Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

Tekst
Z serii: Classica Monacensia #51
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

E) Demodike bzw. Biadike

Wegen des Alters der Quellen muss man hier den einzigen diesbezüglichen Text präsentieren, und zwar Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20; diese Textstelle unterscheidet sich völlig von den bis jetzt vorgestellten.

Zunächst muss man auf die Varietät der Namen für Kretheus’ Frau achten: Demodike bzw. Biadike. Dies bedeutet, dass die Tradition sehr vielseitig war, möglicherweise je nach dem Ursprung der einzelnen Geschichten. Zweitens ist es der einzige Fall der I-P-H-Version, wo die Intrige nicht von der StiefmutterStiefmutter, falls es eine gibt, sondern von Phrixos’ Tante umgesetzt wird; diese ‚Entferntheit‘ von der Verwandtschaft führt zu einem gründlichen Wechsel der Motivierung und der Strategie gegen den Knaben. Zugrunde liegt deshalb nicht die neidische, sondern die verliebte StiefmutterStiefmutter, die in diesem Fall in eine verliebte Tante umgestaltet wird.

Die List ändert sich auch. Die Dringlichkeit der Ereignisse (necessario coactam) zwingt die Frau schnell zu agieren, weswegen sie sich zur Anklage von sexueller Belästigung entschließt, die oft in Fällen von Zurückweisung erhoben wird. Es gibt kein Orakel, das Phrixos’ Tod verlangt; Kretheus selbst muss von Athamas die Opferung des Knaben fordern. Beide Versionen – wohlgemerkt die von Demodike und die von Biadike – stimmen jedoch mit der Vorstellung eines Ursprungs der Opferung außerhalb von Athamas’ Familie überein. Wenn es in Pi. P. IV 161–162PindarP. IV 161–162 – diese Textstelle sollte seinem Scholion nach innerhalb der Tradition von Potiphars Motiv verstanden werden – keine m.W. klare Andeutung der Opferung von Phrixos gibt, wird sie dagegen bei Hygin sehr deutlich präsentiert. Der Rest der Tradition folgt der schon bekannten Geschichte.

F) NepheleNephele

Abgesehen von dem umstrittenen Schol. in Pi. P. IV 288a DrachmannScholia zu PindarSchol. in Pi. P. IV 288a Drachmann, in dem zu lesen ist, dass die StiefmutterStiefmutter, wahrscheinlich verliebt, Phrixos in einem der Athamas’ von Sophokles eine Falle stellte, gibt es einen seltsamen Beleg, und zwar das Schol. in Lyc. Alex. 1285 ScheerScholia zu LykophronSchol. in Lyc. Alex. 1285 Scheer, der Nephele als Stiefmutter von Phrixos und Helle benennt.

Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zum Scholion zu Pythia: Tzetzes präsentiert Sophokles’ Version nicht, wie etwa die Scholien zu Aristophanes’ Die Wolken es tun, sondern legt den Schwerpunkt auf die Tradition, die auf Ino zurückgeführt wird, mit einigen besonderen Varianten. Im Scholion zu Lykophrons Werk ist Nephele diejenige, die den Samen dörrt, womit hier der Fall der Stiefmutter dargestellt wird, die allein, ohne Hilfe handelt. Obwohl auf die Auswirkung dieser Verbrennung für das Land nicht unmittelbar hingewiesen wird, deutet das Orakel auf den Mangel an Früchten hin, wie es auch in der oben analysierten zweiten Sektion für Ino geschah. Nephele besticht die von Delphi zurückkehrenden Boten nicht – Ino tat es –, sondern sie macht sich nach Delphi auf und erkauft sich die Aussage der Wahrsager. Dies ist letztlich eine völlig andere Perspektive des Mythos von Athamas in Bezug auf die üblichen Versionen.

I.3.3 Die Ursachen der IntrigeIntrige

Diese Ursachen beziehen sich nicht nur auf Ino, sondern auf alle möglichen Agenten.

A) Die Ursache wird nicht genannt

Die meisten Texte explizieren den Grund der Intrige der StiefmutterStiefmutter gegen Phrixos (und Helle) nicht, sondern sie stellen das Komplott direkt dar.

Der Zustand der Hypothesis der ersten Phrixos-Tragödie von Euripides ist leider zu lückenhaft, so dass man unmöglich herauslesen kann, ob diese Ursache im Text erschienen oder nicht. Das Gleiche kann man von dem erwähnten Frg. 822a KannichtEuripidesPhrixos A-B:Frg. 822a Kannicht sagen, das sich angeblich auf einen Teil der Handlung konzentrierte, bei der es nicht um die Verbrennung des Samens ging. Der kurze Satz von Herodot, ὡς Ἀθάμας ὁ Αἰόλου ἐμηχανήσατο Φρίξῳ μόρον σὺν Ἰνοῖ βουλεύσας, erlaubt auch keinen Schluss darauf, wie sich dieser Hass des Vaters entwickelte.

Philostephanos1 präsentiert einen vollständigen Text über den Mythos von Athamas, er nennt jedoch den Grund der Intrige nicht. Es ist aber einfach, diesen Grund aus Eustathios (ad Il. II 408, 17–410, 11Eustathios von Thessalonikead Il. II 408, 17–410, 11) zu erschließen; denn die Textstellen beider Autoren sind fast identisch. Die Ursache könnte folgendermaßen ausgedrückt werden: Ino, die erste Frau von Athamas, wird aus dem Haus geworfen, weil HeraHera es wünscht; Athamas heiratet Nephele, betrügt sie aber mit seiner ersten Frau; Nephele entdeckt dies und verlässt das Haus. Dann πάλιν δὲ τῆς οἰκίας ἐπικρατήσασα ἡ Ἰνὼ ἐπεβούλευσε τοῖς τῆς Νεφέλης παισίν, das heißt, dass Ino den Tod der Kinder ihrer Konkurrentin plant, weil sie wegen Nephele sehr gelitten hat. Das Motiv ist eigentlich nicht das der Stiefmutter, sondern die Eifersucht der Frauen wegen eines Mannes; am Ende bezahlen die Kinder die Schuld der Erwachsenen2.

Dionysios Skytobrachion konzentriert sich auf die FluchtFlucht von Phrixos zusammen mit Helle; die IntrigeIntrige der Stiefmutter kommt nur als Motiv für die Flucht vor. Dieser Fall, nämlich das Weglaufen vor den Intrigen der Stiefmutter, wird oft wiederholt, wie z.B. im Text von Herakleitos Paradoxographus und in Eust. ad Il.Eustathios von Thessalonikead Il. I 497, 17–498, 5 I 497, 17–498, 5.

In Apollod. I 9, 1ApollodorosApollod. I 9, 1, wie in den früheren Fällen, wird nur die Tat der Intrige dargestellt, ohne mehr zu erklären. Die Machenschaften und die Hilfe der Frauen tauchen auch in den Texten von Zenobios (Vulg. IV 38ZenobiosVulg. IV 38), Comestor (Hist. ScholPetrus ComestorHist. Schol. 1275d. 1275d), Rodrigo de Rada (Breu. Hist. Cath. IV 28Rodrigo Jiménez de RadaBreu. Hist. Cath. IV 28) und Badius (Part.Cat. III 160–185BadiusPart.Cat. III 160–185) auf. Im Fall von Schol. in Pl. Mx. 243a GreeneScholia zu PlatonSchol. in Pl. Mx. 243a Greene folgt der Konspiration von Ino nicht die Überzeugung der Frauen des Landes durch KadmosKadmos’ Tochter, den Samen zu verbrennen, sondern die Überredung der nach Delphi geschickten Boten, damit sie Phrixos’ Tod fordern. Der Text überspringt den Zwischenschritt des Verdorrens des Samens.

Theon (Frg. 48 GieseTheonFrg. 48 Giese von Theon) bezieht sich auf die Stadt AlosAlos und konzentriert sich auf die Enthüllung durch die Dienerin, weswegen er die Motive des Komplotts nicht ergründet, so auch in Hdn. Gr. 3, 1 153, 30–154, 3 LentzHerodianosHdn. Gr. 3, 1 153, 30–154, 3 Lentz und St. Byz. s.u. ἌλοςStephanos von ByzanzSt. Byz. s.u. Ἄλος. Ein ähnliches Thema erscheint auch in Ou. Fast. VI 551–562OvidFast. VI 551–562 , dessen Schwerpunkt ist wiederum die Dienerin und nicht Ino.

Es ist ganz normal, dass der Grund der Intrige in ihrer Andeutung bzw. in ihrer Auswirkung des verbrannten Samens vorkommt. So geschieht es in Ou. Fast. II 628OvidFast. II 628, wo auf den verdorrten Samen mit einer Periphrase angespielt wird, um den Namen von Ino nicht zu erwähnen, oder in Ou. Fast. III 853–854OvidFast. III 853–854, wo die zerstörende Folge auf dem Land der Andeutung der Intrige sogleich folgt. Dasselbe geschieht in Tz.Comm. Ar. Nu. 256a HolwerdaScholia zu AristophanesTz.Comm. Ar. Nu. 256a Holwerda, der mit Phrixos’ Opfer beginnt und nur tangential auf die Unfruchtbarkeit des Landes verweist.

B) Aus verschmähter Liebe

Dies ist Potiphars Thema, ein völlig anderes Motiv als das übliche der neidNeidischen StiefmutterStiefmutter.

Wenn man dem Schol. in Pi. P. IV 288a DrachmannScholia zu PindarSchol. in Pi. P. IV 288a Drachmann Glauben schenkt, ist die erste Passage mit diesem Thema die von Pi. P. IV 162PindarP. IV 161–162, in der Phrixos durch den WidderWidder ἔκ τε ματρυιᾶς ἀθέων βελέων gerettet wurde. Diese Anschläge (Wurfpfeile) symbolisieren die Verführungsversuche der anonymen Stiefmutter. Ohne die anderen Namen im Scholion zu vergessen, ist es nun ratsam, sich auf Themisto zu konzentrieren, deren Tat, nämlich das ausgedrücklich erwähnte Verderben der Früchte, im Zusammenhang mit dieser Abteilung steht.

Obwohl sie keine Stiefmutter ist, sollte auch hier Phrixos’ Tante Demodike bzw. Biadike mit eingeschlossen werden, weil ihre Hinterlist aus Verliebtheit entsteht, wie in Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20 zu lesen ist.

C) Um Athamas’ Stamm zu zerstören

Wenige Texte zeigen explizit die verbrecherische Absicht von Ino auf, Phrixos und Helle umzubringen. In der griechischen Literatur kann man dieses Motiv in der Rede von Ino finden, vor ihrem Sprung von der Klippe, wie man in Nonn.Nonnos von PanopolisD. X 117–118 D. X 117–118 lesen kann. In der lateinischen Literatur spricht man in Hyg. Fab. IIHyginusFab. II1 nicht von Athamas direkt, aber es sollte offensichtlich so angenommen werden. Das Gleiche geschieht inMythographi VaticaniM.V. I 23 M.V. I 23 und M.V. II 157Mythographi VaticaniM.V. II 157 .

D) Aus Verärgerung wegen der Verweisung ihres Hauses

In Eust. ad Il. II 408, 17–410, 11Eustathios von Thessalonikead Il. II 408, 17–410, 11, der dem Text von Philostephanos sehr ähnlich ist – obwohl der Bischof von Thessaloniki sich noch deutlicher ausdrückt – kann man wieder Inos Erbitterung sehen; dieses Mal aber wird sie nicht aus Mangel an Liebe verursacht, sondern aus Zorn und Rachsucht. Im Gegensatz zu Philostephanos’ Passage plant Ino in Eustathios’ Text die Übeltat an Nepheles Kindern ohne die οἰκοδεσποσύνη wieder zu haben; das heißt, dass sie außerhalb des Palastes wohnt und ihr Zorn gegen die königliche Familie sehr groß ist. Diese Erzählung des Mythos von Athamas erklärt m.E. viel besser die komplizierte Intrige der Verbrennung des Samens: Wenn sie als Königin handelte, wäre man bestürzt, wie sie mit den gemeinen Frauen in dieser Weise konspirieren konnte; wenn sie aber außerhalb des Palastes wohnte, ist die Gemeinschaft mit dem ‚normalen‘ Volk einfacher zu verstehen.

 

E) (Hass) Weil sie eine Stiefmutter ist

Dies ist das Übliche: Ino intrigiert gegen ihre StiefkinderStiefkinder nur aus dem Grund, weil sie Kinder der früheren Frau sind: das bekannte Thema der grausamen Stiefmutter.

Zwei Texte stellen dar, dass es genügt, Stiefmutter zu sein, um gegen Phrixos und Helle Ränke zu schmieden. Der erste ist Paus. I 44, 7PausaniasPaus. I 44, 7, wo gesagt wird, dass Athamas in unmäßigem Zorn über Ino und seinen Sohn Melikertes geriet, als er erfuhr, dass die Hungersnot der Stadt OrchomenosOrchomenos von Ino μητρυιὰν οὖσαν verursacht worden war. Der zweite Text istMythographi VaticaniM.V. I 23 M.V. I 23 – er stimmt in diesem Punkt mit M.V. II 157Mythographi VaticaniM.V. II 157 überein – geht noch weiter und weist auf das Motiv hin: Eine Stiefmutter zu sein reicht nicht; der echte Grund ist der Hass, den Stiefmütter in sich tragen.

F) Aus NeidNeid bzw. Eifersucht

Dies ist das verständlichste Motiv, wenn Potiphars Motiv nicht vorgestellt wird. Allerdings erscheint es explizit nur in zwei Fällen, nämlich in zwei Glossen zu literarischen Werken.

Die erste Texstelle ist das Schol. in A. Pers. 70–72 Massa PositanoScholia zu AischylosSchol. in A. Pers. 70–72 Massa Positano, das dem Schol. rec. in A. Pers. 70 DindorfScholia zu AischylosSchol. rec. in A. Pers. 70 Dindorf völlig gleich ist; in diesen Texten wird klar festgestellt, dass die Folge, Stiefmutter zu sein, der Neid bzw. die Missgunst ist.

In dieser Sektion soll auch das Schol. in Lyc. Alex. 1285 ScheerScholia zu LykophronSchol. in Lyc. Alex. 1285 Scheer vorgelegt werden, obwohl es hier nicht um Ino, sondern um Nephele geht, weil hier der gleiche Grund genannt wird wie in den Scholien zu Aischylos’ Die Perser: ἐπέγημε δὲ Νεφέλην, ἥτις ζηλοτυποῦσα τούτῳ τοὺς καρποὺς τῆς χώρας ἔφλεγεν. Nepheles Eifersucht entsteht aus dem Gefühl, dass sie sich immer als zweite Wahl fühlte. Das τούτῳ ist aber zweideutig und es könnte sich auf die Tatsache beziehen, dass Athamas zwei Kinder aus früherer Ehe hatte, wie in dem Satz vor dem vorliegenden Zitat berichtet wird. Das Schol. in Hes. Th. 993a Di GregorioScholia zu HesiodSchol. in Hes. Th. 993a Di Gregorio aber präsentiert den NeidNeid als ein Merkmal von Ino, die zudem auch Stiefmutter war: ταύτης τελευτησάσης τὴν ζηλότυπον ἔγημεν Ἰνώ, ἥτις ὡς μητρυιὰ βασκήνασα τούτοις.

I.3.4 Die Folgen der IntrigeIntrige

Die wichtigste Auswirkung der Machenschaften ist die Opferung von Nepheles Kindern, obwohl dies nicht die einzige Folge ist.

A) Die Opferung

Weil dieses Themas ausführlich in der nächsten Sektion analysiert wird, werden jetzt nur die Quellen, die die Opferung erwähnen, präsentiert; sie werden dem Opfer der Intrige zugeordnet. Eine Angabe aber soll hervorgehoben werden: Wenn Palaiphatos ausgeschlossen wird, wird die Opferung beider Geschwister zusammen nur im 1. und 2. Jh. n. Chr. dargestellt; am häufigsten ist die Bitte um den Tod des Phrixos, gegen den die Intrige geplant worden war.

a) Von Athamas

Die Quellen, die Athamas als Opfer vorlegen, sind folgende: Sophokles in seinem zweiten Athamas – wenn man dem Schol. in Ar. Nu. 257b HolwerdaScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Nu. 257b Holwerda Glauben schenkt – Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 197; Sud. α 702SudaSud. α 702; Eudoc. 25 D’AnsseEudokiaEudoc. 25 D’Ansse1; Schol. rec. in Ar. Nu. 257cα-γ KosterScholia zu AristophanesSchol. rec. in Ar. Nu. 257cα-γ Koster; Tz.Comm. Ar. Nu. 256a HolwerdaScholia zu AristophanesTz.Comm. Ar. Nu. 256a Holwerda.

b) Von Athamas’ Nachkommenschaft

Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 1971; Pl. MinPlatonMin. 315c. 315c; Philosteph.Hist. (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37) 372.

c) Von Phrixos und Helle

Palaeph. XXXPalaiphatosPalaeph. XXX; Paus. IX 34, 5–9PausaniasPaus. IX 34, 5–9; Zen. Vulg. IV 38ZenobiosVulg. IV 38; Eust. ad Il. II 408, 17–410, 11Eustathios von Thessalonikead Il. II 408, 17–410, 11; Eudoc. 25 D’AnsseEudokiaEudoc. 25 D’Ansse1; Ou. Fast. III 849–876OvidFast. III 849–8762; M.V. I 23; II 157Mythographi VaticaniM.V. II 157; Schol. in A. Pers. 70–72 Massa PositanoScholia zu AischylosSchol. in A. Pers. 70–72 Massa Positano; Schol. rec. in A. Pers. 70 DindorfScholia zu AischylosSchol. rec. in A. Pers. 70 Dindorf3; Schol. in A.R. Proleg. WendelScholia zu Apollonios RhodiosSchol. in A.R. Proleg. Wendel; Schol. in Hes. Th. 993a Di GregorioScholia zu HesiodSchol. in Hes. Th. 993a Di Gregorio; Schol. in Lyc. Alex. 1285 ScheerScholia zu LykophronSchol. in Lyc. Alex. 1285 Scheer.

d) Von Phrixos

A.R. II 1193–1996Apollonios von RhodosA.R. II 1193–1996; III 190–194Apollonios von RhodosA.R. III 190–194; Apollod. I 9, 1ApollodorosApollod. I 9, 11; Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20; Val.Flac. I 40–57Valerius FlaccusVal.Flac. I 40–57Valerius FlaccusVal.Flac. I 264–293Valerius FlaccusVal.Flac. I 519–530; 264–293; 519–530; Schol. in A.R. II 652–654a WendelScholia zu Apollonios RhodiosSchol. in A.R. II 652–654a Wendel2; Tz.Comm. Ar. Nu. 256a HolwerdaScholia zu AristophanesTz.Comm. Ar. Nu. 256a Holwerda; Schol. in Pl. Mx. 243a GreeneScholia zu PlatonSchol. in Pl. Mx. 243a Greene3.

e) Von den Fremden

Das Frg. 24 RustenDionysios SkytobrachionFrg. 24 Rusten von Dionysios Skytobrachion.

B) Das freiwilligfreiwillige Opfer

Obwohl PhrixosPhrixos in den Erzählungen oft zum Opferaltar geführt wird, gibt es diesbezüglich eine große Varietät, wie dieses Opfer dargestellt wird. In den meisten Geschichten wird er gezwungen, auf dem Opferaltar zu sterben; in den zwei folgenden Texten (Pherecyd. FGrHistPherekydesFGrHist. 3 F 98. 3 F 98 und Hyg. Fab. IIHyginusFab. II1) bietet Phrixos an, freiwillig aus Liebe für das Vaterland zu sterben. Selbstverständlich geht es hier immer nur um Phrixos und nicht um beide Geschwister. Nun soll das Thema des freiwilligen Opfers detailliert analysiert werden2.

Das freiwillige Opfer wird mit dem Begriff des Todes und des Lebens des Protagonisten und, in letzter Instanz, des Autors der Tragödie eng in Verbindung gebracht; wenn sowohl der Tragiker als auch die tragische Person eine positive Vorstellung des Todes haben, wird der freiwillige Tod als einfacher erscheinen im Vergleich zu jenen Fällen, in denen der Tod als negatives Konzept behandelt wird. Das freiwilligfreiwillige Opfer war ein analysiertes und oft behandeltes Motiv bei dem letzten der drei berühmten Tragiker: Euripides3. Die vorliegenden Überlegungen gelten allgemein, aber weil dieser Tragiker das Motiv am häufigsten verwandte und es nach seiner Überzeugung umgestaltete, ist es angemessen, mit Euripides zu beginnen, um dieses faszinierende Thema zu untersuchen.

Versnel behauptet, dass das freiwillige Opfer4 die größte Hingabe des Menschen ist; eine solche Opferung führt zu „sentiments of admiration, gratitude, awe, terror, and guilt, as no other sacrifice did or may be expected to do“5.

Schmitt mutmaßt einen Wechsel der Perspektive in der griechischen Literatur mit Euripides: Von der alten und wenig ethischen Darstellung der übernatürlichen Mächte, die in Zeiten der Not ein MenschenopferMenschenopfer als Sühne anfordern konnten, zu der neuen, besonders von Euripides erneuerten Vorstellung, in der eine Gestalt sein Leben freiwillig für das Gemeinwohl hingibt. Diese Gelehrte meint, „Eur. hat sich in seinen Darstellungen des Opfertodes, auch in den frei erfundenen, in allen Einzelheiten eng an das griechische Opferritual angeschlossen“6. So werden Makaria, Polyxena, Erechtheus’ Tochter, Menoikeus, Iphigenie und Phrixos7 als σφάγια, nämlich als Blutopfer, dargebracht; denn MenschenopferMenschenopfer haben, wie Schmitt erklärt, „weit größeren Wert und größere Wirksamkeit als Tieropfer und sind an und für sich schon Gewähr für den Sieg“8

Das Merkmal der σφάγια ist die Weglassung des Namens der Gottheit, zu deren Ehren das Opfer durchgeführt wird, weil diese Opferungen meist zu Ehren von Göttern der Unterwelt dargebracht wurden. Diese Tat widerspricht einigen Traditionen der I-P-H-Version, wo Phrixos (und Helle) zu Ehren von ZeusZeus, der olympischen Gottheit par excellence, geopfert wird. Allerdings muss man auf die Besonderheit von Phrixos’ Opferung achten, die von einer menschlichen Intrige ausgeht, vom Orakel in betrügerischer Weise gefordert und im Vollzug wunderbar unterbrochen wird.

Die deutsche Gelehrte meint, obwohl Phrixos als ein σφάγιον angesehen wird, um das Unglück der DürreDürre zu beenden, „liegt das rituelle MenschenopferMenschenopfer zugrunde, das dem Ζεὺς Λαφύστιος dargebracht wurde“9. Das bedeutet, dass es um eine θυσία und nicht um ein σφάγιον geht. Trotzdem gestattet die Besonderheit von Phrixos’ Opfer nicht, es in ein bestimmtes Schema zu pressen.

In den σφάγια bietet man nicht den ganzen Körper des Opfers an, sondern nur sein Blut, weswegen man ihm den Hals aufschlitzt und das Blut fließen lässt, um das Land damit zu tränken. Die Reinheit des Opfers, die in seiner Jungfräulichkeit symbolisiert wird, ist ein magischer und notwendiger Zug für den Erfolg des Ritus10. Zu dieser Reinheit trägt auch der adlige Stand des Opfers bei.

Wenn man über die Menschenopfer, besonders die freiwilligfreiwilligen, nachdenkt, taucht die Frage sofort auf: „Why do ‘the gods’ deem it necessary that a human life – preferably an innocent life – should be paid?“11. Mit anderen Worten: Welchen Wert hat das Leben eines Menschen an sich, damit ein verlorenes Gut zurückgegeben wird, und warum fordern die Götter einen solch hohen Preis? Niemand hat bis jetzt m.W. eine vernünftige Antwort gefunden12. Man muss den Göttern eine Ersatzleistung bezahlen – dies geschieht im Tod unus pro omnibus –, aber man weiß nicht, warum man dazu verpflichtet ist und wie dieser Tod das verlorene Gut zurückerstatten oder die anderen Mitglieder einer Gemeinschaft von einem Unglück befreien kann. Dieses Konzept findet man nicht nur bei Griechen, sondern bei allen Völkern13.

Mit dem interessanten, von Valgiglio in seinem Buch Il tema della morte in Euripide präsentierten Schema könnte man die Auffassungen im Bezug auf das Leben und den Tod zusammenfassen: „Sicchè possiamo dire: a) La morte è un bene: l) perchè libera l’uomo dai mali della vita (rapporto con la vita); 2) perchè riserva l’uomo ad una vita migliore (rapporto coll’aldilà); 3) per le due cose insieme (Orfici). b) La morte è un male: l) perchè priva l’uomo dei beni della vita (rapporto con la vita); 2) perchè destina l’uomo ad una condizione peggiore della vita (rapporto coll’aldilà); 3) per le due cose insieme“14.

Eine Person, die ihr Leben freiwilligfreiwillig hingibt, ist nicht nur ein Lieblingsthema von Euripides, sondern fast alle erhaltenen Belege beziehen sich auf Beispiele, die in seinen Werken überliefert sind. Solch eine Person geht freiwillig in den Tod wie in Punkt a) von Valgiglios Schema, das heißt, um einen besseren Zustand für sich selbst zu erlangen oder für die ganze Gemeinschaft, für die sie stirbt. Der italienische Forscher erläutert, dass sich der Tod als ein Gut im relativen Sinn erweist, das heiβt, als das geringere von zwei Übeln15. Dies bedeutet, dass der Tod die einzig gangbare Lösung einer anscheinend ausweglosen Lage ist16. Auf keinen Fall sucht man die eigene Ehre, den κλέος, das einzige Gut der homerischen Helden, um den Schmerz und das Leid des Todes zu überwinden und dem Sterben einen Sinn zu geben; diesen Tod ertrugen die Helden in der Ilias und in der Odyssee mit männlicher Resignation17. Mit anderen Worten: Das Gemeingut steht höher als das Gut der Einzelnen.

Euripides bewertet aber auch das Leben positiv, das mehr wert ist als der Tod; die Tatsache, dass niemand, der alle Sinne beisammen hat, grundlos sterben will, beweist dies deutlich18. Diese Überzeugung ist notwendig, weil niemand den Tod für besser hält als das Leben. Trotzdem soll der Tod unter bestimmten Umständen freiwillig angenommen werden. In der Tat kann man aus dieser Perspektive folgende Schlussfolgerung ziehen: „Il punto di arrivo nella concezione della morte sarà l’anelito del poeta verso il superamento della morte nell’offerta volontaria di sé stessi (accompagnata talvolta dalla fede nella promessa orfica sulla felice sorte ultraterrena)“19.

 

Der bekannte Fall von Hyg. Fab. IIHyginusFab. II, wo Phrixos sich freiwilligfreiwillig hingibt, um für seine Stadt zu sterben20, schließt sich einer sehr alten Tradition von Personen an, die sich für ihre Städte hingeben und die auf Homer21 selbst zurückgeht; für dieses Motiv interessierte sich Euripides sehr. Dieser Tod als Befreiung führt viele Gestalten zum Selbstmord22; das ist jedoch bei Phrixos nicht der Fall, denn er nimmt sich nicht das Leben, sondern er bietet es an für ein größeres Gut, aus einem edlen Grund, für ein besseres Ziel, wie es die Rettung der Gemeinschaft ist. Euripides tadelt den Selbstmord, lobt aber die großzügige Hingabe für die anderen.

Ein grundlegender Unterschied zwischen Euripides’ Opferungen und den traditionellen Opferungen ist die Freiheit der eigenen Entscheidung der immolaturi23. Neben diesem Merkmal gibt es eine andere wichtige Eigenheit: Das göttliche Element wird durch das profane ersetzt24. Darüber hinaus sollte das Opfer aus adligen Verhältnissen stammen und im jugendlichen Alter sein; denn man glaubte, dass das Blut eines jungfräulichen Menschen eine größere Wirksamkeit habe als das Blut eines alten. Man muss hier nochmal betonen: nur ein junger Mensch konnte das Leben hingeben, damit diese Hingabe als echtes Geschenk und als echte Gabe betrachtet wurde; das Leben einer alten Person, die dem Tod nah war, wurde nicht als ein kostbares und wertvolles Geschenk angesehen.

Über das Geschlecht der tapferen RetterRetter behauptet Valgiglio: „Le vittime votate al sacrificio sono infatti sempre donne in Euripide, meno il caso di Meneceo, il quale potrebbe essere giustificato dalla mancanza di una figlia di Creante“25. Dies passt überhaupt nicht im Fall von Athamas, der auch eine Tochter, Helle, hat. Sie gibt sich nicht freiwilligfreiwillig hin – wenn man annimmt, dass Euripides dieses Themas in einer seiner Tragödien behandelte –, sondern Phrixos tut dies26. Außerdem: es gibt keinen Beleg in der griechischen bzw. lateinischen Literatur, dass Helle, und nur Helle, auf dem Opferaltar getötet werden sollte. Höchstens kann sie ihren Bruder zum Altar begleiten, damit beide geopfert werden, aber sie steht nie allein vor dem Opferaltar und auf keinen Fall gibt sie sich freiwillig hin, um für die von Not und Leid betroffene Gemeinschaft zu sterben. Diese Tat könnte ein anderer Hinweis dafür sein, dass sich die ursprünglichen Machenschaften nur an Phrixos, und nicht an beide Geschwister, richteten.

Allerdings hat Valgiglio m.E. Recht, wenn er die hervorragende Rolle der Frauen in den euripideischen Dramen betont, auch wenn dieser Tragiker der Frauenfeindlichkeit beschuldigt worden ist27: Alkestis, Medea, Phaidra, Makaria, Hekabe, Polyxena, … einige Frauennamen sogar im Titel seiner Tragödien; selbst Ino gibt den Namen für eine Tragödie und ist deren Protagonistin28.

Valgiglio meint29, dass der Peloponnesische Krieg der geeignete Nährboden dafür hätte sein können, dass Euripides das Thema des freiwilligen Todes schuf oder dieses auf kreative Weise entwickelte. Schmitt schlägt dagegen den Perserkrieg als ein Katalysator-Element dieser Vorstellung vor; der ‚Heldentod des Leonidas‘30 trieb dieses Thema bei den Griechen stark voran.

Die Freiwilligkeit des Opfers hat ihre erste Auswirkung auf den Henker, wie Roussel erläutert: „Le consentement de la victime libère de toute souillure ceux qui la sacrifient“31; in diesem Menschen fängt die wohltätige Wirkung des Opfertods auf dem Altar an, die sich nach und nach auf den Rest der Gemeinschaft verbreitet. Ein attischer Rechtsgrundsatz lautete, dass kein ,Verbrecher‘ verfolgt werden sollte, wenn das Opfer ihm vor dem Sterben verziehen hatte32. Dies war eine Art, den Teufelskreis der Rache und des vergeltungssüchtigen Mordes anzuhalten. In der Antike galt jeder gewaltsamer Tod de facto als ein Verbrechen. Meiner Meinung nach konnte Schwenns Deutung des Opfers zu Ehren von ZeusZeus Laphystion33 als symbolischer Akt der VersöhnungVersöhnung für das vergossene menschliche Blut gelten: Neun Jahre lang auf das Fressen ‚menschlichen Fleisches‘ zu verzichten, bedeutet ein Verbot, jemanden in diesem Zeitraum zu töten34.

Viele Mythen bezeugen, wie die Götter ein MenschenopferMenschenopfer gegen eine Seuche, eine Plage, eine Hungersnot bzw. eine militärische Niederlage forden. Zwei Arten von menschlichen Opfern können unterschieden werden:

 1) Der König, der sich freiwilligfreiwillig für das Volk hingibt35

Roussel denkt, „le roi primitif, prêtre et sorcier, presque dieu, assure l’existence et le bien-être de toute la communauté“36: Er muss nicht nur auf sein eigenes Gut achten, sondern er ist verantworlich für das Glück und Unglück der Gemeinschaft.

 2) Ein junger Mensch, Mann oder Frau, wird zum Opferaltar gebracht37

In diesem Fall „la victime n’était pas elle-même consentante, mais le sacrifice se faisait avec l’accord de son père“38. Die Reinheit des Blutes ist unbedingt notwendig für die Vergebung der Schuld.

Es sieht so aus, als käme die erste Art, nämlich die des Königs, der sich für sein Volk hingibt, bei Euripides nicht vor. Man kann aber Beispiele von jungen Menschen finden, die bereit sind, für ihre Stadt zu sterben. Euripides modifiziert diese zwei Punkte und vermischt sie: Wenn der König die Opferung des jungen Menschen zurückweist, dann entscheidet sich der junge Mensch freiwilligfreiwillig, für das Vaterland zu sterben. Polyxenas Fall weicht etwas von diesem Schema ab, denn sie stirbt nicht, um den Zorn eines Gottes zu mildern, sondern um Achilleus’ Grab zu verehren. Auch Phrixos’ Fall ist etwas anders, denn „le sacrifice de Phrixos est préparé mais non accompli, puisque la disette et aussi l’oracle, qui demande l’immolation de Phrixos pour la faire cesser, sont dus à la ruse d’Ino“39: Wenn das Komplott enthüllt ist, gibt es keinen Grund mehr, das Opfer zu vollbringen. In der Tat hat die Gottheit nie Phrixos’ Tod gefordert, weswegen seine Opferung, als die Wahrheit ans Tageslicht kommt, nicht mehr gilt. In Hinsicht auf Praxitheas Tochter kann man keine feste Aussage treffen, ob sie das Opfer freiwillig annahm. Die meisten Kritiker vermuten dies schon, da es in der Tragödie heißt, dass die Mutter einverstanden war.

Sehr interessant ist diesbezüglich der Vergleich zwischen den drei Tragikern: „Le thème du sacrifice volontaire ou consenti apparaissait dans six tragédies d’Euripide, alors qu’on ne le trouve jamais chez Eschyle, ni chez Sophocle“40. Diese Tat erweist die Wichtigkeit des Themas in der tragischen Vorstellung von Euripides. Abgesehen vom besonderen Fall der Alkestis, sind Die Herakliden das älteste Werk (424 v. Chr.); das letzte dieser Reihe ist Iphigenie in Aulis, das post-mortem aufgeführt wurde. Aischylos hat weder den Mythos von Polyxena noch Erechtheus noch Phrixos dargestellt; man könnte deshalb sagen, „qu’Eschyle ne s’est pas particulièrement intéressé aux mythes qui comportaient un sacrifice humain“41. Nur die trauernde Iphigenie wird in der Orestie aufgeführt.

Erwähnenswert ist die Entwicklung dieses Themas im Laufe der Zeit und in den Werken: Die Opferungen von Polyxena, Makaria, MegaraMegara und der Erechtheus-Tochter waren vor Euripides nie freiwillig gewesen. Darüber hinaus muss man in Bezug auf Iphigenie bemerken, dass die euripideischen Texte vor der Iphigenie in Aulis, wo von diesem Mythos gesprochen wird, wie, z.B., Elektra oder Iphigenie im Taurerlande, nie in Erwägung zogen, dass sich Agamemnons Tochter freiwillig entschließen könnte, auf dem Opferaltar zu sterben. Auffällig ist, dass nur ein Fall außerhalb dieser Mythen bekannt ist, wo von einem freiwilligen Opfer gesprochen wird: das der Töchter von Antipoinos, wie in Paus. IX 17, 1PausaniasPaus. IX 17, 142 zu lesen ist. Darum meint Aélion, dass Euripides der Erfinder dieser Opferung ist: „C’est à Euripide que remonte la conception d’une victime expiatoire, jeune et innocente, acceptant librement et volontairement de donner sa vie. En tout cas, c’est lui qui en a fait un thème dramatique et littéraire“43.