Der magische Adventskalender & Das Licht der Weihnacht

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»Gut«, grunzt Thomas.

»Das muss ich ausnahmsweise auch einmal zugeben«, lobt Lanzelot.

Anschließend versuchen, Lara und Paolo den ganzen Nachmittag und Abend herauszufinden, wen Kasimir mit der kleinen, scheuen, tollpatschigen Feder gemeint haben könnte. Auch Lara ist mittlerweile der Meinung, dass es kein Zufall sein kann, dass es ununterbrochen schneit. Sie hoffen, in dem Tagebuch ihrer Oma einen Hinweis zu finden. Entweder zu dem Schneechaos, der Schneekugel, der kleinen Feder oder zu sonst etwas aus Kasimirs Nachricht.

Lara hat im vergangenen Jahr oft in Oma Luises Tagebuch gelesen. Es gibt dort so vieles zu entdecken und das meiste davon hat sie bis heute nicht richtig verstanden. An eine Schneekugel oder kleine Feder kann sie sich zwar nicht erinnern, aber das hat nichts zu bedeuten. Oma Luise hat immer gerne in Rätseln gesprochen. Oder es steht einfach so viel in dem Tagebuch, dass es Lara einfach wieder vergessen hat. Lara und Paolo wissen, dass es noch viele andere Planeten gibt und andere magische Tore, durch welche man sie betreten kann. Oma Luise hat viel Zeit damit verbracht, diese Weltentore zu finden. Das ganze Buch ist voll mit Hinweisen und Rätseln die Oma Luise versucht hat, zu lösen. Und Lara ist in ihre Fußstapfen getreten. Das ist ihre Aufgabe. Paolo ist der Hüter der Weltentore und Laras Bestimmung ist es, die vielen Weltentore zu entdecken und alles für spätere Generationen schriftlich festzuhalten.

Leider ist Oma Luises Tagebuch ziemlich dick und sie finden bis in die Nacht hinein nichts von Bedeutung heraus, das ihnen irgendwie weiterhelfen könnte.

»Ich weiß aus der Schule, dass es früher, vor sehr langer Zeit, heftige Eiszeiten auf der Erde gab. Die Erde wurde sogar als Schneeball bezeichnet, weil sie von den Polkappen bis zum Äquator mit Eis bedeckt war«, erzählt Paolo.

»Ich bin müde«, gähnt Lara. »Morgen ist das Wochenende vorbei und wir haben wieder Schule. Wir sollten noch ein bisschen schlafen und morgen nach den Hausaufgaben weiter machen.«

Lanzelot liegt in Laras Armen und schnarcht bereits seit Stunden. Thomas hat noch ein Auge geöffnet und schaut damit in das Tagebuch. Paolo fragt sich, ob Thomas vielleicht lesen kann. Er hat diese Möglichkeit noch gar nie in Betracht gezogen. Schlau genug wäre das Kissen garantiert.

»So machen wir es! Legen wir uns noch für ein paar Stunden aufs Ohr«, sagt Paolo, der mit einem komischen Gefühl in seiner Magengegend zum Fenster hinausschaut. Draußen schneit es immer noch und die Schneeflocken scheinen jetzt noch größer geworden zu sein.

»Gute Nacht, Hüter der Erde«, gähnt Lara erneut, nimmt die kleine Schneekugel mit und stiefelt davon zu ihrem eigenen Zimmer.

»Gute Nacht, mächtige Lara.«

Mitten in der Nacht wacht Paolo auf. Irgendetwas ist im Haus los. Er hört Schritte und Stimmen auf dem Flur und urplötzlich kommt sein Vater ins Zimmer.

»Lara muss den Rest der Nacht bei dir schlafen«, teilt er kurz und bündig mit und zieht Laras Matratze hinter sich her.

»Was ist den passiert?«, fragt Paolo müde. In diesem Moment schlurft Lara ins Zimmer. In der linken Hand hat sie die Bettdecke und in der Rechten ihr Kissen. Lanzelot marschiert den beiden hinterher.

»Papa meint, ich soll hier schlafen, hier ist es wärmer«, erklärt Lara nur.

»Warum ist es bei mir wärmer?«

»In Laras Zimmer ist die Heizung ausgefallen und die Temperatur ist fast bis auf den Gefrierpunkt gesunken«, sagt Vater Maring sichtlich beunruhigt. »Ich hoffe, das ist kein Problem für dich, wenn Lara bei dir schläft?«

»Das ist schon in Ordnung«, erwidert Paolo, der etwas verwundert darüber ist, wie kalt es in Laras Zimmer geworden ist.

»Gute Nacht! Ich werde versuchen, die Heizung morgen zu reparieren. Sofern ich noch das richtige Werkzeug dafür habe«, meint ihr Vater, gibt jedem einen Kuss auf die Stirn und verlässt Paolos Kinderzimmer.

»Hast du sehr gefroren?«, fragt Paolo.

Laras Matratze liegt mitten im Zimmer auf dem Boden und sie kuschelt sich bereits unter ihre Decke.

»Ja schon. Glücklicherweise hat Papas neues Spielzeug Alarm geschlagen. Dieses Klimadings, mit dem er die Temperatur und die Heizung im ganzen Haus überwachen kann.«

»Und es ist wirklich so kalt bei dir? Nahe dem Gefrierpunkt?«, fragt Paolo, dem das sehr eigenartig vorkommt.

»Ja«, murmelt Lara noch und dann schläft sie auch schon ein.

Paolo liegt noch eine ganze Weile wach im Bett. Er macht sich Gedanken, versucht die Puzzleteile aneinanderzufügen. Die Schneekugel, die weiße Stadt, die zugefrorenen Spiegel, der viele Schnee und die verschwundenen Sachen in ihrem Haus. Er weiß, das hängt alles irgendwie zusammen, aber so viel er auch darüber nachdenkt, ihm will einfach nicht einfallen, wie er das Rätsel lösen könnte. Schließlich ist er so müde von dem ganzen Grübeln, dass ihm dann doch die Augen zufallen.

3. Kapitel - Schlagzeiten

»Eigentlich ist es voll schön. Komm, schau dir das an! Es schneit und schneit und schneit«, sagt Paolo am nächsten Morgen.

Paolo kniet auf seiner alten Kommode. Die Holzkiste ist schon mindestens 1000 mal von Holzwürmern durchlöchert worden. Er träumt mit offenen Augen, schaut zum Fenster hinaus und beobachtet die Schneeflocken. Sie bewegen sich wie weiße Tänzerinnen im Wind auf und ab. Lara sitzt hoch konzentriert auf ihrer Matratze und malt mit einem Kugelschreiber Kreise auf ihre Jeans. Große und kleine Kreise immer mehr bis ein kleines Kunstwerk entsteht.

»Glaubst du, Mama findet das toll, wenn du deine Jeans bemalst?«, kritisiert Paolo seine Schwester während er von der Kommode heruntersteigt und sich auf sein eigenes Bett setzt. Nachdem in Laras Zimmer die Heizung ausgefallen ist, muss sie nach der Meinung ihres Vaters wohl die nächsten Tage in Paolos Zimmer übernachten. Paolo und Lara verstehen sich eigentlich prima, aber im gleichen Zimmer zu schlafen ist in ihrem Alter doch eine kleine Herausforderung. Vor allem Lara nervt das gewaltig.

»Mama braucht das ja nicht zu erfahren«, motzt sie. »Und du verpetzt mich nicht! Sonst ...« Sie macht eine Pause und zeigt mit der ausgestreckten Hand auf Thomas, der schnarchend auf dem Boden liegt. »... bekommt Thomas nichts von meinem selbstgebrauten Beinmachtrank!«

»Das wagst du nicht. Thomas hat genauso ein Recht zu leben wie Lanzelot. Wenn du das machst ..., dann ..., dann ...«, beginnt Paolo.

»Ja? Was ist dann? Was willst du dann machen? Willst du mir drohen?«, fragt Lara wütend.

»Warum bist so gemein?«, jammert Paolo.

»Halt einfach den Mund und sag Mama nichts von der Jeans, dann brauchst du auch keine Angst um Thomas zu haben«, poltert Lara.

Die beiden schauen sich verwirrt und verwundert an. Noch nie haben sie so heftig und böse miteinander gestritten und sogar gegenseitige Drohungen ausgesprochen. Lara würde nie im Leben auf den Gedanken kommen, Thomas etwas anzutun.

»Tut mir leid«, flüstert sie leise. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Das war ziemlich krass. Aber es ist schon gut. Ich nehme deine Entschuldigung an.«

»Der Beinmachtrank soll ein Weihnachtsgeschenk für die beiden sein. Damit sie weiterleben können«, sagt Lara mit gedämpfter Stimme. »Ich habe fast ein halbes Jahr gebraucht, um ihn mit der Hilfe von Omas Krafttränkebuch herzustellen.«

»Thomas und Lanzelot werden sich riesig freuen. Ich finde, im Grunde geht es an Weihnachten gar nicht darum, selbst Geschenke aufzumachen, sondern darum, anderen eine Freude zu machen. Das macht viel glücklicher«, murmelt Paolo.

»Das hast du schön gesagt.«

»Ich muss immer wieder an Kasimirs Nachricht denken. Was passiert mit den Menschen, falls die Magie der Weihnacht in den Herzen erlischt? Und was geschieht dann mit Weihnachten?«

»Vielleicht streiten sie sich? So wie wir eben«, flüstert Lara.

»Dann sollten wir das unter allen Umständen verhindern!«

»Wenn wir nur wüssten wie!«

»Hast du schon etwas in Omas Tagebuch über die Schneekugel, die magische Laterne oder die kleine Feder gefunden?«

»Fehlanzeige. Oma schreibt über echt viele Sachen. Andere Planeten, Kraftgegenstände, Elfen und so weiter aber sie erwähnt mit keinem einzigen Wort eine kleine Feder oder eine magische Laterne und sie schreibt auch nichts über das Schneechaos oder die Schneekugel. Ich tappe völlig im Dunkeln.«

»Ganesha und unsere Stadt versinken im Schnee. Das kann kein Zufall sein«, rätselt Paolo.

»Schneestadt«, steuert Thomas bei, der gähnt und gerade aufgewacht ist.

»Gibt es denn gar keinen Hinweis oder ein Hilfsmittel, das uns weiterhelfen könnte? Vielleicht einen Krafttrank, den wir selbst brauen können, um den Tresor von Papa aufzubrechen? Oder vielleicht Kraftnagellack?«, fragt Paolo.

»Um so etwas herzustellen, bräuchte ich viel zu lange«, antwortet Lara. Sie sitzt da und schaut Thomas an.

»Was hast du?«, erkundigt sich Paolo.

»Ach nichts, ich überlege nur gerade, ob uns Thomas etwas mitteilen will.«

»Schneestadt«, grunzt Thomas wieder.

»Du bist schuld!«, hören sie plötzlich ihre Eltern in der Küche streiten. Die beiden sind sehr laut. Tatsächlich haben Lara und Paolo noch nie erlebt, dass sich ihre Eltern so laut anschreien.

»Was ist denn da unten los?«

»Lass uns nachsehen«, schlägt Lara vor.

Sie schleichen die Treppe hinunter, bis sie in dem Gang vor der Küche ankommen. Im nächsten Moment bekommen sie mit, wie ihre Mutter einen Teller nach ihrem Mann wirft. Vater Maring duckt sich jedoch geschickt und der Teller fliegt an seinem Kopf vorbei und kracht scheppernd gegen die Wand.

 

»Für dich bedeutet die Adventszeit und Weihnachten doch nur, Plätzchen zu backen, die Wohnung zu schmücken, den perfekten Tannenbaum auszuwählen und an Heilig Abend zu kochen!«, brüllt ihr Vater.

»Und du bist immer noch dem Stress, der Hektik und dem Konsumzwang verfallen! Der wahre Sinn von Weihnachten liegt sicherlich ganz woanders! Wer den Sinn von Weihnachten nicht im Herzen hat, der wird ihn wohl auch garantiert nicht bei der Arbeit finden!«

»Jemand hier im Haus muss ja wohl das Geld verdienen!«, herrscht ihr Vater wütend.

»Das ist unfair. Ich arbeite halbtags und kümmere mich um die Kinder. Du nimmst dir hingegen gar keine Zeit mehr für uns!«

»Das ist nicht wahr!«, erwidert ihr Vater.

»Die Magie der Weihnacht«, flüstert Paolo. Ich glaube, sie erlischt.«

Ihre Mutter hilft dem Vater, die Scherben vom Boden aufzuheben.

»Tut mir leid«, flüstert ihr Vater.

»Mir auch«, gesteht ihre Mutter.

»Sie haben sich auch gestritten und versöhnen sich wieder. Genauso wie wir beide«, stellt Paolo fest. Lara nickt zustimmend.

»Magie der Weihnacht«, grunzt Thomas.

»Die Magie der Weihnacht erlischt und die Menschen fangen an zu streiten, das ist es, was Kasimir vorausgesagt hat«, flüstert Lara. »Wir müssen ganz dringend etwas dagegen unternehmen.«

»Die Frage ist nur, was wir ohne Kraftgegenstände tun können«, sagt Paolo.

Plötzlich bemerken ihre Eltern die Kinder, die vor der Küche stehen.

»Hallo ihr beiden«, begrüßt sie ihre Mutter verschämt. »Ich geh mal die Zeitung holen.«

»Was ist denn passiert? Warum habt ihr euch gestritten?«, erkundigt sich Paolo vorsichtig.

»Der neue Schraubendreher und das Besteck sind wieder verschwunden. Vielleicht sind das ja die Pauwdies von den Nachbarn«, spekuliert ihr Vater.

»Wenn bei uns keine Pauwdies sind, dann bei den Nachbarn auch nicht«, erklärt Paolo seinem Vater.

»Es stimmt, was Paolo sagt. Lest selbst!«, wirft ihre Mutter ein, die in diesem Moment zurückkommt und allen das Titelblatt der Zeitung vorliest.

Schneechaos und zugefrorene Spiegel in der ganzen Stadt führen zu Streit und Zwietracht!

Wie Paolo und Lara schon vermutet haben, hat das Schneechaos noch einmal zugelegt. Aber das Erstaunliche ist, dass sich das Wetterphänomen nur auf ihre Stadt zu begrenzen scheint. Hinter den Stadtgrenzen, den umliegenden Feldern, den Hügeln und hinter dem Wald ist die Welt scheinbar noch in Ordnung. Die Nachbarstädte sind bis jetzt von dem Wetterspektakel verschont geblieben. Dass viele Spiegel in der Stadt zugefroren sind, ist noch ein viel größeres Rätsel, welches sich die Medien nicht erklären können. Die Menschen streiten sich in den Supermärkten um die Lebensmittel und im Rathaus hat es sogar eine kleine Schlägerei gegeben.

»Die Liebe scheint aus den Herzen der Menschen zu verschwinden«, sagt Mutter Maring nachdenklich.

»Allerdings wird mit keinem einzigen Wort in den Nachrichten erwähnt, dass jemand sein Werkzeug oder das Besteck vermisst«, fügt der Vater hinzu und geht in der Küche auf und ab. »Vielleicht ist da ja doch etwas dran an der Story von diesem Kasimir. Was haltet ihr davon, wenn ich jedem von Euch zwei Kraftgegenstände wiedergebe? Mit Ausnahme der magischen Feder und des Adventskalenders. Ich weiß wie mächtig die beiden Dinger sind und ich will immer noch nicht, dass ihr die Erde ohne uns verlasst. Das hört sich so seltsam an«, sagt ihr Vater und kratzt sich am Kopf. »Ihr findet heraus, wo das Werkzeug ist und das Besteck, warum sich die Leute streiten und was es mit dem Wetterchaos auf sich hat. Danach gebt ihr sie wieder zurück. Einverstanden?«

»Wir müssen ganz schön viel herausfinden. Trotzdem ist das ein guter Deal«, lächelt Paolo.

»Ich bin auch einverstanden«, freut sich Lara.

»Gut«, grunzt Thomas.

»Wurde ja auch endlich Zeit«, bemerkt Lanzelot.

Ihr Vater verschwindet im Keller und kommt mit einem Beutel voller Kraftgegenstände zurück in die Küche. Dort kippt er den Inhalt auf den Küchentisch.

Paolo nimmt sich das Schutzamulett und seine geliebte Luminova-Aufspürbrille. Lara legt sich ihre Lavahalskette um den Hals, legt die Übersetzerohrringe wieder an und nimmt auch das halbfertige Unsichtbarkeitswasser an sich.

Eine halbe Stunde später sitzen Lara und Paolo auf der Matratze und schmieden Pläne.

»Immerhin haben wir jetzt unsere Kraftgegenstände zurück, das ist doch ein guter Anfang«, meint Paolo.

»Womit starten wir?«

»Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal um das Besteck kümmern?«

»Einverstanden.«

»Dabei wird uns das hier sicher helfen«, lächelt Lara und zeigt Paolo das Fläschchen mit dem halbfertigen Unsichtbarkeitswasser. »Es ist bestimmt sicherer, wenn wir uns unsichtbar auf die Lauer legen. Man kann ja nie wissen.«

Nach der Schule stimmen Lara und Paolo die Einzelheiten ab, um herauszufinden, wo sich das Besteck befindet. Ihr Plan ist denkbar einfach und erinnert Paolo an vergangene Weihnachten. Sie wollen sich einfach in der kommenden Nacht in der Küche auf die Lauer legen und beobachten, was dort vor sich geht.


4. Kapitel - fliegendes Besteck

Mitten in der Nacht liegen vier, bis zur Hälfte unsichtbare Gestalten unter dem Küchentisch. Aufgrund der Nebenwirkungen des halbfertigen Unsichtbarkeitswassers ist Lanzelot nicht vollständig unsichtbar geworden. Seine Hasenläufe sind leider noch zu sehen. Bei Thomas sind die Augen sichtbar geblieben. Bei Paolo die Hände und bei Lara sieht man noch die Haare. Wenn die vier hintereinander herlaufen, sehen sie zusammen wie eine echte Gruselgestalt aus.

»Ich halte zuerst Wache«, sagt Lanzelot.

Paolo schaut auf die Hasenläufe.

»Ich weiß nicht. Du schläfst doch immer ein.«

»Ich schlafe nicht ein. Niemals!«, beschwert sich Lanzelot.

»Gib ihm eine Chance«, bittet Lara ihren Bruder.

»Na gut, einverstanden«, stimmt Paolo brummig zu. Sie haben sich noch ein paar Decken geholt, damit es unter dem Küchentisch einigermaßen bequem ist.

»Um Mitternacht weckst du mich auf jeden Fall auf. Ich übernehme die zweite Schicht«, erklärt Paolo dem Hasen.

»Warum du?«

»Wieso denn nicht?«

»Keine Ahnung.«

»Tu einfach, was Paolo sagt«, mischt sich die fast unsichtbare Lara in die Diskussion ein und ihre Haare wippen dabei lustig auf und ab.

»Nur wenn du es mir befiehlst«, sagt Lanzelot aufmüpfig.

»Also gut. Das ist ein Befehl!«, kichert Lara.

»Okay Paolo, ich wecke dich um Mitternacht auf. Moment, wie weiß ich denn, wann Mitternacht ist?«, fragt Lanzelot und kratzt sich zwischen den Ohren, was natürlich keiner sehen kann.

»Siehst du die Küchenuhr da oben?«

»Klar, sehe ich die. Ah, gut, ich habe verstanden. Kann also losgehen. Sobald die Diebe auftauchen, schlage ich Alarm!«

»Nein, du sollst uns einfach nur leise aufwecken und keinen Alarm schlagen«, erklärt ihm Paolo eindringlich. Er hat ihm schon zum gefühlt hundertsten Mal erklärt, wie das Ganze ablaufen soll, aber Lanzelot will es einfach nicht verstehen.

»Habs kapiert. Wenn das Besteck sich vom Acker machen will, dann kracht es gewaltig«, sagt Lanzelot. Paolo verdreht die Augen. Er ist sich absolut sicher, dass der kleine Hase überhaupt nicht verstanden hat, worum es eigentlich geht. Tatsächlich rechnet er damit, dass Lanzelot mitten in der Nacht das ganze Haus zusammentrommeln wird. Mit einem komischen Gefühl im Magen legt sich Paolo aufs Ohr.

Paolo kann eine ganze Weile nicht einschlafen. Zu viele Gedanken spuken in seinem Kopf herum. Gibt es tatsächlich Besteckdiebe? Und werden sie heute Nacht wieder kommen, um das Besteck zu stehlen? Alles ist fast genauso wie vor einem Jahr, nur dass es dieses Mal wahrscheinlich keine Pauwdiejagd ist, sondern sich hundertmal gefährlicher anfühlt. Die Luminova-Aufspürbrille liegt griffbereit neben ihm und er hat sich vorgenommen, Lanzelot nicht aus den Augen zu lassen. Er traut dem Hasen nicht. Lanzelot wollte schon auf Ganesha immer Wache halten und ist jedes Mal eingeschlafen. Paolo will durchhalten aber schließlich, eine Stunde vor Mitternacht fallen ihm dann doch die Augen zu.

Ein Geräusch lässt Paolo aufschrecken. Es ist Lanzelot, aber er schlägt keinen Alarm, sondern schnarcht wie ein kleines Murmeltier.

»Oh nein, ich habe es gewusst«, wettert Paolo in Gedanken mit sich selbst. Er stupst in Richtung des Geräuschs und Lanzelot verstummt. Der Hase rollt sich auf die Seite und schläft mit schweren Atemgeräuschen einfach weiter.

»Na prima!«

Paolo tastet nach der Aufspürbrille, streift sie sich über und schaut hoch zur Küchenuhr. Es ist kurz nach halb Drei! Die Aufspürbrille fühlt sich ungewöhnlich kalt an und Paolo muss an Laras Lavahalskette denken, die auf dem Küchenboden festgefroren war. Hoffentlich friert die Brille nicht in seinem Gesicht fest! Die Kälte scheint nicht nur die Stadt fest in ihrem Griff zu haben, sondern weitet sich auch auf die Kraftgegenstände aus.

Paolo schwört sich, dass er Lanzelot nie wieder Wache schieben lässt, dann bekommt er mit, wie sich plötzlich die Kühlschranktür öffnet. Paolo verhält sich mucksmäuschenstill und rührt sich keinen Millimeter vom Fleck. Mit Hilfe der Aufspürbrille versucht er, etwas zu erkennen. Leider ist das eine Fehlanzeige. Er sieht überhaupt nichts. Die Kühlschranktür steht sperrangelweit offen und Paolo traut sich nicht, sich zu bewegen. Zu groß ist seine Angst. Zum Glück ist er bis auf seine Hände unsichtbar und kann so fast nicht entdeckt werden. Er beobachtet wie ein Stück Käse aus dem Kühlschrank heraus schwebt und blitzschnell aus der Küche hinausfliegt.

Hat der Käse etwa einen Raketenantrieb? Paolo schaut sich um, kann aber nichts weiter entdecken. Plötzlich geht eine Schublade des Küchenschranks auf. Eine der neuen Gabeln schwebt heraus und fliegt auch in einem Höllentempo aus der Küche hinaus. So geht das noch eine ganze Weile. Messer, Gabeln und ab und zu auch etwas aus dem Kühlschrank.

»Es gibt gar keinen Dieb, sondern das Besteck haut in der Tat einfach von alleine ab«, zieht Paolo seine Schlüsse in Gedanken.

Was soll er tun? Aus seinem Versteck herausspringen, um das Besteck aufzuhalten? Nein, das traut er sich nicht. Das hier ist schon etwas anderes als die Geschichte mit den kleinen Kartoffelwesen. Was ist, wenn eins der Messer auf ihn losgeht? Als Nächstes schwebt die Schere aus der Schublade und schwirrt davon. Paolo muss dringend etwas unternehmen. Das ist doch der Grund, warum sie hier sind. Er wird Lara aufwecken. Vielleicht weiß sie, was zu tun ist. Paolo wendet langsam den Kopf und achtet darauf, kein Geräusch zu verursachen. Lara schläft tief und fest neben ihm. Paolo bekommt einen riesen Schreck, als er bemerkt, dass Lara nicht mehr unsichtbar ist. Das halbfertige Unsichtbarkeitswasser hat bei ihr schon seine ganze Wirkung verloren. Würde ein Löffel oder eine Gabel jetzt Richtung Tisch schauen, dann würden sie Lara ganz gewiss entdecken. »Was für ein verrückter Gedanke. Essbesteck hat keine Augen. Aber warum eigentlich nicht? Was hat seine Oma Luise immer gesagt: Man sieht das, an was man glaubt. Wir nehmen die Welt oft deshalb falsch wahr, weil wir sie hauptsächlich durch unsere Augen wahrnehmen, anstatt mit unseren Herzen«, erinnert sich Paolo und dann schließt er seine Augen. Er atmet tief ein und aus, so wie er es von Lara gelernt hat und spürt in sein Inneres hinein. Das macht er ein paar Mal. Er hört, wie sich das Besteck weiterhin vom Acker macht, aber mit einem Mal vernimmt Paolo auch noch ein anderes, viel leiseres Geräusch. Es klingt wie ein Glöckchen. Er öffnet die Augen und sieht einen Löffel vorbeiflitzen. Aber er fliegt nicht von alleine, sondern wird von etwas getragen. Etwas, das Paolo vorher nicht gesehen hat. Vielleicht, weil er es einfach nicht für möglich gehalten hat oder schlichtweg nicht daran geglaubt hat.

»Was ist das?«, fragt Paolo erstaunt und merkt zu spät, dass er laut gesprochen hat. Der Löffel macht eine Kehrtwende und rast nun in seine Richtung. Plötzlich klatscht das fliegende Etwas voll gegen das Tischbein. Der Löffel fällt auf den Boden und das kleine Wesen torkelt leicht benommen in der Luft herum, bis es sich wieder von dem Aufprall erholt hat. Dann bleibt es wie eine Libelle unmittelbar vor Laras Kopf in der Luft stehen.

 

Paolo hält den Atem an. »Eine Elfe«, denkt er. Die fast durchsichtigen Flügel schlagen wahnsinnig schnell und verursachen das kaum vernehmbare Glöckchenklingeln. Der Körper der Elfe sieht aus wie der einer jungen Frau. Sie trägt ein silbernes, kurzes Kleid, auf dem wunderschöne Schneekristalle in verschiedenen Größen und Formen glitzern. Ihr Haar ist weiß wie Schnee und auf ihrer Stirn wächst bereits eine große Beule, die von dem Aufprall gegen das Stuhlbein herrührt. Sie hat die Augen weit aufgerissen und ist offensichtlich erstaunt oder sogar erschrocken darüber, Lara hier zu sehen.

In Nullkommanix fliegt die kleine Elfe zum Löffel, hebt ihn auf, steuert auf den Kühlschrank zu wobei sie noch Schwierigkeiten hat, eine gerade Flugbahn zu finden. So als wäre sie leicht betrunken, düst sie im Zickzackkurs durch die Küche.

»Ojemine! Sie sind hier«, spricht sie mit einer wohlklingenden Mädchenstimme. Aber Paolo kann nur die Elfe hören und sonst nichts. Spricht sie mit sich selbst oder gibt es noch andere unsichtbare Wesen? Er liegt immer noch in seinem Versteck und rührt sich nicht von der Stelle. Jetzt beobachtet er, wie die Elfe die Kühlschranktür zuschiebt. Die Aufspürbrille wird unterdessen immer kälter und schmerzt bereits auf Paolos Gesicht.

»Ich muss mich beeilen! Beeilen. Beeilen«, summt die kleine Elfe und die Kühlschranktür schwingt zu. RUMMS!

Dann schwirrt die Elfe mit dem Löffel Richtung Ausgang und das ist der Moment, in welchem Paolo die Brille absetzen muss, weil sie eiskalt wird. Plötzlich ist es stockfinster und so sehr Paolo sich auch anstrengt, er kann überhaupt nichts mehr erkennen. Trotzdem steht er auf und will der Elfe folgen. Paolo tastet sich in der Dunkelheit voran und erreicht den Küchenausgang. Sein Herz schlägt ihm hoch bis zum Hals. Paolo ist sehr aufgeregt. Er lauscht und hört, wie der Klang der Glöckchen der kleinen Elfe leiser wird. »Sie ist nach oben geflogen«, denkt Paolo, als er versucht, das Geräusch zu orten. Paolo erreicht die Treppe und geht Stufe für Stufe nach oben. Seine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit und so kann er schon wieder Umrisse erkennen. Er kommt im ersten Stock an und lauscht erneut. Ganz leise kann er die Glöckchen ein letztes Mal hören und dann verstummen sie ganz. Wenn sich Paolo nicht täuscht, dann ist die Elfe hoch auf den Dachboden geflogen. Er wartet noch einen Augenblick ab. Es ist nun ganz still geworden im Haus und so entschließt er sich, erst einmal Lara und die anderen zu wecken.

»Bin ich schon dran mit Wache halten?«, fragt Lara müde und gähnt.

»Nicht nötig. Ich habe ihn schon gesehen.«

»Wen gesehen?«

»Den Dieb«, plappert Paolo.

Ruckartig richtet sich Lara auf.

»Wo bist du denn?«

»Hier«, flüstert Paolo und macht die Taschenlampe an.

»Oh je, ich bin ja gar nicht mehr unsichtbar«, stellt Lara erschüttert fest.

»Dafür ist die Elfe unsichtbar. Beziehungsweise, das war sie. Jetzt ist sie es nicht mehr.«

»Elfe? Unsichtbar? Was erzählst du denn da?«

Und dann erklärt Paolo seiner Schwester in Kurzfassung, was er alles beobachtet hat. Und wie er geatmet und sein Herz geöffnet hat und dass dadurch die Elfe sichtbar wurde.

»Du hast dein Herz geöffnet?«

»Na ja, ich habe es mir vorgestellt. Auf jeden Fall ist die Elfe geflüchtet. Ich glaube, sie ist sehr schüchtern oder sie hatte Angst entdeckt zu werden«, schließt er seinen Bericht ab.

»Vor wem?«

»Vor dir. Vor uns. Ich weiß nicht so genau.« Mittlerweile sind auch Lanzelot und Thomas aufgewacht.

»Was ist passiert? Ist Paolo wieder eingeschlafen?«, beschwert sich Lanzelot direkt. Paolo schaut den kleinen Hasen wütend an, aber dann wird sein Blick wieder sanft. Er kennt Lanzelot seit über einem Jahr und weiß, wie lieb der Hase im Grunde ist. Eigentlich können sich die beiden nicht ausstehen, trotzdem hat er ihn irgendwie gern.

»Paolo hat den Dieb auf frischer Tat ertappt«, erklärt Lara den beiden Stofflebewesen.

»Wo ist er?«

»Fort«, sagt Paolo.

»Du hast den Dieb entwischen lassen?«, motzt Lanzelot ihn an.

»Lanzelot, wir haben alle noch geschlafen«, beruhigt Lara den Hasen.

»Müde«, grunzt Thomas.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt Lanzelot.

»Sie versteckt sich bestimmt noch irgendwo im Haus«, überlegt Lara.

»Ich weiß wo. Sie ist auf dem Dachboden.«

»Hast du sie mit der Aufspürbrille gefunden?«

»Nein, die Aufspürbrille ist so eiskalt geworden, dass ich sie absetzen musste.«

»So wie bei der Lavahalskette. Sie wurde auch frostig. Das liegt bestimmt an der Störung des Magiegleichgewichts«, ergänzt Lara. »Aber woher weißt du denn dann, wo sie jetzt ist?«

»Ich bin einfach dem Klang der Glöckchen gefolgt. Kommt mit!«

Kurz darauf befinden sich alle eine Etage höher und Paolo leuchtet mit der Taschenlampe in das schwarze, rechteckige Loch über ihnen, das hinauf zum Speicher führt. Er steigt die Treppe als erster hoch, gefolgt von Lara, Lanzelot und Thomas. Die Tür steht tatsächlich einen spaltweit offen. Paolo war schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf dem Dachboden. Er schiebt die Tür auf und dann betreten sie das oberste Stockwerk des Hauses.

»Ziemlich kalt hier«, stellt Paolo fest.

»Schau mal, da hängen sogar Eiszapfen«, flüstert Lara und gibt Paolo einen Stoß in die Rippen.

Sie blicken sich um. Die vier stehen mitten in der Museumskammer von Familie Maring. In Kisten und in löcherigen Schränken drängeln sich Generationen zersprungener Spiegel, farbiger Tücher, bemalter Leinwände, klobiger Holzrahmen, Bücher, Schallplatten, Mäntel, Hüte, Kleider und Anzüge aus alten Zeiten. Vasen und Geschirr stehen auf dem Boden, ein kaputter Holzschlitten lehnt an der Wand und Dinge, dessen Name Paolo nicht einmal kennt, tummeln sich in Regalen oder ruhen in dunklen Ecken. Das Licht der Taschenlampe strahlt durch die Reihen uralter Sachen. Neben einem hohen Kleiderständer, an dem ein brauner Wollschal lässig herunterbaumelt, steht eine dunkle Eichentruhe. Sie gehörte Oma Luise.

»Wir brauchen Jahre, um das alles zu durchsuchen!«, flüstert Paolo und seine Knie zittern vor Kälte.

»Paolo!«

»Was ist?«

»Leuchte mal dort hinüber, ich glaube, da war etwas.«

Paolo schwenkt den Lichtkegel der Taschenlampe nach links.

»Das ist nur ein alter verstaubter Mantel. Mehr nicht!«, sagt Paolo, doch kaum hat er es ausgesprochen, da erwacht der Mantel zum Leben. Paolo lässt vor Schreck die Taschenlampe fallen. Sie kullert einen halben Meter zur Seite und bleibt liegen. Alle stehen da und rühren sich nicht vom Fleck. Der Mantel hängt im Schatten, aber Paolo kann trotzdem sehen, dass er sich bewegt. Plötzlich huscht etwas über den Dachboden. Ein Schatten springt in die Luft und dann rumpelt es zu ihrer Rechten. Etwas plumpst auf den Boden und schließlich sieht Paolo die Ursache für die ganze Aufregung. Es ist Kater Jojo, der neben Oma Luises Truhe sitzt und die Geschwister aus leuchtenden Augen anschaut. Paolo befreit sich aus seiner Starre und hebt die Taschenlampe wieder auf.

»Jojo, was hast du denn hier oben verloren? Papa fängt die Mäuse auf dem Dachboden und nicht du«, scherzt Lara.

Die Geschwister gehen auf Zehenspitzen zu dem grau, schwarz gestreiften Kater und umrunden dabei ein Regal. Erstaunt bleiben sie stehen. Vor ihnen türmt sich ein ganzer Berg Besteck und Werkzeug auf. Hier sind die ganzen verschwundenen Sachen also gelandet! Plötzlich huscht etwas davon. Jojo kann es dieses Mal nicht gewesen sein, denn er sitzt neben Paolo und schaut verdutzt in die gleiche Richtung.

Es ist die kleine Elfe. Sie fliegt blitzschnell heran, landet auf Oma Luises geöffneter Truhe, zieht etwas heraus und will damit abhauen. Lara und die anderen beiden scheinen nichts davon mitzubekommen. Nur Kater Jojo rührt sich, springt in Richtung Truhe und die Elfe lässt das Ding erschrocken fallen und schwirrt davon.

»Da ist sie!«, ruft Paolo.

»Wo?«, fragt Lara, die zur Truhe schaut.