Die Chroniken von 4 City - Band 1-3

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Katakomben

»Hey Prinzessin.«

Love öffnet die Augen. Schatten lösen sich auf, es zeichnen sich Konturen einer düsteren Katakombe mit gewölbter Decke ab. Es riecht fürchterlich. Eine undefinierbare Mischung aus Kloake und abgestandener Luft. Ihr Kopf tut weh, als hätte ihn jemand gewaltsam gegen eine Wand geschmettert. So ähnlich war es ja tatsächlich auch, erinnert sie sich. Langsam fasst sie sich an die Schläfe und ertastet die Blutkruste genau dort, wo sie der Knauf des Dolches übel getroffen hat. Ihre Kleidung ist durchnässt und die Kälte kriecht ihr in die Knochen.

»Hey Prinzessin.« Eine Hand berührt sie an der Schulter und Love zuckt vor Schreck und Angst zurück. Bilder von Lea wollen aufsteigen. Sie wehrt sich, kann sie aber nicht zurückdrängen. Der Mann hat ihr direkt ins Herz gestochen, weil er glaubte, Lea sei die Prinzessin. Wenn sie herausfinden, wer Love wirklich ist, wird man sie auch abstechen. Ängstlich blickt sie dem Mann ins Gesicht, der sie berührt hat, der sie Prinzessin genannt hat.

Love glaubt, ihn zu erkennen. Er wurde schlimm zugerichtet. Sein Gesicht ist wächsern und ein Auge ist böse zugeschwollen. Ein langer, blutiger Schnitt verläuft an der Wange bis zum Unterkiefer hinab. Die Nase ist mehrfach gebrochen. Sie erkennt ihn an seiner Statur, seiner Stimme, vielleicht auch an seiner Aura wieder. Er gehörte zur Leibgarde ihres Vaters. Warum haben sie ihn nicht getötet?

»Prinzessin, wir sind hier, um in der Arena zu sterben. Ich kenne das von meinem alten Schrottsammler Clan. Sie lassen uns zur Unterhaltung kämpfen. Es geht mit unfairen Mitteln zu. Es tut mir leid, dass es so enden wird, Prinzessin.«

»Nenn mich nicht so! Ich bin keine Prinzessin mehr. Mein Name ist Love.« Sie rappelt sich auf und schaut auf den gebrochenen Mann herunter. Er blickt zu ihr auf, hat Probleme den Kopf anzuheben. Etwas stimmt mit seiner Wirbelsäule nicht. Es hat ihn noch viel schlimmer erwischt, als Love zunächst glaubte.

»Warst du dabei ...? Hast du gesehen, wie ...?«, Love schafft es nicht, den Satz zu beenden.

»Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Aber selbst wenn ich es wüsste, dann würdest du nicht wissen wollen, wie sie deinen Vater umgebracht haben.« Love presst die Lippen aufeinander. Sie hält die Tränen zurück.

»Sind wir die einzigen Überlebenden?«

»Nein, es gibt hier unten noch mehr arme Schweine wie wir.«

»Was ist mit dir? Kannst du aufstehen?«

Er versucht es, aber das Einzige, dass er bewegen kann, sind seine Arme und den Kopf. Der Rest seines Körpers ist reglos wie ein Brett. Er ist von der Brusthöhe abwärts gelähmt.

»Welche Richtung?«

»Da lang«, röchelt er mit ausgestrecktem Arm. »Tut mir leid Mädchen, dass ich nicht mitkommen kann. Ich bin am Ende.« Er muss kräftig husten. Etwas Blut rinnt aus seinem Mundwinkel.

»Ist schon gut. Vielleicht komme ich zurück«, flüstert Love, ist sich jedoch ziemlich sicher, ihn das letzte Mal lebend zu sehen.

Love zittert am ganzen Körper. Ihre klatschnassen Kleider sind schuld. Sonst wäre es einfach nur kalt. Sie muss sich irgendwo unter 4-City befinden. In einem alten Röhrensystem der Kanalisation. Ein flackerndes Licht zieht sie an wie eine Motte und als sie um die Ecke biegt, sieht sie ein Feuer. Vier Gestalten wärmen sich an den emporzüngelnden Flammen. Der Rauch steigt Love in die Nase. Sie meint, den Geruch zu kennen und wird gleich dahinterkommen, woher. Hinter dem Feuer sieht sie ein Gitter, das bis zur Gewölbedecke reicht. Großteile des Rauchs ziehen dort ab. Das allein ist der Grund, warum man neben dem Feuer überhaupt noch atmen kann.

Love geht weiter, bis zu den Flammen, bis zum Ende der Sackgasse. Im Schein des Feuers kann sie Gesichter erahnen. Unbekannte Männer. Vermutlich aus dem Gefolge ihres toten Vaters. Männer, die wie sie zur Belustigung der Sieger in Kürze in die Arena geschickt werden. Sie fragt sich, ob sie einer der vier erkennt. Vielleicht der älteste von ihnen. Der mit den grauen, verfilzten Haaren. Oder der Große, mit seiner unnatürlich hageren Gestalt und der krummen Nase. Eventuell auch einer der anderen beiden, die wie ganz normale junge Schrottsammler aussehen. Unter anderen Umständen wären sie sogar attraktiv. Sofort muss Love an Lea denken. Ein Klumpen aus Blei liegt ihr bei den Erinnerungen im Magen.

»Sie soll nicht umsonst gestorben sein«, sagt sie leise zu sich selbst und schließt zu den vier Schrottsammlern auf.

»Ich hab es euch ja gleich gesagt, dass die Kleine aufwachen wird.«

»Ich verstehe trotzdem nicht, warum sie hier ist. Sie wird keine Minute überleben.«

»Am Ende gehen wir eh alle drauf, wen interessiert dann schon, wie lange es dauert.«

»Immerhin müssen wir nicht erfrieren.«

»Mein Gott, was verbrennt ihr denn da!«, mischt sich Love in die Unterhaltung der Vier ein, bevor sie begreift und ihr endlich klar wird, woher sie den Geruch des Rauches kennt. Sie verbrennen Bücher.

»Das waren die Letzten, mach dir keinen Kopf, Süße«, lächelt der Lange mit der auffälligen Nase.

»Was?«

Einem Schulterzucken folgt eine Armbewegung. Love erblickt mit Entsetzen den Haufen brennender Bücher. Schnell ist sie dort und noch schneller begreift sie, dass es ihre eigene, mühsam über die letzten Jahre zusammengetragene Sammlung ist. Eine Welt bricht über ihr zusammen. Ihre Bücher stehen in Flammen. Sofort fängt sie an, nach den brennenden Exemplaren zu greifen. Das Feuer versengt ihre Haut und sie zieht die Hand zurück. Die Bücher sind verloren.

»Nein!«

Da! Sie hat Glück! Sie entdeckt eins, das noch kein Feuer gefangen hat. Sie zieht den Ärmel über ihre Hand herunter, froh nun, dass dieser klatschnass ist und greift erneut in die Flammen. Trotz des Schutzes verbrennt sie sich ordentlich die Hand. Die zotteligen, blonde Haare ihres Ponys, die vorne abstehen, fangen Feuer. Sie hat das Buch! Blitzartig zieht sie es heraus und springt zurück, weg von der Hitze.

»Verdammt! Spinnst du?«

Einer der Männer klopft das Feuer an ihrem Ärmel aus, der andere legt etwas über ihren Kopf. Es stinkt nach verbranntem Haar und ihre Hand tut höllisch weh. Überglücklich hält sie das Buch in den Händen. Es ist das Letzte, was ihr geblieben ist. Sie presst es an die Brust und sinkt zu Boden.

»Die ist irre!«

»Sag bloß, du kannst lesen?«, fragt der Alte. Love antwortet nicht, liest stattdessen den Titel des Buches, das sie vielleicht retten könnte.

Fähigkeiten

Jiu Jitsu - asiatische Kampfkunst. Das muss ein Wink des Schicksals sein. Sie schließt die Augen, lauscht den Stimmen der Männer, die nicht fassen können, was sie da riskiert hat, nur um ein einziges Buch aus den Flammen zu retten.

Das Feuer wärmt sie. Die Kälte löst sich aus ihren, vor Kälte, ganz starren Knochen. Love schlingt die Arme um die Beine, hockt da und schaut dem Spiel der Flammen zu. Dem Züngeln und den aufsteigenden rußschwarzen Papierstückchen. Sie wird bald anfangen müssen zu lesen. Sie hofft, es verhält sich wie schon so oft: Dass sie durch das Lesen Fertigkeiten erlangen wird. So als hätte ihr Gehirn einen direkten Zugang zu dem motorischen Gedächtnis ihrer Muskeln, Sehnen und Bänder. Bewegungsabläufe musste sie selten trainieren. Sobald sie verstanden hat, wie etwas funktioniert, konnte sie es einfach. Leider hat sie sich bisher nie für das Kämpfen interessiert. Fotografie, Mechanik, Hydraulik und Ähnliches waren ihre Leidenschaft. Nun soll es also asiatische Kampfkunst sein. Sie ist gespannt, hat aber gleichzeitig auch Zweifel und mit diesen sickert auch die Angst durch. Das Hämmern in ihrem Schädel wird wieder stärker und die Hand brennt. Sie braucht erst einmal ein bisschen Schlaf.

»Mein Name ist Tig«, stellt sich der junge Mann neben Love vor. Nachdem Love ein paar Stunden Schlaf nachgeholt hatte, sind sie gemeinsam zu der Leibgarde ihres Vaters zurückgekehrt. Der Schrottsammler hat sich nicht vom Fleck bewegt, was mit einem gebrochenen Rückgrat auch nicht anders zu erwarten gewesen war.

Gefasst hat Love festgestellt, dass seine Reise hier unten geendet hat.

»Hast du ihn gekannt?«

»Nein«, antwortet Love. Ihre Stimme ist emotionslos und es ist die Wahrheit. Sie hat ihn nicht gekannt. Niemand, mit dem man sich nicht eingehend unterhält, kennt man. Es war keine Zeit, um tiefer zu blicken, um den Menschen hinter der Uniform der Leibgarde zu sehen. Sie schließt seine Augen.

»Er gehörte zur Leibgarde des Masters.«

»Hat er dir das gesagt?«, fragt Love.

»Es ist die Uniform, die spricht.«

»Verstehe«, bestätigt Love knapp.

»Glaubst du, wir kommen hier lebend wieder raus?«

Love fragt sich, was der junge Mann eigentlich von ihr will.

»Hör zu! Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins. Ich brauche mehr Licht zum Lesen.«

»Dann stimmt es also?«

»Das ich lesen kann? Ja.«

»Ich kenne niemanden, der das kann.«

»Doch, jetzt schon«, bemerkt Love spitz und weiß nicht, ob sie genervt sein oder seine holprigen Versuche mit ihr eine Konversation zu führen, eigentlich ganz okay finden soll. Es lenkt sie zumindest ein bisschen von Lea und ihrem Vater ab.

»Ich weiß, wo es mehr Licht gibt«, ruft Tig plötzlich und Loves Augen hellen sich auf.

»Da oben«, erklärt er, während er sie in eine andere Sackgasse der Kanalisation führt. Für einen Moment hat Love an seiner Zuneigung zu ihr gezweifelt und ein falsches, dunkles Interesse hinter seinen Augen vermutet, doch sie hat sich getäuscht. Er will ihr tatsächlich nur helfen. Warum? Über eine Räuberleiter hilft er ihr, nach oben in ein Abflussrohr zu klettern. Sie reicht ihm ihre unverletzte Hand und zieht ihn hoch.

 

»Danke, wäre nicht nötig gewesen«, sagt er.

Kerle!?

Gebückt geht er voran und bleibt nach gefühlten zwanzig Metern stehen.

»Was ist?«

»Hier ist es.«

»Es ist genauso dunkel wie überall sonst«, stellt Love fest. Das Licht reicht gerade so aus, um Konturen und Wände zu erkennen. Das menschliche Auge kann sich gut an die Dunkelheit anpassen, vor allem, wenn man das ganze Leben kaum einen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen hat. Darum liebt sie die Dachterrasse im Haus ihres Vaters so sehr. Die seltenen Momente, wenn es die Sonne tatsächlich einmal schafft, den Dunst von 4-City mit einem einzigen Strahl, gleich einem Speer aus Licht, zu durchstoßen.

»Warte, bis es hell wird!«

»Willst du mich verarschen?«

»Bis es draußen hell wird«, ergänzt er und zeigt nach oben. Love schaut hoch und weiß jetzt, was er meint. Ein kreisrunder Kanalisationsdeckel mit kleinen Öffnungen, durch den tatsächlich schon ein bisschen trübes Licht sickert. Im nächsten Augenblick stemmt sie ihre Hände dagegen und versucht, ihn anzuheben.

»Vergiss es! Das habe ich auch schon versucht. Als sie uns hier reingesteckt haben, habe ich alles abgesucht. Jeden verdammten Kanalisationsdeckel haben die dicht gemacht. Jeder Tunnel endet an einem Stahlgitter oder einer Betonwand in einer Sackgasse. Die stecken uns hier nicht rein und lassen uns einfach so entkommen.«

»Wäre auch zu einfach gewesen«, seufzt Love.

Viele Stunden später hat Love das Buch über asiatische Kampfkunst zur Hälfte durchgelesen. Tig hat Wasser besorgt, während Love Seite um Seite verschlingt und das Wissen in sich aufsaugt.

»Woher hast du das Wasser?«

»Warum kannst du lesen?«

»Ich habe zuerst gefragt.«

»Falsch! Du hast meine Frage seit Stunden nicht beantwortet.«

»Ich hab es mir selbst beigebracht. Zufrieden?«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Glaub, was du willst!«

Tig lässt den Kopf hängen.

»Das Wasser habe ich von denen. Die wollen, dass wir bei Kräften bleiben, um für die Arena eine gute Vorstellung abzuliefern.«

»Die waren hier?«

»Sie haben die anderen mitgenommen. Wir beide sind die Letzten, die übrig sind.«

»Ich dachte, ich hätte mehr Zeit.«

»Wofür? Um zu lesen? Vielleicht sollten wir besser beten.«

»Beten hilft nicht! Lesen schon.«

»Die anderen hatten recht. Du bist tatsächlich verrückt!« Fremde Stimmen unterbrechen plötzlich ihre Unterhaltung.

»Wo sind sie? Sie haben sich versteckt. Kommt raus!«

»Zeit zum Sterben«, murmelt Tig. Love schluckt. Sie hat das Buch gerade einmal zur Hälfte geschafft und damit ihr Talent funktioniert, muss sie darüber nachdenken, alles verstehen, es verinnerlichen und bestenfalls auch darüber schlafen. Erfahrungen sammeln und tägliches Training sind für Love ein Fremdwort. Als würde sie die allumfängliche Quelle des Wissens direkt über gelesene Worte anzapfen, sind Fingerfertigkeiten und Bewegungsabläufe einfach vorhanden. Von null auf hundert, als hätte sie die neu erworbenen Fähigkeiten schon von klein auf jeden Tag praktiziert. Doch nun hat sie dafür einfach nicht genügend Zeit. Die Schrottsammler, die dem Clan angehören, die ihren Vater und Lea umgebracht haben, kommen in den Abschnitt, in welchem sich Tig und sie befinden. Anscheinend kennen sie alle Abflussrohre, wo man sich verstecken oder verkriechen könnte. Auch die kleineren. Love atmet durch. Jetzt kommt es darauf an. Sie sendet doch noch schnell ein kleines Stoßgebet Richtung Himmel ab. Kann ja nicht schaden. Dann folgt sie Tig zum Anfang des Rohres.

Tig springt runter. Love blickt ihm nach und sieht drei Schrottsammler. Menschen. Fremde Gesichter. Sie führen nur Befehle aus, so wie es die Anhänger ihres Vaters getan hätten. Love fragt sich, was sie alles nicht mitbekommen hat. Hat ihr Vater auch Gefangene gemacht? Getötet? Eine Arena gab es nicht. Oder vielleicht doch? Hatte ihr Vater Geheimnisse vor ihr?

»Runter da!«

Love springt, wie ihr befohlen wurde. Womit die Schrottsammler nicht rechnen, ist ihre Attacke. Noch mitten im Sprung vollführt Love eine formvollendete Drehung. Die Beine schwungvoll zu einem Spagat gespreizt. Für den Bruchteil einer Sekunde ist Love erstaunt darüber, zu was ihr Körper im Stande ist. Sie kann sich nicht erinnern, sich jemals so bewegt zu haben, geschweige denn, einen Spagat zu vollführen. Ihr Gehirn sendet eins zu eins die richtigen Signale an ihren Körper, um das umzusetzen, was sie eben noch gelesen hat. Sie kann sogar den Namen der Figur nennen, die sie gerade ausführt: Die Krähe im Flug. Eigentlich eine Verteidigungstechnik. Ihr Körper reagiert instinktiv, wie ein Reflex, den sie nicht kontrollieren kann. Das Ziel ist es, die ersten beiden Schrottsammler mit einem Doppelkick auszuschalten und sich dann um den Dritten zu kümmern. Sie wird die Arena niemals zu Gesicht bekommen, weil sie entkommen wird. Ein weiterer Sekundenbruchteil vergeht.

Love landet auf dem Boden. Einerseits erstaunt darüber, dass sie nach dieser akrobatischen Einlage sicher wie eine Eins landet. Andererseits, weil sich die beiden Zielobjekte ihres Kicks ebenfalls noch auf den Beinen befinden. Der Grund dafür leuchtet Love sofort ein. Sie hat sie schlichtweg verfehlt.

Alle schauen verwirrt, überrascht und ein bisschen überfordert, angesichts dessen, was gerade passiert ist. Als Nächstes landet eine Faust auf Loves Kinn. Sie ist noch zu erstaunt darüber, was eben geschehen ist, um der Faust auszuweichen. »Zu blöd, dass das Kapitel mit den Angriffstechniken erst in der zweiten Hälfte des Buches kommt«, denkt sie noch und dann gehen ihr die Lichter aus. Ein klassischer Knock-out. Jemand fängt ihr Körper auf, als sie zu Boden geht. In einem Zustand, mehr benommen als bei Bewusstsein hört sie die Worte: »Das wird eine unterhaltsame Überraschung geben.«

Die Arena

Der Weg bis in die sogenannte Arena ist eine Tortur für Loves Psyche. Sie wird durch eine enge Gasse, nicht mehr als eine Scharte zwischen den Häusern, getrieben. Ihre Hände sind auf dem Rücken festgebunden. Eine Speerspitze trifft sie immer wieder schmerzhaft zwischen den Schulterblättern und lässt sie vorwärtsstolpern. Hebt sie den Blick, erkennt sie verzerrte Gesichter aus ihrem alten Clan - erstarrt im Angesicht des Todes. Sie haben die Menschen aufgespießt. Dutzende Gepfählte säumen den Weg zur Arena. Dahinter erheben sich große Holzfeuer und Rauchsäulen steigen zwischen den Häuserblocks auf. Hier ein Gesicht aus der Leibgarde ihres Vaters. Dort ein Mann, den sie von der Straße kannte. Jeden, der sich zur Wehr gesetzt hat, haben sie getötet und als Mahnmal hier aufgespießt. Was ist das nur für ein grausamer, unbarmherziger Clan? Noch nie hat Love von so etwas Bestialischem gehört oder so etwas Barbarisches gesehen.

Wieder spürt sie die Speerspitze in ihrem Kreuz und macht ein paar weitere Schritte vorwärts. Sie spürt das Blut an ihrer Wirbelsäule herunterlaufen. Es ist nicht viel, sie ist kaum verletzt. Sie soll nicht kampfunfähig in der Arena ankommen. Wieder hebt sie den Kopf und sieht in ein totes Gesicht, als ob es keine andere Alternative für ihre Augen gäbe. Menschen grölen aus den Fenstern der emporragenden Gebäude zu ihr hinab. Ein Junge wirft etwas nach ihr, verfehlt sie jedoch knapp. Fäkalien. Love schüttelt sich innerlich. Nur noch eine aufgespießte Leiche, dann wird sie diese schmale Straße hinter sich lassen. Fast schon freut sie sich auf das, was kommt, auch wenn es ihren Tod bedeutet. Ein innerer Impuls ergreift wieder Besitz von ihr. Stolz. Mut. Sie wird nicht sterben. Vorher wird sie sich rächen. Sie hebt ihr Gesicht, um der Niedertracht und dem Mob zu trotzen. Der letzte Pfahl befindet sich vor ihr. Dahinter ist die Arena. Sie kann das Jubelgeschrei deutlich hören. Ihr Vorgänger hat es nicht geschafft. Tig hat die Arena nicht überlebt. Woher sie das weiß?

Sein Körper hängt aufgespießt und schlaff an dem Holzpfahl herab. Sein Gegner hat ihm die Brust durchbohrt. Dort klafft ein riesiges Loch. Dieser Weg durch die Gasse des Grauens soll sie einschüchtern. Ihr allen Mut und den letzten Rest Überlebenswillen rauben, aber bei Love funktioniert es nicht. Es ist, als würden die schlimmen Situationen, wie die Ermordung ihrer geliebten Lea mit ansehen zu müssen, sie nur noch stärker machen.

Zornig blickt sie in die schreienden Gesichter. Der Junge, der mit Scheiße nach ihr geworfen hat, ist wieder in einem der Fenster über ihr erschienen. In seiner Hand einen neuen Beutel und zum Wurf bereit. Love fokussiert ihn. Durchbohrt ihn mit ihren stahlblauen Augen. Der Junge zögert, erschreckt förmlich, lässt den Beutel fallen und haut ab. Sie erwartet wieder einen Stupser mit dem Speer, lässt es aber nicht soweit kommen. Gefasst und bereit schreitet sie weiter. Sie wird das hier überleben. Sie kann es fühlen, die Stunde ihres Todes ist noch nicht gekommen.

Die Gasse öffnet sich in einen Innenhof. Hinter Love wird ein Metallzaun zusammengeschoben und versperrt ihr den Rückweg. Als hätte sie jemals vorgehabt, noch einmal durch diese Straße zu gehen. Alle anderen Ausgänge sind ebenfalls verbarrikadiert. Holzpalisaden, Metallgitter, Stacheldraht. Das, was Schrottsammler eben so auftreiben können. Feuer flackert und wird von den Häuserfronten reflektiert. Sie haben drei brennende Mülltonnen aufgestellt, um auch die Geschehnisse in den dunkelsten Ecken für die Zuschauer auszuleuchten. Love wagt einen Blick nach oben, um den Ursprung des Geschreis und Gejohles zu ergründen. Fenster, Balkone und aufgerissene Wände gestalten die Tribüne. Hunderte sind gekommen, um das Schauspiel zu verfolgen. Um sich an Blut und Todesangst zu ergötzen.

Love schluckt die Gefühle, die ihre Kehle emporzuklettern versuchen, wieder hinunter. Sie senkt den Blick, versucht, sich zu fokussieren und die nächsten Minuten irgendwie zu überstehen. Sie entdeckt ein Podest zu ihrer Rechten und ihr Magen krampft sich zusammen. Auch dort wurden zwei Pfähle aufgestellt. An einem hängt Lea. Nackt. Kopfüber. Ausgeblutet. Zorn, unfassbare Wut und unbändiger Hass vermischen sich mit tiefster Traurigkeit über den Verlust ihrer lieben Lea. Love droht innerlich an den Gefühlsregungen zu verbrennen. Daneben haben sie ihren Vater an den Pfahl gebunden. Gebunden? Nicht etwa aufgespießt wie die anderen?

Plötzlich traut Love ihren Augen nicht. War da eine Bewegung zu sehen? Tatsächlich. Ihr Vater hebt leicht den Kopf. Er lebt noch! Er ist doch nicht tot. Es ist keine Freude, was Love nun empfindet. Zu schlimm ist alles andere. Es ist ein Fünkchen Hoffnung. Nicht diese Art von Hoffnung, dass am Ende alles gut wird. Es ist die Hoffnung, sich noch einmal wiederzusehen. Sie dürfen sich verabschieden. Lebewohl sagen. Man wird sich im Jenseits finden. Love macht ein paar Schritte auf ihren Vater zu. Plötzlich ertönt ein Horn und der Mob auf den Rängen verstummt.

Der Mörder von Lea entpuppt sich wirklich als der Master des Schrottsammlerclans.

»Einschüchterung und Abschreckung ist die zweitbeste Waffe, mit der wir uns unsere Gegner vom Hals halten. Die Beste ist, sie alle zu töten oder zu versklaven. Ich halte nichts von Integration, bevor mir die einstigen Feinde nicht uneingeschränkt ihre Loyalität erweisen. Knie nieder!«, befiehlt er.

Love denkt nicht einmal daran. Lieber würde sie sterben. Die Speerspitze in ihrer Kniekehle zwingt sie zu Boden und erhalten den Schein ihrer demütigen Unterwerfung. Der Mob grölt. Das Gejohle hält an und das Stahlgitter vor einer der gegenüberliegenden Gassen wird auseinandergeschoben. Herein bugsiert wird eine zweite Person. Loves Gegner entpuppt sich als ein Mitglied der Leibgarde ihres Vaters. Sie kennen sich. Sein Name ist Garen. Als sich ihre Blicke treffen, reißt Garen seine Augen auf. »Hoffentlich hält er seinen Mund«, denkt Love.

Wieder ertönt das Horn. Love steht ruhig da, Garen zuckt unwillkürlich zusammen und duckt sich, als würde jemand nach ihm schlagen.

»Lasst sie kämpfen«, befiehlt der Master. Die Menge tobt und die Speere, mit welchen Love und Garen bis hierher in die Arena gestoßen wurden, liegen plötzlich zu ihren Füßen. Garen hebt seinen zuerst auf und macht Anstalten, ihn zu verwenden. Der Ausgang wird verschlossen. Die Arena gehört nun den beiden allein. Zwei Schrottsammler aus dem gleichen Clan. Garen reißt seinen Speer in die Höhe und rennt auf Love zu.

 

»Ich töte die Prinzessin für Euch«, hört Love ihn brüllen. Aber das Gekreische des Mobs ist lauter und so gehen seine Worte unter. Das hofft Love zumindest.

»Wie treulos kann man werden im Angesicht des Todes?«, stammelt Love vor sich hin. Immerhin hat er es ihr leicht gemacht, eine Entscheidung zu treffen. Sie wird kämpfen und ihn töten, wenn es sein muss.

Love gelingt es nur knapp, Garens Angriff auszuweichen. Die Speerspitze verfehlt sie um Haaresbreite und Garen stolpert überrascht ins Leere. Er hat wohl gedacht, dies hier schnell beenden zu können.

»Garen, du hast meinem Vater gedient«, sagt Love entsetzt.

»Jetzt diene ich meinem neuen Master. So läuft das. Das sind die Gesetze der Schrottsammler.«

»Was, wenn die Gesetze falsch wären?«, kontert Love und weicht mit einer Drehung seinem nächsten Angriff aus. Die Menge lacht, was Garen nur noch wilder macht. Die darauffolgende Attacke und auch der Versuch danach, Love aufzuspießen, laufen ins Leere. Es zahlt sich nun aus, dass sie das Kapitel der Verteidigungstechniken gelesen hat: Sie sieht quasi all seine Bemühungen im Voraus und bewegt sich instinktiv genau richtig, sodass es wie ein inszeniertes Spiel aussieht. Sie wird immer besser und die Zuschauer sind begeistert und jubeln ihr zu. Love ist innerhalb weniger Momente zum Publikumsliebling geworden. Die Meute johlt, lacht und schreit begeistert auf. Bei jedem Ausfallschritt, jeder Drehung und immer dann, wenn Garen sie um Meilen verfehlt. Love macht das im Verlauf des Kampfes so perfekt, dass es dem einen oder anderen die Sprache verschlägt.

»Garen, lass es sein, es ist zwecklos!«, ruft sie, aber Garen ist schon lange nicht mehr für Worte empfänglich. Er hat den Ausdruck eines gehetzten, wilden Tieres in den Augen. Der Speer rast vor und trifft. Ein stechender Schmerz zuckt durch ihre Hüfte. Er hat sie doch erwischt. Love blickt an sich hinab. Was ist passiert? Sie hat sich ablenken lassen, war nicht voll bei der Sache. Er hat sie nur gestreift, trotzdem tut es höllisch weh. Love lässt ihren Speer fallen, hinkt zur Seite. Die Menge raunt und verstummt für einen Moment und Garen fühlt sich bestätigt und fasst neuen Mut. Er geht, ohne zu zögern, zur nächsten Attacke über und will Love den Speer in den Bauch rammen. Vielleicht ist es Zufall oder ein Instinkt, dass Love in diesem Moment auf die Spitze ihres Speers tritt, der am Boden liegt und es schafft, gleichzeitig durch eine zwar schmerzhafte, aber geschmeidige Bewegung Garens Anlauf auszuweichen. Love bewegt sich mit schier übermenschlicher Anmut und Geschmeidigkeit. Der aufgerichtete Speer gerät zwischen Garens Beine. Er stolpert und stürzt, seinen eigenen Speer unter sich begrabend. Wieder brüllen, lachen und kreischen alle. Garen bewegt sich, will sich aufrichten, bricht aber wieder zusammen und rollt zur Seite. Eine Hälfte seines eigenen abgebrochenen Speers steckt in seinem Bauch. Garen spuckt Blut. Er hat sich selbst tödlich verletzt. Love schaut ihn mitfühlend an, dann wendet sie sich um und rennt, so schnell sie kann, hinüber zu dem Podest. Zu Lea und ihrem Vater.

Love blickt Lea und ihren Vater an. Sie steht direkt vor dem Podium und kämpft gegen die Tränen an. Wendet den Blick von Lea ab, weil es ihr das Herz zerreißt und sie es nicht länger ertragen kann.

»Vater?«, flüstert Love.

»Love, meine liebe Tochter«, röchelt ihr Vater. Es fällt ihm sehr schwer, zu sprechen. »Ich bin so stolz auf dich!«

»Das weiß ich doch, Vater. Du brauchst mir das nicht zu sagen. Ruhe dich aus. Alles wird wieder gut.«

»Love, du konntest noch nie sonderlich gut lügen.« Die Prinzessin schmunzelt und dicke Tränen kullern aus ihren Augen und ihre Wangen hinunter. »Ich muss dir etwas sagen.«

»Vater, ich ...«

»Halt den Schnabel! Kein Wort mehr! Bitte, lass mich nur einmal aussprechen!«

Loves Lächeln ist erfüllt von einer Melancholie, für die sie viel zu jung ist. Sie wischt sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, doch dann sieht sie aus dem Augenwinkel, wie der Master des fremden Schrottsammlerclans über eine Strickleiter von seinem Balkon heruntersteigt und in die Arena springt.

»Beeil dich!«, meint Love und ihr Vater verdreht die Augen. Selbst jetzt haben die beiden ihren Humor noch nicht verloren.

»Diese Kämpfe. Sie werden erst dann enden, wenn ich tot bin. So lautet hier das Gesetz. Also töte mich. Und noch etwas. Deine Mutter ...«, er muss husten. Blut läuft ihm aus dem Mund.

Love reißt die Augen auf. Nie zuvor hat ihr Vater etwas über ihre Mutter erzählt. Sie war immer ein Tabuthema.

»Sie ist nicht tot.« Love will etwas sagen, hält jedoch den Mund. Die Zeit drängt, Leas Mörder kommt immer näher. Sie haben vielleicht nur noch wenige Momente Zeit füreinander, bevor sie einander wieder entrissen werden. Dann wahrscheinlich für immer.

»Deine Mutter, du bist wie sie. Ihr Name ...« Ein nahes Geräusch lässt Love reflexartig zur Seite ausweichen. Es ist ein Armbrustbolzen, der die Luft nur wenige Zentimeter neben ihr durchschneidet und sich in die Brust ihres Vaters bohrt. Ihr Vater öffnet noch einmal müde seine Augen, blickt Love liebevoll an und dann erlischt sein Licht für immer. Love fällt auf die Knie. Lea ist tot. Ihr Vater ist tot. Sie wendet den Blick ab und schaut den Mörder der beiden liebsten Menschen in ihrem Leben hasserfüllt an.

»Gut gekämpft! Genug geredet! Die Kämpfe sind beendet«, ruft er und tritt an ihre Seite. Die Armbrust ist frisch gespannt und er zielt damit direkt auf ihren Kopf.

»Du musst eine treue Dienerin der beiden gewesen sein. Er hat dich sehr geschätzt, das sieht man ihm an. Nun ja, das sah man ihm an.« Love schweigt und beißt die Zähne aufeinander, um jetzt keine Dummheiten zu machen. Sie muss einen kühlen Kopf bewahren. »Wo hast du dich so gut zu verteidigen gelernt, Mädchen?«

Love bekommt keinen Ton heraus.

»Ich frage mich, welche Qualitäten sonst noch unter dieser weißen, marmorglatten Haut verborgen sind. Was wohl der Grund dafür ist, dass du ihm und seiner Tochter so verbunden warst?« Er macht eine Atempause, scheint zu überlegen. Love schweigt.

»Nun, dann eben nicht. Schafft sie in den Tower zu den anderen!«, befiehlt er seinen Schrottsammlern.