Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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Z serii: Classica Monacensia #51
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Auf diese Weise bietet Euripides ein Bild von Freiheit und Würde desjenigen, der den Mut hat, sich in der Blüte seines Lebens für die anderen aufzuopfern. Das Bild einer jungen Frau, die gegen ihren Willen gequält und geopfert wird, wie es Aischylos dargestellt hatte, ist bei Euripides undenkbar. Das von diesem letzten Tragiker angebotene Bild des freiwilligfreiwilligen Opfers entwickelt sich44 im Laufe der Jahre45. Die Analyse der folgenden Beispiele von Makaria, Polyxena, Menoikeus und Iphiginie sollen helfen, dieses Themas besser zu verstehen.

 1) Makaria

In Die Herakliden erwartet Herakles’ Tochter Makaria nichts Gutes vom Leben, weil nur Schande und Knechtschaft ihre Zukunft bilden. Deswegen zieht sie vor, sich freiwillig46 hinzugeben, geopfert zu Gunsten ihrer Geschwister.

Schmitt meint, „es sieht fast aus, als habe Eur[ipides] diese Szene erst nachträglich eingesetzt“47; das heißt, dass die Handlung auch ohne diese Opferung verstanden werden kann.

 2) Polyxena

In der Hekube betitelten Tragödie schildert Euripides eine Polyxena, die vor ihrer Zukunft nicht flüchten kann; in der Tat hat ihr Tod unter den vier hier beschriebenen Opfern den geringeren Wirkungskreis48, weil er eigentlich unausweichlich war. Mit ihrer Annahme aber gibt sie dem Unvermeidbaren einen neuen Sinn. Schmitt denkt, „Eur. hat aus innerstem Bedürfnis hier das Moment der Freiwilligkeit in die alte Sage von Polyxenas Opferung eingeführt, weil ihm eine jammernde und willenlos leidende Polyxena unerträglich gewesen wäre“49; möglicherweiser wollte Euripides eine ganz andere Perspektive anbieten als Sophokles, der angeblich auch dieses Motiv behandelt hat.

Im Gegensatz zur vorhergehenden Tragödie findet die Szene des freiwilligfreiwilligen Opfers in der Handlung des Dramas Hekube einen geeigneteren Platz.

 3) Menoikeus

Der dritte Fall, der von Menoikeus50, der in Die Phönikerinnen aufgeführt wurde, unterscheidet sich von den vorigen insofern, als Kreons Sohn fliehen und ganz ruhig in einer anderen Stadt leben könnte; der junge Prinz aber zieht einen ehrenvollen Tod vor, um nicht nur seine Geschwister, sondern die ganze πόλις zu befreien. Darüber hinaus wird er sich selbst, und nicht ein anderer ihm, das Leben nehmen. Aélion meint, „des Héraclides aux Phéniciennes, le thème du sacrifice volontaire s’est précisé et, en quelque sorte, raffiné; les motifs sont de moins en moins personnels, de plus en plus élevés“51.

Schmitt52 denkt, dass die Szene des Todes, wie im Fall von Die Herakliden, überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, um die Handlung des Werkes problemlos zu verstehen.

Menoikeus’ Beispiel fügt sich zu den bekannten Fällen eines Generationenfluchs in ThebenTheben, von dem weiter unten gesprochen wird53. Meiner Meinung nach ist Schmitts Behauptung übertrieben: Sie glaubt, dass Euripides in diesen Episoden „mit besonderer Vorliebe heranwachsende Knaben zu Helden seiner Dramen gemacht hat“54: Die Fälle von Makaria, Polyxena und Iphiginie widerlegen dies.

 4) Iphiginie

In Iphigenie in Aulis ist es Agamemnon selbst, Iphiginies Vater, der seine Tochter hingibt, damit sie geopfert wird. In den übrigen Fällen stellt sich die Familie der Opferung entgegen. Zwar weigert sich Iphigenia am Anfang, ihr Leben auf diese Weise zu verlieren; am Ende aber gibt sie es selbst freiwilligfreiwillig hin, aus der Überzeugung heraus, dass sie diejenige ist, „celle qui libère la Grèce, celle qui lui donne la victoire et le salut“55.

In dieser Tragödie, wie in der frühesten der überlieferten – Alkestis –, ist das Thema des freiwilligen Opfers das Hauptmotiv des Dramas. Und wie im Fall von Polyxena ist es wahrscheinlich, dass Euripides derjenige gewesen ist, der das Merkmal der ‚Freiwilligkeit‘ beim Opfertod der Heldinnen, das in der üblichen Tradition keinen Platz hatte, eingeführt hat.

Der Unterschied zwischen Euripides und Aischylos bei diesem Thema ist unüberbrückbar. Aischylos hatte in seinem Agamemnon dargestellt, wie Iphiginie gegen ihren Willen geopfert wurde, indem sie heftigen Widerstand leistete: Sie wurde eigentlich wie ein Tier geopfert. Euripides’ Vorstellung von Iphiginie, die am Anfang die Opferung ablehnt, sie aber am Ende freiwillig annimmt56, konnte von traditionellen Werten beeinflusst worden sein: „Zudem war der Zwang der Tradition, die eine jammernde Iphigenie forderte, doch wohl zu stark und auch diese zur Erregung des ἕλεος so geeignete Situation zu verlockend, als daß Eur. sie ganz hätte beseitigen können“57. Darüber hinaus denkt Schmitt, dass die Motivierung der Opferung so schwach ist wie in Die Herakliden.

Valgiglio, der auch Alkestis unter diese Gestalten einschließt, meint, dass diese Reihenfolge von früh Verstorbenen nach einem chronologischen Kriterium und dem Charakter der Person in zwei Gruppierungen eingeteilt werden könnte. Zum ersten Zeitabschnitt würden Alkestis, Makaria, Polyxena und vielleicht Phrixos58 gehören; zum zweiten59 Erechtheus Tochter, Menoikeus und Iphiginie. Dieser Wissenschaftler erläutet seine Merkmale: „Le morti del primo periodo sono caratterizzate da un ristretto raggio d’azione e da un’ispirazione profondamente umana, mentre quelle del secondo periodo estendono il raggio d’azione, ma perdono in intensità umana“60. Valgiglio vermutet, dass die Darstellung der drei letzten Gestalten dem Peloponnesischen Krieg geschuldet sind.

Schließlich und endlich könnte man behaupten, dass das Menschenopfer bei Aischylos eine barbarische, sträfliche Tat ist; im Gegensatz dazu, „en transformant ainsi les sacrifices imposés des mythes en sacrifices consentis ou volontaires, Euripide les a dépouillés de ce qui les rendait condamnables“61. Euripides’ Patriotismus hat ihn möglicherweise dazu gebracht, diese Vorstellung des Menschenopfers zu verändern: Die Ehre von AthenAthen – und demnach von ganz HellasHellas – spielt darin eine große Rolle.

Wenn die Götter schmerzliche und sinnlose Proben forden, fällt die Antwort jedes Tragikers anders aus: Aischylos glaubt, dass die göttliche Gerechtigkeit den Menschen durch das Leid erziehen will; Euripides aber glaubt, dass der Mensch sich selbst allein retten kann, wenn er sein Schicksal freiwilligfreiwillig annimmt. Letztlich kann man behaupten, dass Euripides dieses Themas geschaffen hat, um sich von Aischylos zu unterscheiden.

Abgesehen von der Opferung gibt es auch andere Folgen von Inos Intrige.

C) PhrixosPhrixos’ und Helles FluchtFlucht

Bevor Nepheles Kinder am Opferaltar stehen, fliehen sie vor den verbrecherischen Absichten ihrer Verwandten. Die Mehrheit der Textstellen sind schon in dem der anonymen Stiefmutter gewidmeten Abschnitt dargestellt und viele von ihnen gehören zur Chronographie: Pi. P. IV 161–162PindarP. IV 161–1621; Herodor. (FGrHistHerodorosFGrHist. 31 F 38.) 31 F 382; Dionys.Scyt. Frg. 24 RustenDionysios SkytobrachionFrg. 24 Rusten; Heracl.Par. XXIVHerakleitos ParadoxographHeracl.Par. XXIV3; Eus. Chron. 50b, 12–20 HelmEusebios von CaesareaChron. 50b, 12–20 Helm; Hieron. Interp. Chr. EusHieronymusInterp. Chr. Eus. 635. 635; Isid. Etym. XIII 16, 8Isidor von SevillaEtym. XIII 16, 8; Comest. Hist. ScholPetrus ComestorHist. Schol. 1275d. 1275d; Roder. Breu. Hist. Cath. IV 28Rodrigo Jiménez de RadaBreu. Hist. Cath. IV 28; Bad. Part.Cat. II 1074; III 160–185BadiusPart.Cat. II 1074BadiusPart.Cat. III 160–185.

D) Eine Verbindung mit der I-L-M-Version

In einem Text werden die tragischen Erlebnisse von Ino, Learchos und Melikertes durch die I-P-H-Version veranlasst, genauer noch durch die Entdeckung von Inos Komplott durch Athamas. So kann man es in Philostephanos (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37 37) lesen.

Mit dieser Perspektive sind auch drei andere Texte in Verbindung gebracht: In Zen. Vulg. IV 38ZenobiosVulg. IV 38 schließt sich die I-L-M-Version mit der I-P-H-Version als eine Folge zusammen; in Hyg. Fab. IIHyginusFab. II und in Val.Flac. I 280Valerius FlaccusVal.Flac. I 280 ist die Verbindung nur zeitlich.

E) Der Wahnsinn

Diese Kontamination – wenn man es so ausdrücken darf – der I-L-M-Version mit der I-P-H-Version entsteht aus der Rolle des Gottes DionysosDionysos und man kann sie in drei Texten finden1. In der Hypothesis der zweiten Phrixos von Euripides wird berichtet, dass DionysosDionysos Phrixos und Helle zu einem Wüstenort führt, damit sie dort von den Mänaden getötet werden. In Hyg. Fab. IIIHyginusFab. III und im Schol. in Germ. Arat. S 142, 8 BreysigScholia zu GerrmanicusSchol. in Germ. Arat. S 142 Breysig wird nur von dem Wahnsinn gesprochen, den Dinoysos Nepheles Kindern schickte.

F) Inos Verfolgung

Obwohl die Flucht vor dem Opferaltar und die anschließende Verfolgung durch Ino nicht ausgeschlossen werden können, wird nur diese letzte Idee in Val.Flac. V 184–189Valerius FlaccusVal.Flac. V 184–1891 und M.V. II 157Mythographi VaticaniM.V. II 157 dargestellt.

G) Das Verlassen im Meer

Im Schol. in Hes. Th. 993a Di GregorioScholia zu HesiodSchol. in Hes. Th. 993a Di Gregorio ist die Folge des Komplotts von Ino eine besondere Bestrafung: Phrixos und Helle werden dem MeerMeer preisgegeben1.

 

I.3.5 Athamas’ Haltung zum Opfer

Bevor der Akt des Opfers untersucht wird, soll Athamas’ Haltung zur Bitte des falschen Orakels bezüglich des Todes seiner Kinder untersucht werden. Der Aiolide benimmt sich nicht in allen Texten gleich: seine Haltung schwankt zwischen der Konspiration gegen seine eigenen Kinder und der totalen Zurückweisung der Opferung seines Kindes Phrixos.

A) Athamas ersinnt den Tod von Phrixos (und Helle)

Zwei Texte, die auch als die ältesten gelten, stellen einen gegen Phrixos (und Helle) feindseligen und hinterlistigen Athamas dar. Auffällig ist, dass die erste Einstellung des Aioliden seinen Kindern gegenüber aktiv und feindlich ist. Diese Haltung ändert sich allmählich in der Literatur: von einer negativen Bereitwilligkeit, sein(e) Kind(er) zu opfern, denn er ersinnt und plant ihren Tod, bis zum 1. Jh. n. Chr.; ab diesem Zeitpunkt weigert er sich heldenmütig, seinen Sohn zu opfern, so dass dieser sich freiwilligfreiwillig hingeben wird und für das Vaterland sterben muss.

Der erste Text ist Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 197; die Passage deutet an, Ἀθάμας ὁ Αἰόλου ἐμηχανήσατο Φρίξῳ μόρον σὺν Ἰνοῖ βουλεύσας. Nichts wird vom Motiv gesagt. Der zweite Text ist Palaeph. XXXPalaiphatosPalaeph. XXX, wo Athamas sich wünscht, wie in der früheren Textstelle, Phrixos, und in diesem Fall auch Helle, am Opferaltar darzubringen.

B) Athamas stimmt der Opferung zu.

In diesem Absatz hat der Aiolide keine Animosität seinen Kindern gegenüber, aber, wenn er das Orakel hört, das die Opferung seines Kindes bzw. seiner Kinder fordert, zögert er überhaupt nicht, sie zum Opferaltar zu führen. In all diesen Passagen gibt es ein allgemeines Merkmal: Athamas lässt Phrixos und Helle von dem Ort holen, wo sie auf die Herde aufpassten.

Die erste Episode wird in Philostephanos (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37 37) berichtet, dessen Text in diesem Punkt mit dem Schol. in Lyc. Alex. 22 ScheerScholia zu LykophronSchol. in Lyc. Alex. 22 Scheer übereinstimmt. Bei Philostephanos steht auch eine Ausrede, damit Phrixos nicht misstraut: πρόφασιν δὲ αὐτὸν ἐκέλευσεν ἄγειν ὅ τι κάλλιστον πρόβατον ἐν τοῖς θρέμμασιν εἰς ἱερουργίαν ὑπάρχει. In der Textstelle von Eudoc. 25 D’AnsseEudokiaEudoc. 25 D’Ansse1 hat Athamas die gleiche Haltung; der Unterschied liegt darin, dass er nicht nur gegen Phrixos, sondern auch gegen Helle intrigiert.

Im Schol. in A. Pers. 70–72 Massa PositanoScholia zu AischylosSchol. in A. Pers. 70–72 Massa Positano lässt man sie mit einem Auftrag von der Herde holen: Ἀθάμαντος οὖν μεταπεμπομένου αὐτοὺς ἐκ τῶν ποιμνίων καὶ προστάττοντος κριὸν μετ’ αὐτῶν ἀγαγεῖν. Im Gegensatz zu Philostephanos wird das Mitbringen des Widders nicht als Ausrede betrachtet. Im Schol. rec. in A. Pers. 70 DindorfScholia zu AischylosSchol. rec. in A. Pers. 70 Dindorf wird Athamas’ Gehorsam dem Orakel gegenüber hervorgehoben. Darüber hinaus ist es der einzige Text, in dem gesagt wird, zu welcher Ehre der WidderWidder angeblich geopfert worden sei. Zuletzt ist noch das Schol. in Lyc. Alex. 1285 ScheerScholia zu LykophronSchol. in Lyc. Alex. 1285 Scheer zu erwähnen, das sich von den anderen Scholien stark unterscheidet. In diesem Scholion lässt Athamas Phrixos und Helle nicht direkt vom Land holen, sondern er beauftragt sie, zur Schafherde zu gehen und einen besonderen Widder zu holen. Das Scholion lässt Zweifel offen, ob diese Haltung positiv ist, da er seinen Kindern ein Hilfsmittel anbietet, oder ob alles zufällig geschah.

C) Athamas gibt auf wegen des Druckes

Wenn im letzten Absatz Athamas dem Orakel blind gehorcht und es nicht in Frage stellt, findet man in dieser Abteilung einen Athamas, der dem Orakel gegenüber widerspenstig ist, obwohl er am Ende wegen des Druckes aufgibt.

Der erste Autor, der einen gnadenlosen, aber am Ende resiginierten Athamas zeigt, ist Apollodor (I 9, 1)ApollodorosApollod. I 9, 1. Der folgende Text ist lateinisch, Ou. Fast. III 859OvidFast. III 859–860. Ovid stuft den Druck mit Geistesschärfe in einer Reihenfolge ein, umgekehrt proportional zu Athamas’ Nähe und Wichtigkeit, aber direkt proportional zum Druck jedes ‚Teiles‘1: usque recusantem ciues et tempus et Ino / compulerunt regem iussa nefanda pati. Darüber hinaus wird zum ersten Mal gesagt, dass sich Athamas wiederholt weigert, den grausamen Befehl durchzuführen, was man im Aspekt des Verbs recusantem sehen kann. DieMythographi VaticaniM.V. I 23 M.V. I 23 stellen einen Athamas dar, der vor dem Hass des Volkes Angst hat, weswegen er – auch angesichts der Bösartigkeit seiner neuen Frau – seine Kinder hingeben muss. In M.V. II 157Mythographi VaticaniM.V. II 157 fällt der zweite Teil weg, der auf das Rettungsmittel hinweist.

D) Athamas wird überzeugt

In drei Textstellen wird Athamas überzeugt, den Opfertod auszuführen. So kann man es in Zen. Vulg. IV 38ZenobiosVulg. IV 38 lesen. Zwar nennt der Text Ino nicht, weil er nur auf die Figur von Athamas achtet, aber Ino ist die ‚überzeugende‘ Frau des ganzen Textes: Sie überredet die Frauen und die nach Delphi geschickten Boten. Es ist auch denkbar1, dass Ino auch Athamas überzeugte, seine Kinder umzubringen. In Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20 wird Athamas im zweiten Teil der Textstelle, bei der es um Potiphars Thema geht, von seinem Bruder Kretheus überzeugt, der gleichzeitg von seiner Frau Demodike bzw. Biadike überredet worden war. Die Glosse Tz.Comm. Ar. Nu. 256a HolwerdaScholia zu AristophanesTz.Comm. Ar. Nu. 256a Holwerda ist der einzige Text, in dem Athamas von seiner Frau Ino explizit überzeugt wird.

E) Athamas weigert sich

Nur in einem Text (Hyg. Fab. IIHyginusFab. II) kann man einen starken Athamas sehen, der fähig ist, bis zum Ende durchzuhalten und seinen Sohn nicht dem Tod zu übergeben. So beharrlich ist er, dass sein Sohn sich freiwilligfreiwillig hingeben muss, damit der Urteilsspruch des Orakels erfüllt wird. Die spontane Hingabe von Phrixos erinnert den Leser sofort an Pherekydes’ Passage nach dem Schol. in Pi. P. IV 288a DrachmannScholia zu PindarSchol. in Pi. P. IV 288a Drachmann; der Opferwille von Phrixos wird in diesem Scholion vom Motiv der verliebten Stiefmutter eingerahmt. In Hygins Fabel wird das ganze übliche mythische Schema der Sage durch die unerwartete Enthüllung von Phrixos’ Tod durch den Diener zerbrochen.

F) Nichts wird gesagt

Fünf Texte gibt es, in denen man von Athamas’ Haltung zum Opfer seiner Kinder nichts erraten kann. In A.R. III 191Apollonios von RhodosA.R. III 191 wird nur Athamas’ Opferung angedeutet. Das gleiche kann man vom Schol. in A.R. II 652–654a WendelScholia zu Apollonios RhodiosSchol. in A.R. II 652–654a Wendel sagen, das nur von Athamas’ Opfer spricht. Auch in Paus. IX 34, 5–9PausaniasPaus. IX 34, 5–9 wird nicht davon geredet; man erfährt nur, wie Athamas kurz vor der Hinrichtung seiner Kinder steht; Eustathios (ad Il. II 408, 17–410, 11Eustathios von Thessalonikead Il. II 408, 17–410, 11) überspringt den Empfang des Orakels und stellt direkt die Enthüllung des Widders dar.

In der lateinischen Literatur ist Val.Flac. I 42Valerius FlaccusVal.Flac. I 42 dem Text von Apollonios von Rhodos fast identisch; von Val.Flac. V 479Valerius FlaccusVal.Flac. V 479 kann man Gleiches sagen. Letztlich scheint es, dass Athamas in Val.Flac. I 278–280Valerius FlaccusVal.Flac. I 278–280 Phrixos hinrichten wird, aber über seine Haltung wird nichts erwähnt.

I.3.6 Die Analyse der Opferung

Nach diesen Überlegungen soll nun die Opferung im Mythos von Athamas ausführlich analysiert werden.

Wie schon mehrmals angedeutet wurde, bildet dieses Thema den Kernpunkt des ersten Teils der I-P-H-Version und, vollumfänglich, den Hauptbegriff der ganzen Version, wenn man alles auf Athamas fokussieren will: In der Tat kann Athamas in dieser Version als homo sacrificanshomo sacrificans1 angesehen werden. Dies heißt nicht, dass Opferung und Wahnsinn einander ausschließen, denn beide Begriffe erscheinen sowohl in der I-P-H-Version2 als auch in der I-L-M-Version3.

In dieser Abteilung wird die Definition von Versnel, der Van Baaren in seinem Schriftstück zitiert, für Opferung verwendet: „A sacral act by which an object is transferred from the profane sphere into the sacral sphere or the action by which the sacral potency of beings or objects already belonging to the sacred realm is increased“4. Selbstverständlich kann man hier dieses Thema nicht vertiefen, denn dessen Analyse würde eine weitere, umfangreiche Abhandlung fordern. Allerdings muss man zumindest Piccalugas Unterscheidung von Opferung und rituellem Tod präsentieren: „Occorre distinguere tra ciò che teoricamente è sacrificio (atto rituale di offerta a destinatari sovrumani) e ciò che, invece, è uccisione rituale (che non prevede necessariamente destinatari sovrumani, ma ha valore in sè)“5.

Interessant ist die Passage in Thphr. Frg. 12, 42–44 PötscherTheophrastosFrg. 12, 42–44 Pötscher über die Motive der Opferungen: τριῶν ἕνεκα θυτέον τοῖς θεοῖς· ἢ γὰρ διὰ τιμὴν ἢ διὰ χάριν ἢ διὰ χρείαν τῶν ἀγαθῶν. Phrixos’ Opferung gehört natürlich zum drittem Motiv. Andererseits liegt Athamas’ Opfer in keinem dieser drei Motive, denn es gilt als VersöhnungVersöhnung oder echte StrafeStrafe; nur lato sensu könnte er im Rahmen des dritten stattfinden.

Die Untersuchung wird nach der Figur, die geopfert wird, und in jeder Abteilung nach der Art von Opferung, nämlich als VersöhnungVersöhnung, als StrafeStrafe bzw. als Katharsis, aber auch als ParadigmaParadigma, als EinweihungEinweihung oder als Beispiel von UnfrömmigkeitUnfrömmigkeit (impietas) durchgeführt6.

A) Art der Opferung

a) Als VersöhnungVersöhnung

Die Opferung ist gekennzeichnet vom Löschen einer persönlichen bzw. gemeinsamen, gegenwärtigen bzw. vergangenen, realen bzw. imaginären Schuld, vom Streichen einer Kränkung und vom Herbeiflehen des Endes eines Unglückes, das als Folge einer Übertretung gilt. Diese Art von Opfer zielt darauf ab, den göttlichen Zorn über ein Verbrechen zu besänftigen. Sie dient auch dazu, das Ende einer Plage durch den Verzicht auf ein persönliches bzw. gemeinsames Gut herbeizuführen.

Es ist die Opferung par excellence dieser Version: Phrixos (und Helle) werden zum Tod auf dem Opferaltar bestimmt, damit die Gottheit dem Unglück der πόλις ein Ende setzt; die Ursache dieser Plage wird nie explizit ausgesprochen1.

Das klimatische Element hätte eine besondere Rolle im Mythos von Athamas, und vor allem im Motiv der Opferung von Nepheles Kindern spielen sollen2. Möglicherweise war der Ursprung des Opfers im Mythos von Athamas eine primitive und uralte Sitte, nach der der König – oder wahrscheinlicher der Sohn des Königs, dessen Jugend und Stärke ein Zeichen von Vitalität und Lebendigkeit war –, verantwortlich für das Wohlergehen der Gemeinschaft war: wenn diese unter einer dauerhaften Plage litt, wurde das Leben des Königssohns zu Ehren eines Gottes, der nie benannt wurde, geopfert, damit die kosmische, soziale und vor allem ökonomische Ordnung wieder hergestellt wurde. Der Königssohn bürgte mit seinem Leben für den richtigen Lauf des Universums und seiner Gesetze. Falls der Sohn des Königs nicht geopfert werden konnte, sollte sich der König hingeben, um dieses Ritual zu erfüllen3.

b) Als echte StrafeStrafe

Diese Opferung ist eine StrafeStrafe für ein Schwerverbrechen. Im Mythos von Athamas ist z.B. im Schol. th-tr. in Ar. Nu. 257a KosterScholia zu AristophanesSchol. th-tr. in Ar. Nu. 257a Koster zu lesen, wie Athamas bekränzt und zum Opferaltar gebracht wird.

Im Gegensatz zum früheren Opfer beginnt und endet diese Opferung in der menschlichen Ordnung und ihren inneren Gesetzen: Eine (besondere) Regel wird missachtet und der Übertreter bezahlt diese Schuld mit seinem Leben. Es geht nicht einfach um eine Hinrichtung auf der Basis der bestehenden Gesetze, sondern um einen religiösen Akt, der das Blut des Ermordeten bzw. die Schmähung des Beleidigten zu besänftigen versucht.

c) Als Katharsis bzw. als Reinigung

Die Opferung wird vollzogen, um ein Land oder eine Gemeinschaft, die aufgrund eines Verschuldens befleckt worden ist, zu reinigen. Diese ist in Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 197 zu lesen.

 

Diese drei Arten von Opferung schließen sich natürlich untereinander nicht aus und das durchgeführte Opfer hat zum Ziel, den Zorn der Götter zu mildern, den Übertreter zu bestrafen, damit die Beleidigung nicht wiederholt wird1 und das aufgrund dieser Kränkung befleckte Land sowie die πόλις gereinigt wird.

Im Mythos von Athamas wird das Opfer auch als ParadigmaParadigma, als Initiation der Nachkommenschaften von Athamas bzw. als Beipiel mangelnder Frömmigkeit (impietas) angesehen; diese Fälle sollen aber im richtigen Moment analysiert werden.

Erwähnenswert ist der Unterschied beim Beschreiben der Opfergaben in der griechischen und der lateinischen Literatur. Im Griechischen spricht man von einem Kranz: der Mensch wird bekränzt am Opferaltar dargebracht; das kann man z.B. im Schol. in Ar. Nu. 257d HolwerdaScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Nu. 257d Holwerda lesen: εἰσάγεται ὁ Ἀθάμας ἐστεφανωμένος ὥσπερ ἱερεῖον σφαγιασθησόμενος. Im Lateinischen aber wird das Opfertier, wie man auf den Marmortafeln des Suouetaurilia, die in der römischen Curia Hostilia zu sehen sind, mit Opferinfulen geschmückt; dies kann man in Hyg. Fab. IIHyginusFab. II lesen: itaque cum ad aram cum infulis esset adductus. Darüber hinaus gibt es keinen lateinischen Beleg von Athamas’ Opferung.