Die Chroniken von 4 City - Band 1-3

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Die Entscheidung des Masters

Alle Härte entweicht aus Draves Gesicht. Die Ursache ist seine Tochter, die ihm in der Lobby gegenübertritt. Allein ihr Aufzug könnte ihn rasend machen. Jeans und Schafspulli sind einer Prinzessin unwürdig. Er würde sie lieber in einem eleganten königsblauen Seidenkostüm und mit Ohrringen in Form silberner Spiralen sehen, aber Drave schafft es - wie immer - über diese Lappalie hinwegzusehen. Nach dem Verlust ihrer Mutter ist Love das einzig Schöne, das ihm noch neben den Pflichten als Master geblieben ist.

»Vater«, begrüßt ihn Love mit einem atemberaubenden Lächeln und beschleunigt ihre Schritte, um ihm um den Hals zu fallen. Sie weiß genau, wie sie ihn um den Finger wickeln kann, und der Master lässt es nur zu gerne zu.

»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagt er und blickt in die Tiefen ihrer wunderschönen Augen.

»Ich hoffe nicht so ein Abscheuliches, wie das letzte Mal.« Drave versucht, sich zu entsinnen, aber schon nach wenigen Augenblicken der Ratlosigkeit gibt er es auf. Er kann sich an keine Abscheulichkeit aus einem zurückliegenden Streifzug erinnern. Statt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, befiehlt er mit rauem Ton zwei Schrottsammler in die Empfangshalle. Sie schleppen eine kleine eisenbeschlagene Holzkiste herein.

»Wow, ein Piratenschatz für mich? Papi, du weißt doch, dass ich mir nichts aus Reichtümern mache.«

Der Master blickt seine Tochter wütend an.

»Nenn mich nicht so. Nicht wenn meine Männer zuhören!«

»Klar Paps. Habs kapiert.«

Er seufzt. Weitere Untertanen folgen und schleifen etwas Großes herein. Es handelt sich um Loves Rekonstruktion. Sie stellen den riesigen Fotoapparat direkt neben der Kiste ab.

Love zieht eine Augenbraue hoch.

»Ihr könnt wieder gehen«, befiehlt sie den Schrottsammlern. »Oder kommen noch mehr Geschenke?«

Sie blicken unschlüssig zu ihrem Master auf. Drave nickt und anschließend ziehen sie sich rückwärts buckelnd zurück. Einer stolpert dabei über seine eigenen Füße, was Love zum Schmunzeln bringt. Dann gehört ihre ganze Aufmerksamkeit der Kiste.

»Was ist da drin?«

»Ein Schatz«, lächelt ihr Vater.

Love verliert keine Zeit und öffnet ungeduldig den Deckel. Was sie darin sieht, lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie legt beide Hände an ihre Wangen und starrt stumm in die Truhe.

Bücher. Bücher. Bücher. Viel mehr, als dass sie imstande wäre, innerhalb einer Woche zu lesen. Sie löst sich aus ihrer Starre und berührt die Oberfläche eines der obersten Exemplare. Ein schwarzer Ledereinband und silberne Letter. Troja ist der Titel.

Sie streicht über andere, liest die Namen der Folianten und flüstert sie leise vor sich hin. Mobby Dick. Don Quijote. Der Alchimist.

Selten zuvor hat Love so gut intakte Einzelstücke gesehen. Als wären sie konserviert worden, um Jahrhunderte zu überstehen.

»Wo hast du sie her?«, fragt sie atemlos.

Der Master tritt an den riesigen Apparat heran, öffnet an der Seite eine Klappe und zieht den Inhalt aus dem darunter entstandenen Schlitz. Er begutachtet es zufrieden und unübersehbar entzückt von den Fertigkeiten seiner Tochter. In seinen Augen ist sie die intelligenteste, schönste und geschickteste aller Schrottsammler. Ihre Fähigkeiten, Dinge aus der Alten Welt zu rekonstruieren, und funktionsfähig zu machen, suchen ihresgleichen. Stolz überreicht er ihr das Foto.

»Das ist der Ort«, raunt er.

Love betrachtet das Bild und die fremden Schriftzeichen. Es ist keine Sprache, der sie mächtig ist, aber sie fasst in diesem Moment einen Entschluss. Sie wird die Hieroglyphen auf jeden Fall entschlüsseln.

»Ich habe noch eine Überraschung für dich«, flüstert ihr Vater verschwörerisch.

»Nimmst du mich auf den Arm?«, fragt sie ihn, während sie das Foyer verlassen und die privaten Gemächer betreten. Auch hier sieht es nur unwesentlich ordentlicher aus. Es liegt nicht in der Natur eines Schrottsammlermasters, in seinen vier Wänden für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen. Es gefällt ihm, wie es ist. Er mag es, all die Dinge chaotisch angehäuft herumliegen und übereinandergestapelt zu sehen. Das Chaos erinnert ihn daran, wer er ist und Love wird den Teufel tun und sich in diese Intimität einmischen.

Sie setzen sich auf das Ledersofa vor dem offenen Kamin. Bis auf die zerfetzten Lehnen scheint es noch gut intakt zu sein. Im Gegensatz zu dem Schornstein, in dem schon seit einem Jahrhundert kein Feuer mehr gebrannt hat. Stattdessen stapeln sich auf der Feuerstelle Straßenschilder des Bezirks.

»Also?«, fragt Love.

»Also was?«

»Die Überraschung!«

»Im Grunde gibt es sogar zwei«, sagt der Master.

Love wird skeptisch. Verengt ihre Augen zu Schlitzen. Sie hat es im Gespür, wenn ihr Vater etwas im Schilde führt. Sie liest seine Gestik. Die verschränkten Arme hinter dem Kopf verheißen nichts Gutes, verraten Love, dass er den Gedanken bereits abgeschlossen und dass er eine Entscheidung getroffen hat. Was auch immer es ist. Sie hält es kaum noch aus, will endlich wissen, was er beschlossen hat und um was für Überraschungen es sich handelt.

Der Master zieht ein weiteres Buch unter dem Ledermantel hervor. Wow. So viel Empathie hat sie ihm nicht zugetraut. Love ist eine leidenschaftliche Leserin, hat sogar schon eigene Texte verfasst. Sie nimmt es entgegen.

»Es ist zerrissen und zerfleddert.«

»Das macht nichts. Ich krieg das wieder hin. Es ist alt«, ergänzt sie.

»Zwei Jahrhunderte oder mehr, um genau zu sein«, sagt ihr Vater.

»Woher weißt du ...«, beginnt sie, aber dann hat sie eine der losen Seite in den Händen und sieht es selbst. Es ist ein Tagebuch und der letzte Eintrag liegt lange vor der neuen Zeitrechnung zurück. Tatsächlich sind seitdem über 200 Jahre vergangen. »Ihr Name war Aurora«, flüstert Love und kann es kaum erwarten, es zu lesen. Memoiren gehören zu ihrer Lieblingslektüre. Es gibt nichts Spannenderes und Authentischeres. Love interessiert sich sehr für die Alte Welt. Damals gab es noch keine Schrottsammler und keine Steamborgs. Die Menschen lebten in Ländern, die seltsame Namen trugen. Zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika.

Hunderte Millionen dienten unter einem Präsidenten. Unvorstellbar! Ihr Vater ist der Master von einem Schrottsammlerclan. Es gibt noch mindestens zwei weitere Clans, vielleicht auch mehr. Jeder herrscht über ein paar tausend Menschen und es ist unausdenkbar, dass alle Schrottsammler nur einem Master dienen würden. Zu groß sind die Differenzen, die Besitzansprüche, die Lebensgewohnheiten und das, obwohl sie alle zur gleichen Gruppierung gehören.

»Ich werde dich verschenken«, stößt ihr Vater plötzlich hervor und reißt Love aus ihren Gedanken. »Dein Mann wird einmal der Nachfolger eines Masters.« Love fällt die Kinnlade herunter. »Die Steamborgs haben an Macht dazugewonnen und wagen sich erstaunlich weit in unser Territorium. Wir müssen uns verbünden, um stärker zu werden und um sie zum Teufel zu jagen. Eine Möglichkeit, um zwei Clans zu vereinen, ist eine Hochzeit.«

»Niemals!«, schreit Love.

Machtverhältnisse

»Lass uns verschwinden! Pack das Nötigste zusammen. Wir hauen noch heute Nacht ab.«

Love zerrt ihre Freundin hinter sich her. Lea versteht nicht, was los ist. Seit Love zurückgekehrt ist, ist sie noch weniger zu bremsen als sonst und nicht mehr zu beruhigen. Etwas Schreckliches muss passiert sein.

»Geht es deinem Vater gut?«, fragt Lea aus gutem Grund. Sie kennt den Verhaltenskodex unter den Schrottsammlern. Ein Clan verhält sich wie ein Löwenrudel. Sie weiß, wie schnell und blutig sich die Machtverhältnisse neu ordnen können, vor allem dann, wenn den amtierenden Master so langsam das Alter zeichnet oder er unverhofft aus dem Leben scheidet.

Ist Love womöglich in Gefahr? Wurde ihr Vater gestürzt oder im Kampf schwer verwundet? Müssen sie deshalb verschwinden, weil die Anwärter auf den Titel den Befehl erteilt haben, Love, der einzigen Erbin des Masters, die Kehle durchzuschneiden? Bei diesem Gedanken läuft es Lea eiskalt den Rücken runter. Nicht weil das auch ihr eigenes Todesurteil wäre, sondern weil sie Love liebt. Sie ist dieser frechen, ungezähmten, belesenen, intelligenten, wunderhübschen ...

»Er ist wahnsinnig geworden«, unterbricht Love die Gedankengänge ihrer Freundin und ihrer heimlichen Geliebten.

»Verrückt?«, fragt Lea und weiß nicht, ob das besser ist als tot.

»Er will mich verheiraten. Arrangiert. Stell dir das doch nur einmal vor!«, tobt die Prinzessin und wirft einen einfachen ledernen Koffer auf ihr Bett. Das gute Stück ist wie so vieles andere auch ein Mitbringsel ihres Vaters von seinen zahlreichen Streifzügen durch 4-City. Bislang hat sie für ihn nie eine Verwendung gefunden, lediglich mit dem Gedanken gespielt, aber das wird sich jetzt ändern. Wutentbrannt stopft Love wahllos alle Kleidung hinein, die ihr zwischen die Finger gerät. Plötzlich wendet sie sich Lea zu, schnappt sie sich und drückt ihr einen festen Kuss mitten auf den Mund. Mit einem Schmatzen löst sie sich wieder von ihr, wendet sich fluchend erneut dem Koffer zu und lässt ihre Freundin völlig perplex zurück.

Lea wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen.

»Wen sollst du heiraten?«, fragt sie unbedacht und bereut es sofort. Love schleudert ein paar hochhackige Schuhe in den Koffer, dreht sich wie eine Furie um und ihre Augen blitzen gefährlich.

»Das spielt doch überhaupt keine Rolle! Es wird schon irgendein hirnloser Depp sein, der meint, er wäre was Besseres, weil er als Sohn von einem Schrottsammlermaster auf die Welt gekommen ist. Oder noch schlimmer, weil sein Vater den amtierenden Master umgebracht hat. Bei den Wilden da draußen blickt man ja nicht mehr durch. Unser Clan scheint der einzig Beständige zu sein. In den anderen geht es zu wie bei tollwütigen Hyänen. Fressen oder gefressen werden. Pah! Vermutlich hat der Wüstling nur eines im Hirn. Nicht mit mir! Oh nein!«, brüllt sie. »NICHT MIT MIR!«, brüllt sie und schaut Lea wutentbrannt in die Augen.

 

»Aber was ist das? Sind das etwa Tränen?«, denkt Lea.

»Ich bin eine Prinzessin«, schluchzt Love nun flehentlich und setzt sich rücklings aufs Bett. Vergräbt ihr Gesicht in den Händen und weint leise.

»Scht«, flüstert Lea und setzt sich neben sie, einen Arm um sie gelegt. »Es wird schon alles wieder gut«, tröstet sie die Prinzessin, drückt Love und nimmt sie in den Arm.

»Du wirst Wochen brauchen, um alle zu lesen«, versucht Lea, vom Thema abzulenken und deutet auf die Truhe.

»Die Bücher sind immerhin ein Fünkchen Hoffnung, dass mein Vater mich besser als gedacht zu kennen scheint. Aber ich werde niemals, niemals diesen Schrottsammler heiraten.«

»Scht«, haucht Lea und streichelt ihr über die Haare. Ihre Lippen treffen erneut auf die von Love. Der Atem der Prinzessin beruhigt sich. Ihr Herzschlag verlangsamt sich und ihre wütende Zunge wird von Leas gezügelt.

Zusammen setzen sie sich auf den Boden vor die Truhe und holen sorgfältig ein Buch nach dem anderen heraus. Love geht davon aus, dass ihr Vater höchst persönlich die Werke hineingelegt hat. Oder vielleicht hat er auch einen Schrottsammler unter Androhung, ihn zu köpfen, dazu angewiesen, die Bände umsichtig zu behandeln.

»Eventuell ist auch ein Buch über Fotografie dabei«, mutmaßt Lea und Love hofft, ihr Vater hat in der Tat eines gefunden. Sie wartet schon seit Monaten darauf, dass er ihr ein solches mitbringt. Vermutlich wird sie sich aber selbst aufmachen müssen und den Bezirk das erste Mal in ihrem Leben verlassen, um die große weite Welt von 4-City eigenständig zu erkunden.

Love zieht das nächste Exemplar heraus und wahrhaftig, sie hat Glück. Digitale Fotografie steht auf dem Einband. Wie sie ihren Vater dafür liebt. Er hält seine Versprechen immer ein. Love betrachtet die farbige Hülle und fragt sich, was nochmal das Wort digital bedeutet.

Dann plötzlich schießen die Gedanken wieder empor. »Wird er es wirklich tun und mich verheiraten?« Wird er sie mit dem Sohn eines fremden Clanmasters vermählen? Aus politischen Gründen? Wie ekelerregend. Lea legt eine Hand auf ihre Schulter.

»Willst du mir daraus vorlesen?«, fragt sie und hält Love das zerrissene Tagebuch hin. Love nickt.

Aurora

Woher weiß Karma von meiner Gabe? Von diesem einen Moment in meinem Leben, der mich bis heute nicht mehr loslässt. Wie wird der Rest des Teams reagieren? Was werden sie mich alles fragen?

Meine Gabe, meine Gotteserfahrung bedeutet, dass die konventionelle Behauptung der Physik falsch ist. Die Prinzipien der Quantenmechanik, welche die Wechselwirkungen zwischen Welle und Teilchen beschreiben, würden nicht nur auf der atomaren Ebene zutreffen, sondern sich auf das gesamte Universum beziehen. Was würde passieren, wenn wir die Öffentlichkeit vom rein mentalen Wesen des Universums in Kenntnis setzen und all unsere Erkenntnisse in Bezug auf Karma als Beweis für Gottes Existenz anführen? Wer würde uns glauben? Fast jeder Mensch glaubt die physische Welt, die wir sehen, sei die Wirklichkeit und das, obwohl Quantenphysiker schon lange festgestellt haben, dass die von uns beobachtbare Welt genau das nicht ist. Einstein kam schon seinerzeit zu dem gleichen Schluss, doch er mochte ihn nicht wahrhaben und verbrachte den Rest seines Lebens mit dem erfolglosen Versuch, die beunruhigenden Konsequenzen der Quantenmechanik zu widerlegen. Karma und meine Gabe sind der Beweis. Die Frage ist nur, wie wird die Welt darauf reagieren? Wie wird die Welt auf Karma reagieren? Wie auf die Wahrheit, dass das Universum nichts weiter als reines Bewusstsein ist?

Aurora, 2046

In dem Moment, als sie Auroras Name ausspricht, ertönt das Horn. Es ist ein lang anhaltendes Tönen ohne Unterbrechung. Love hebt den Kopf. Emotionen spiegeln sich auf ihrem Gesicht wieder. Traurigkeit gemischt mit Zorn wird von Erstaunen abgelöst. Darauf folgt Entsetzen und schließlich die ungetrübte Angst.

»Wir werden angegriffen«, ruft sie entsetzt, steht auf und rennt zum gegenüberliegenden Ende des Zimmers.

»Was machst du denn? Wir müssen uns verstecken!«, sagt Lea mit vor Angst zitternder Stimme. Sie kann ihren Stimmbändern genauso wenig befehlen, keine Panik zu haben, wie sie ihrem Herz nicht untersagen kann, sich keine Sorgen um Loves Leben zu machen. Die Prinzessin schiebt die schwere Kommode ächzend zur Seite. Dahinter erscheint ein Tresor, vor den sie sich nun kniet und beginnt, die Nummernscheibe langsam und gleichmäßig drei Markierungen nach rechts zu drehen. Sie darf auf keinen Fall über den Teilstrich hinaus drehen. Bei diesem Fehler müsste sie von vorne beginnen. Und das benötigt Zeit. Eine Dimension, die gerade Mangelware ist. Sie dreht die Scheibe nach links, bis sie die Ziffer 7 erreicht. Nach rechts bis zur 33 und zurück, bis die Scheibe bei 70 einrastet, dann dreht sie wieder nach rechts. Verdammt, warum musste sie die Zahlenkombination des Sicherheitsschlosses auch so kompliziert einstellen! Love hört wieder Leas ängstliche Stimme bitten, sich jetzt sofort davonzumachen. Sie hört die Kampfschreie draußen auf der Straße und wenn sie sich nicht täuscht, dann auch schon vereinzelt innerhalb des Palastes. Palast? Wohl eher die einstige National City Bank of New York.

Love dreht die Zahlenscheibe bis zum Anschlag ganz nach links. Die Schließbolzen ziehen sich zurück. Sie zieht an dem Metallgriff, um den Tresor zu öffnen. Im gleichen Moment wird die Tür zu ihrem Zimmer gewaltsam aufgetreten.

Lea

»Ergreift sie!«

Die Schrottsammler stürmen ins Zimmer. Lea hat keine Chance. Selbst wenn sie hätte fliehen oder sich zur Wehr setzen wollen - es wäre mit Sicherheit bei einem aussichtslosen Versuch geblieben. Love muss mit ansehen, wie sich Lea in den Armen der Eindringlinge wiederfindet.

»Hey, da ist noch eine«, ruft einer der Schrottsammler, als er Love entdeckt, die wie festgefroren vor dem Safe kniet und nicht weiß, was sie tun soll. Sie wird sterben. So schrecklich das klingt, es ist die Art und Weise, wie bei der Übernahme eines anderen Clans verfahren wird. Der Master und alle seine Angehörigen werden beseitigt. Danach ist der Machtwechsel vollzogen und der Clan eingegliedert. Loves Vater hat es selbst so gehandhabt. Mehrere Male, und so die Anzahl seiner Untertanen in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Doch wie ist das alles überhaupt möglich? Wie konnten diese Fremden so ohne weiteres eindringen? Es ist ein Verrat, fällt es Love in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Es gibt Verräter in den eigenen Reihen, anders ist das nicht zu erklären.

Die Anzahl der kampffähigen Männer ihres Vaters, die zum Schutz als Leibwache abgestellt sind, plus die Wachen an den Grenzen, die sofort bei der kleinsten Auffälligkeit Alarm schlagen, würden bei jedem Angriffsversuch sofort zum Gegenangriff übergehen. Jemand Neues kommt in das Schlafgemach. Es muss ein Anführer sein. Vielleicht der Master des gegnerischen Clans, aber er scheint zu jung dafür zu sein. Sein Auftreten wirkt alles andere als harmlos. Geradezu tyrannisch. Er trägt eine Lederrüstung und hält in der rechten Hand einen spitzen Dolch, an dem frisches Blut klebt.

»Prinzessin?«, fragt er mit erregter, süffisanter Stimme und macht eine tiefe, vor Ironie nur so triefende Verbeugung. Um Love kümmert sich immer noch niemand, sie ist aber auch nicht fähig, sich zu rühren. Sie betrachtet die ganze Szene, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen. Sie fragt sich, was hier nicht stimmt, was falsch läuft. Und plötzlich kapiert sie es. Der Anführer verbeugt sich vor Lea. Love reißt die Augen auf, will etwas sagen. Will ihm klar machen, dass das ein Irrtum ist, dass sie die Prinzessin ist und nicht Lea. Love öffnet den Mund, doch plötzlich wendet ihr Lea den Kopf zu. Die Todesangst steht ihrer Freundin ins Gesicht geschrieben, trotzdem schüttelt Lea leicht den Kopf und gibt Love so zu verstehen, den Mund zu halten.

Die echte Prinzessin kann sich nicht vom Fleck rühren. Im nächsten Augenblick beendet der Master seine Verbeugungszeremonie mit einer geschmeidigen Bewegung, die Zeugnis von seiner Ausbildung als Kämpfer ablegt. Im gleichen Moment führt er den Dolch schräg nach oben und schiebt ihn Lea unendlich langsam zwischen die Rippen.

»Ich bitte um ihre Hand«, raunt er und ergreift Leas Hand. Lea schnappt nach Luft und blickt auf den Dolch in ihrer Brust. »Ich fürchte, die Hochzeitsnacht fällt leider aus«, sagt der Mörder. Lea blickt zu Love, als wäre alles nur ein Traum und nicht die eiskalte Realität. Dann erreicht die Spitze der Klinge ihr Herz. Lea reißt bei dem langsamen Todesstoß ein letztes Mal ihre Augen auf und nur den Bruchteil einer Sekunde später erschlafft ihr Körper in den Armen ihres Mörders. Es ist der gleiche Mann, mit dem sie ihr Vater verheiraten wollte. Love schreit.

»Stopft ihr das Maul! Vielleicht gibt sie ja eine gute Konkubine ab«, befiehlt er mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht und zieht den Dolch aus Leas Herz. Sofort tränkt sich ihr Shirt mit dunkelrotem Blut. Sie werfen ihren leblosen Körper respektlos aufs Bett. Love schreit noch immer. Die Männer, die ihr das Maul stopfen sollen, haben nicht mit solchem Widerstand gerechnet. Love erwischt den ersten an der Kehle und es knirscht seltsam, als sie ihm die Luftröhre mit einem Schlag zertrümmert. Er geht zu Boden, röchelt und ist dem Ende nahe.

Love kämpft wie eine Löwin. Sie kann es nicht ertragen, dass Lea wegen ihr gestorben ist. Nur weil Lea ihrem Vater ähnlicher sieht, als sie selbst. Vielleicht ist der Tod ja auch besser als alles andere, was Love jetzt bevorsteht. Sie ringt mit dem zweiten Schrottsammler, als sie einen harten Schlag an der Schläfe abbekommt. Es ist der Knauf des Dolches, der Loves Lichter ausgehen lässt. Noch im Fallen hört sie das Lachen und die Worte von Leas Mörder.

»Keine Konkubine. Lasst die kleine Löwin in der Arena kämpfen.«