du noch als Gladiator endest«, sage ich ernst. Reico vermutet aber nur wieder einen sarkastischen Scherz hinter meiner Andeutung und lacht schon wieder so laut und plötzlich los, dass Stiff und ich vor Schreck zusammenfahren.

»Könntest du mal damit aufhören, die ganze Nachbarschaft zusammen zu brüllen!«, brüllt Stiff sie an. Seine Nerven liegen offenbar blank. Das ist schon eine interessante Sache mit den Emotionen. Wie sie unser Handeln beeinflussen können. Ich scheine mehr und mehr kleine subtile Feinheiten in meinem Humor zu entdecken, wenn ich mich mit Stiff unterhalte. Reicos Emotionen scheinen hingegen rudimentärer gestrickt zu sein. Entweder weint sie wie ein Schlosshund oder bekommt sich vor Lachen fast nicht mehr ein.

Dass Stiff nun seiner Wut und Verzweiflung freien Lauf lässt, ist nicht sonderlich förderlich. Wie sollen wir bei seinem Gebrüll unbemerkt an den Schrottsammlern vorbei und um die Mauer herumschleichen?

»Sag mal Stiff? Gehören die da zu den Guten?«, frage ich und schaue an ihm vorbei auf die beachtliche Anzahl an Männern, die bis unter die Zähne bewaffnet sind und in schmutzigen und willkürlich zusammengeflickten Kleidungsfetzen auf uns zukommen..

»Oh nein«, seufzt Stiff und lässt seine Schultern und den Kopf hängen.

»Also doch eine Karriere als Gladiator?«

Reico lacht dieses Mal nicht.

»LAUFT!«, schreit sie stattdessen und lässt ihren Worten Taten folgen. Stiff und ich folgen ihr. Angetrieben durch das Gebrüll und Kampfgeschrei der Schrottsammler in unserem Nacken, sprinten wir die Straße hinunter.

»Runter von der Straße«, schreit Stiff. Reico, die ein paar Meter Vorsprung hat, schlägt einen Haken wie ein Hase auf der Flucht und schmeißt sich in den erstbesten Hauseingang. Ich renne hinterher, blicke hoch und kann das Ende des Gebäudes nicht sehen. Der Dunst verschlingt es, wie alles, was diese kritische Höhe erreicht und taucht es in ein undurchdringliches Grau. Das Eingangsportal hat zum Glück keine Tür mehr und so gelangen wir, ohne Zeit zu verlieren, ins Innere. Der Empfangsbereich ist weitläufig. Schalter aus weißem Marmor legen Zeugnis über den einstigen Kundenservice ab. Weiter hinten geht es zu den Aufzügen und der Notfalltreppe. »Ein Bürogebäude«, kommt es mir in den Sinn. Und das Erdgeschoss war einst eine Bank mit Kundenschaltern.

Reico bleibt urplötzlich stehen und wir schließen sofort zu ihr auf.

»Nach oben!«, höre ich meine Stimme vorschlagen. Ich renne nun voraus und frage mich, woher mein Wissen stammt. Es kann nicht nur aus Büchern kommen. Die Bilder in meinem Kopf sind zu detailliert. Erinnerungen? Wir kommen im Treppenhaus an. In einem quadratischen, engen Schacht führen Stufen in zwei Richtungen.

»Nach oben oder nach unten?«

Stiff schlägt einen roten Kasten ein und holt eine Axt heraus. Eine Waffe? Doch dann schlägt er sie in den Spalt zwischen Tür und Boden. Ich verstehe. Wir gewinnen dadurch ein paar Sekunden.

»Rauf oder runter?«, frage ich erneut. Es war ja schließlich seine Idee, die Straße zu verlassen.

»Nach oben!«

Das Adrenalin setzt enorme, verborgene Kraftreserven frei. Wir fliegen die Stufen nach oben zum nächsten Stockwerk hinauf. Wir rennen weiter, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, bis wir den dritten Stock erreichen. Dort erst bemerke ich, dass es um Stiffs Kraftreserven nicht so gut bestellt ist wie um meine und Reicos. Er liegt fast ein ganzes Stockwerk zurück. Die Geräusche weiter unten deuten darauf hin, dass die Schrottsammler die verbarrikadierte Tür aufgebrochen haben und uns dicht auf den Fersen sind.

»Rein da!«, keucht Stiff außer Atem, als er zu uns aufgeschlossen hat.

Ein einstiges Großraumbüro erwartet uns hinter der Tür. Dieser Ort scheint sich zwei Jahrhunderte lang in einem Dornröschenschlaf befunden zu haben. Alles bis auf den Staub erweckt den Anschein, als könnten jeden Moment die Angestellten zurückkommen, um sich hinter einen der unzähligen Glasschreibtische zu setzen. Mein Blick wandert ungehindert bis zur Hülle des Gebäudes, wo sich hinter riesigen, bodentiefen Fenstern der graue Nebel vorbei wälzt und die Scheiben dort, wo sie noch vorhanden sind, mit Wassertropfen versieht. Der Dunst meidet offensichtlich das Innere des Gebäudes. So erstaunlich gut erhalten die Büroetage auch immer sein mag, eines bietet sie auf jeden Fall nicht: eine Möglichkeit, um sich zu verstecken.

Das bemerkt auch Stiff, als er sich umsieht.

»Verdammt!«, flucht er. Der Lärm auf der Treppe kommt näher.

»Dort hinten ist noch eine Tür!«, schluchzt Reico voller Angst, während sie ihren Arm ausstreckt, damit wir wissen, was sie meint.

»Da geht es zu den Toiletten«, vermute ich.

»Egal, es ist der einzige Ausweg«, röchelt Stiff und schon geht es weiter.

Wir erreichen die Tür im gleichen Augenblick, als die Verfolger auf unserer Etage eintreffen. Wir schaffen es rechtzeitig bis hinter die Tür und bleiben dort kurz stehen. Stiffs Atem geht schwer und er hat Mühe, ihn zu beruhigen. Ist die Ursache das Adrenalin, die Anstrengung oder die Todesangst? Vielleicht auch ein Potpourri aus allen drei?

»Sie sind auf dem Weg ins nächste Stockwerk«, flüstert er. Ich lege mein Ohr an die Tür und bekomme mit, wie sie sich entfernen. Gerade will ich erleichtert ausatmen, als ich höre, wie die Tür zum Treppenhaus aufgestoßen wird und gegen die Wand stößt. Stiff packt mich am Oberarm und zieht mich zurück.

Er legt seinen Finger auf den Mund. Sie nähern sich. Verdammt! In diesem Moment muss ich an die Abtei denken. An das, was ich dort getan habe. Ich werde mit den Schrottsammlern fertig. Ich kann sie einfach alle töten. Meine Gedanken zerren an mir wie ein eisiger Wind auf hoher See. Gefühle türmen sich wie Wellen auf, um an den Klippen meines Inneren zu zerbrechen. Zurück bleibt eine einzige Frage: Bin ich eine eiskalte Mörderin? Falls ja, was muss ich tun, was muss Reico tun, damit ich die Geschehnisse in der Abtei wiederholen kann? Ich kann Unmengen von Energie freisetzen, um uns zu beschützen. Doch dazu muss ich entfesselt werden. Dazu muss Reico das Bannlevel Ebene drei lösen, erinnere ich mich und mein Blick schwenkt zu meiner besten Freundin.

Die Angst zeichnet ihr Gesicht. Die Augen sind riesig. Die Lippen zu einem schmalen Schlitz zusammengepresst. Jede einzelne Faser ihres mädchenhaften Körpers ist bis zum Zerreißen gespannt. Sie scheint nicht in der Lage zu sein, irgendetwas zu tun. Die Situation erscheint bizarr. Als würde die Zeit für einige Momente aufhören zu existieren.

Stiff zieht seine Messer. Er macht sich bereit zum Kampf. Ich suche nach einem Ausweg, denn ich fühle mich emotional nicht in der Lage, Blut zu vergießen. Das erste Mal, seitdem ich Bekanntschaft mit meinen eigenen Gefühlen gemacht habe, frage ich mich, ob das Leben ohne Emotionen nicht einfacher wäre. Ich blicke mich um. Hinter Reico gibt es zwei weitere Türen. Strikt getrennt nach Geschlechtern sind sie nur die Zugänge zu Sackgassen. Es gibt kein Entkommen. Wir müssen uns ihnen stellen. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Ich spüre langsam, wie mein Blut vor Angst in den Adern gefriert. Die Tür wird aufgestoßen und der Schrottsammler reißt überrascht die Augen auf und blickt ungläubig auf die zwei Messer, die in seiner Brust stecken. Stiff hat keine Sekunde lang gezögert. Er setzt seinen Stiefel auf die Brust des sterbenden Mannes und verpasst ihm einen Stoß, sodass er auf den zweiten Schrottsammler prallt. Die mit Blut überzogenen Messer hält Stiff in den Händen, bereit für den zweiten Angriff.

»Hier! Hierher!«, schreit der Schrottsammler geistesgegenwärtig, bevor auch er durch Stiffs Messer stirbt. Er hatte nicht die Spur einer Chance. Seine Verteidigung war stümperhaft und Stiffs Fähigkeiten in keiner Weise gewachsen. Ich hoffe, die anderen haben ihn nicht gehört, denn ich bezweifle, dass Stiff es mit allen aufnehmen kann. Ich blicke auf meine Arme.

»Leuchtet! Beginnt zu leuchten!«, befehle ich meinen Tattoos. Nichts geschieht. Verzweifelt geht mein Blick zu Reico. »Tu was! Aktiviere mich!«, aber alles an ihr bringt zum Ausdruck, dass sie nichts tun wird. Ich bin stark, aber gegen die vermeintlich heranrollende Übermacht vermag ich nichts auszurichten. Stiff will nach vorne, doch ich halte ihn zurück.

»Zu kämpfen hat keine Aussicht auf Erfolg.«

»Ich hoffe, das bedeutet nicht unseren Tod«, murmelt er und steckt die Messer weg.

»Tötet sie! Alle!«, kreischt der am Boden Liegende.

»Oh! Er war doch noch nicht tot«, purzeln die Worte aus meinem Mund.


Gesetz des Stärkeren

Kurz darauf stürmen die Schrottsammler in das Großraumbüro. Schreibtische zersplittern unter der Wucht ihres Aufpralls. Die Schrottsammler zerschmettern alles, was sich ihnen in den Weg stellt und hinterlassen eine Schneise der Verwüstung. Es sind so viele, dass sie einen Großteil des Büros mit ihren Körpern, Gerüchen und Geschreie ausfüllen. Eine kuriosere Belegschaftsversammlung hat das Großraumbüro gewiss noch nie erlebt.

»Halt!«, ruft Stiff. »Tötet uns nicht. Wir haben eine Waffe, die eurem Master Macht verleiht.« Von was spricht er? Einige der Männer zeigen Interesse, andere nicht. Ich beobachte Stiff, versuche herauszufinden, was für einen Plan er nun wieder verfolgt. Er sucht etwas. Seine Augen sind schnell, gleiten über die Männer hinweg. Was sucht er nur?

»Was soll das für eine Waffe sein?«, fragt der Feind. Der Schrottsammler hat eine Stimme, die wie Schmirgelpapier klingt. Seine Haare sind schwarz, fettig und fallen ihm bis auf die Schultern. Eine breite Narbe zieht sich quer über sein Gesicht. Er ist groß, breit und kräftig und definitiv der Anführer dieser Männer. Nach ihm hat Stiff Ausschau gehalten. Ich registriere ein wenig Erleichterung, einen Funken Hoffnung in Stiffs Gesicht.

»Eine sehr mächtige Waffe«, raunt Stiff, der geheimnisvoll klingen will. »Na toll, das klingt wahnsinnig überzeugend«, denke ich und schaffe es gerade so, meine Augen nicht zu verdrehen.

»Verarschen kann ich mich selber. Tötet sie!«, befiehlt der Schrottsammler seinen Leuten und ihre Säbel klirren bedrohlich.

»STOPP!« War das wirklich ich, die gerade eben gebrüllt hat? »Ich bin die Waffe!«, schiebe ich etwas leiser hinterher, weil die Schrottsammler tatsächlich innehalten. Anscheinend muss man nur laut genug sein und sie hören auf einen, doch dann erkenne ich meinen Irrtum und sehe die erhobene Hand ihres Anführers. »Ich bin eine Walküre«, sage ich und blicke zu Stiff. Er schüttelt in Zeitlupentempo seinen Kopf. Warum in Zeitlupe?

»Befehl: Aufhebung Bannlevel Ebene zwei!«, dringen einzelne Worte an mein Ohr. Reico?! Sie ist aus ihrer Schockstarre erwacht. Genau rechtzeitig.

Die Zeit ist ein seltsames Phänomen. Sie spielt uns in die Karten. Während alles um mich herum wie eingefroren erscheint, bewege ich mich auf den Anführer zu. Ich könnte sie alle töten. Mit Leichtigkeit, aber ich tue es nicht. Dieses Mal ist es anders als in der Abtei. Dieses Mal habe ich Mitgefühl. Oder vielleicht ist es auch nur eine Vorahnung, eine innere Stimme, die mir rät, einen anderen Weg einzuschlagen. Einen mit mehr Licht am Ende des Tunnels und weniger Blut auf den Wänden. Ich nehme den Säbel des Anführers an mich. Im nächsten Moment ist es vorbei.

Eine Sekunde entspricht wieder einer Sekunde. Ich stehe da, bin froh mich für diesen Weg entschieden zu haben, denn ich hätte vielleicht doch nicht alle töten können. Ich halte den Säbel an die Kehle des hochgewachsenen Mannes.

»Ich bin eine Walküre«, wiederhole ich. Er schluckt und sein Adamsapfel streift die Klinge des Säbels. Die Schrottsammler machen einen Schritt zurück. Sie fürchten sich.

 

»Wenn ich dich töte, dann bin ich der Anführer, so ist es doch? Oder etwa nicht?« Ein anderer Schrottsammler antwortet an seiner Stelle.

»Das ist das Gesetz des Stärkeren. Das erste Gesetz der Schrottsammler.«

Ich lächle.

»Erteile ihnen den Befehl, uns ziehen zu lassen. Ein Vorsprung von fünf Minuten genügt, dann dürft ihr wieder wie die Verrückten hinter uns herjagen. Wäre dir diese Abmachung dein Leben wert?«

Er nickt und fast hätte er sich dadurch selbst den Hals aufgeschlitzt.

»Gut, denn falls du dich nicht an die Vereinbarung hältst, dann komme ich wieder und schneide dir höchstpersönlich die Kehle bis ganz nach hinten zur Wirbelsäule auf. Das Leben kann so furchtbar kurz sein.«


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