Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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Z serii: Classica Monacensia #51
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Der Leser kommt nun zu einem besonderen Ort, dem Kernpunkt der Unterwelt. Vergil84 hatte den Tartaros als eine Befestigung beschrieben, wo Tisiphone (555) war. Aeneas konnte diesen eigentlich nicht betreten (563), denn er war eine reine Person; Juno, die eine olympische Göttin ist, hat trotzdem kein Problem, um das Innerste des Auernus zu betreten. Da sind die aus Stahl85 gemachten Tore, nicht geöffnet, sondern geschlossen, und die Töchter der Nacht86, die Erinnyen, sind ihre Wächterinnen. Bömer erklärt, „diese ‚Pforte der Unterwelt‘ bedeute seit Homer wie die biblischen ‚Pforten der Hölle‘87 zunächst natürlich die Tore selbst, den Eingang, dann aber auch die Unterwelt überhaupt“88. Anderson behauptet seinerseits, „Ovid turns the traditional Tartarus into a Roman prison“89. Ovid vermeidet das Getöse von Ketten, Geschrei und Seufzern, von dem man in Aen. VI 557–559VergilAen. VI 557–559 lesen kann, aber er unterstreicht das Seufzen der Schwelle durch Junos Anwesenheit. Dies hat einen doppelten Grund; die königliche Aura von JunoJuno und ihre Körperlichkeit.

In Bezug auf die Erinnyen ist es möglich, dass sie mit den Κῆρες von Hesiod (ThHesiodTh. 217. 217 )90 zu identifizieren sind. Nach Chadwick und Baumbach könnte dieser Name aus dem Mykenischen91 abgeleitet werden. Bömer erklärt, „als Namen der ErinyenErinyen werden, nicht vor der hellenistischen Zeit, Megaira, Teisiphone und Al(l)ekto genannt“92. Aélion93 fragt sich, ob diese nicht die Personifikation eines abstrakten Begriffes seien; sie wurden eigentlich in grauer Vorzeit als die Seelen von ermordeten Personen, die Rache forderten, betrachtet. Die französische Forscherin denkt, „les Erinyes sont les agents personnifiés qui veillent à l’accomplissement d’une volonté, vengeance humaine ou châtiment divin“94. In den homerischen Gedichten sieht es so aus, als hätten die Erinnyen eine doppelte Funktion, nämlich als Vollstreckerinnen der Rache und als Wächterinnen der Rangordnung; deswegen bestrafen sie den Mord innerhalb der Familie bzw. den Eidbruch. ApollonApollon und AtheneAthene schaffen in Aischylos’ Die Eumeniden die alte Pflicht der Erinnyen ab und geben ihnen dafür eine neue: Sie werden die Garantinnen der Gerechtigkeit und des Wohlstands der Stadt AthenAthen. In der lateinischen Epik wird ihnen Juno einen neuen Auftrag geben: Sie werden die Vollstreckerinnen ihrer Rache. Das geschieht offensichtlich in diesem Mythos, denn weder Athamas noch Ino haben jemanden getötet und weder die kosmische noch die soziale Ordnung gebrochen, als sie Dionysos erzogen haben. Und trotzdem beaufragt HeraHera Tisiphone, ihre Rache durchzuführen. Das ist völlig neu.

Die weibliche Natur der Erinnyen bleibt nicht unberücksichtigt. Padel95 bestätigt, dass der Hades und die Frauen eine unsichtbare und potenziell destruktive Gewalt haben. Aischylos machte sie in dem Stück Die Eumeniden auf der Bühne sichtbar. In der Tragödie Die Weihgussträgerinnen96 konnte nur Orestes sie sehen, als er einen Irrsinnsanfall hatte; im letzten Stück der Trilogie konnte sie aber das ganze Publikum sehen. Aélion meint, „l’horreur vague et mystérieuse d’Homère et d’Hésiode a pris un aspect concret, est devenue un être visible pour tous, presque tangible“97. Die Erinnyen von Euripides sind so subjektiv, dass man nicht wissen kann, ob sie auch zur Wirklichkeit gehören oder ob sie nur eine Redensweise von Orestes sind, um sein Schuldgefühl auszudrücken. Ihr Wohnort ist üblicherweise in der Unterwelt. Auch wenn Megaira vielleicht die bekannteste Erinnye für den modernen Leser ist, machte Vergil doch Allekto im 6. Buch des Aeneis unsterblich; Tisiphone wird auch oft in der späteren Literatur erwähnt.

Zurück zu Ovids Textstelle muss man bemerken, dass die Erinnyen, wie echte Frauen, obwohl sie höllischer Natur sind, nicht damit aufhören können zu tun, was Frauen zu tun pflegen, wie z.B. das Haar kämmen. Hier aber sind die Haare durch gefährliche, schwarzschillernde Nattern ersetzt. Nach Paus. I 28, 6PausaniasPaus. I 28, 6 war Aischylos der erste, der von Schlangen statt Haaren schrieb. Bernbeck kritisiert die Szene: „Dadurch wird auf die Rachegöttinnen ein Zug weiblicher Eitelkeit übertragen, der zu ihrem unheimlichen Wesen nicht passen will“98; jedoch tadelt Bömer Bernbecks Kritik und schließt dies aus, „Damen, die in der Finsternis der Unterwelt ihr Haar kämmen, das aus schwarzen Schlangen besteht, wirken ‚beklemmend‘ genug“99. Padels interessante Überlegung zu der griechischen TragödieTragödie, wenn sie über Lyssa und die ErinyenErinyen im Allgemeinen spricht, ist auch für Tisiphone gültig: „Madness, supremely, is the nonhuman in the human. Madness-daemons are mainly compound, female-cum-animal figures, human and nonhuman“100. So kann man auch die ovidische Tisiphone sehen: eine weibliche, mit Schlangenhaaren beschriebene Figur. Auf jeden Fall erkennen die Erinnyen Juno aufgrund der Nebel und der Überraschung nicht sofort.

Dann schildert Ovid die Behausung, in der der Frevel begangen wurde. Bernbeck sagt, „man erwartet, daß jetzt die Rede auf Ino und die Szene dadurch zu ihrem für die weitere Handlung entscheidenden Höhepunkt kommt. Aber nein!“101; man muss noch Geduld haben und warten. Diese Beschreibung des Auernus war ein Lieblingsthema bei den Dichtern, vor allen bei den Alexandrinern. Den Titel sedes scelarata übernimmt Ovid von Tibul. I 3, 67–68: at scelerata iacet sedes in nocte profunda / abdita, quam circum flumina nigra sonant. Es ist der berühmte τόπος ἀσεβῶν. Tibull war in Messalla verliebt, weswegen er ihr sagt, dass VenusVenus sie nach dem Tode zum Elysium führen wird, wo die Liebe herrscht; die Verurteilten aber werden in diesem sedes scelarata von Tisiphone gequält. Tibull erwähnt Ixion, Tityos, Tantalos und die Danaiden. Ovid fügt – laut Anderson – etwas ausgeklügelter hinzu: „This Sedes is not simply the place of punishment for evil, as in Tibullus, but also the actual seat from which the Furies rise to greet the goddess“102.

Ovid kommt zur Liste der Autoren, die die Namen der bekannten zu unnötigen, sinnlosen Qualen Verurteilten präsentieren. Castiglioni denkt eigentlich, „l’enumerazione delle pene, l’analisi minuta delle sofferenze eterne dei miseri, e il ricordo dei più illustri dannati costituivano un luogo comune“103. Die Namen dieser Unglücklichen finden sich schon in der bekannten Episode von Od. XI 576–600HomerOd. XI 576–600, die ein Echo bei Tibull, Lukrez und Ovid selbst, nicht nur in den Metamorphosen, sondern auch in seinem Ibis haben wird. Sogar außerhalb des Kreises der Dichter wird auch ein Bild von Polygnotos über Tityos in Paus. X 29, 3PausaniasPaus. X 29, 3 beschrieben. Die von Ovid vorgeschlagene Reihenfolge lautet: Tityos, Tantalos, Sisyphos104, Ixion105 und die Danaiden, die der Dichter Beliden106 nennt. In diesem Werk aber, etwas später (MetOvidMet. X 41–44. X 41–44), wird Ovid folgende Reihenfolge vermerken: Tantalos, Ixion, Tityos107, die Danaiden und Sisyphos. In Ou. IbOvidIb. 173–180. 173–180108 wird die Reihe so dargestellt: Sisyphos, Ixion109, die Danaiden, Tantalos110 und Tityos111. „Bei allen befindet sich Tisiphone in unmittelbarer Nähe“112.

Dann geht Juno vom Auge zur Zunge. Sie beginnt ihre Rede, die dem bitteren Selbstgespräch von Verg. AenVergilAen. I 34–49. I 34–49 ähnelt. Juno beklagt sich, dass Sisyphos der einzige Aiolide sei, der unter ewiger Qual leidet; falls es nicht klar genug ist, an wen sie denkt, erwähnt sie nachstehend: Athamas. Er wird zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur als superbus beschrieben; jedoch gibt es keinen literarischen Beleg vom Stolz des Aioliden, wie Bömer bemerkt: „Athamas gilt im allgemeinen nicht als ὑβριστής“113. Man muss annehmen, dass die von Juno bezeichnete Verachtung die Erziehung von Dionysos meint, weswegen auch Ino der Klage hinzugefügt wird. Obwohl Juno von einer Missachtung ihrer Person redet, erwähnt sie nie die echten Gründe ihrer Animosität Dionysos gegenüber.

Der reiche Palast von Athamas zeigt seinen Wohlstand. Mit Bernbeck kann man sagen, dass Junos Worte den Eindruck erwecken wollen, „als ob es ihr mehr um eine Bestrafung des Athamas als der Ino ginge, obwohl doch allein diese ihren Zorn gereizt hatte (420ff)“114.

Ovid bringt nicht den genauen Wortlaut von Juno, wohl aber den Sinn. Sie redet über den Anlass ihres Grolls – der echte Grund ihrer Reise –, von ihrer Absicht: der Zerstörung des Hauses von Kadmos – das hat mit dem Aioliden wenig zu tun – und davon, dass sie Athamas den verbrecherischen WahnsinnWahnsinn sendet. Bernbeck irrt sich m.E., wenn er sagt, „es scheint, als habe Juno ihren ursprünglichen Plan geändert“115 und denke nicht mehr an den bacchischen Wahnsinn. Meiner Meinung nach bezog sich das ipse docet von Vers 426 auf den Wahnsinn im Allgemeinen und nicht auf den bacchischen, wie die Erwähnung der tyrrhenischen Piraten zu bestätigen scheint. Interessant ist andererseits die Abwesenheit von Ino in Junos Forderung; die Göttin beruft sich nur auf KadmosKadmos und Athamas, aber es war Ino und ihr Prahlen, die Junos Groll verursachten.

Die Göttin verhält sich als Jupiters Frau (imperium), als olympische Göttin (promissa), und als eine von ihrem Mann verachtete Frau (preces). Das Verb confundit bezeichnet ganz genau die Verworrenheit ihrer von Groll und Hass motivierten Rede. Bernbeck behauptet, „diese Erzähltechnik ist in epischer Darstellung neu“116; in der Epik von Homer und Vergil werden die Reden üblicherweise buchstäblich wiedergegeben. Darüber hinaus benutzt Ovid eine provokante Technik: Er gibt die sekundären Bemerkungen von JunoJuno Wort für Wort wieder, wie z.B. die über Sisyphos, und deutet nur indirekt den Kernpunkt ihres Zornes und ihres Weges an, nämlich die Bestrafung Inos. Auffallend ist Halm-Tisserants Überlegung, wenn sie behauptet: „Conformément au champ d’action qui, dans la pensée antique, délimite les fonctions divines, Héra ne détient pourtant pas le pouvoir d’aliéner directement“117; dies ist der Grund, weshalb sie sich verschiedener Mittelspersonen, und zwar in diesem Fall einer Erinnye, bedienen muss.

 

Tisiphone anwortet Juno. Bömer erklärt, „die ovidische Gestalt der Tisiphone ist in unmittelbarer Konkurrenz zu Vergils Allecto konzipiert“118, wie in zwei Beispielen bei Vergil zu sehen ist: In der Aeneis bleibt Allekto immer unsichtbar (Aen. VII, 343–345VergilAen. VII 343–345)119 und auch die zu Amata geschickte Schlange kann nicht gesehen werden (Aen. VII 346–353VergilAen. VII 346–353). Ovid inszeniert Tisiphones Angriff auf eine sehr theatralische Weise, indem er die verschiedenen Motive untereinander verstärkt: Schlangen – giftiger Trank – Fackeln in Bewegung. Bömer beteuert, „das vergilische Motiv wird überhöht, variiert und verdoppelt“120. In Euripides’ Herakles gibt es auch eine Szene, die einige Kontaktpunkte dazu hat. Da erscheinen Iris und Lyssa vor Herakles’ Palast; „Iris exprime la volonté d’Héra, Lyssa doit l’exécuter“121. Der Unterschied zu Tisiphone liegt darin, dass Lyssa Heras Befehl ungern durchführt, indem sie auch ihre Sympathie für Herakles, Heras OpferOpfer, zeigt; bei Ovid willigt Tisiphone in Junos Aufforderung sofort ein, ohne sich zu zieren.

Ovid besteht ganz besonders auf der Aufregung wegen ihrer Haare122 und auf den Schlangen, die sie trägt. Anderson sieht in dieser Bewegung, wie „Ovid has wittily adapted a flamboyant move of contemporary Roman speakers“123. Bernbeck aber glaubt, „dadurch klafft zwischen Wesen und Erscheinung der Furie ein Widerspruch und ergibt wieder den Reiz der unangemessenen Vorstellung“124; seine Behauptung ist m.E. ein bisschen übertrieben. Die Erinnye ist direkt: sie braucht keine Umschweife125. Gesagt, getan (facta puta); auf diese Art wird Juno auch mit den sidonischen Gefährtinnen von Ino (Res dicta secuta est, Vers 550) umgegangen sein. Sie ermahnt die olympische Göttin, zur himmlischen Wohnung zurückzugehen; das heißt, sie muss die von ihr selbst gebrochene Ordnung wiederherstellen.

Juno kam zornig zur Unterwelt und sie verlässt sie sehr froh126. Vergil (Aen. I 81; VII 341VergilAen. VII 341VergilAen. I 81) schildert Junos Rückkehr zum Olymp nicht. Wenige Augenblicke gibt es, in denen sich Juno in der römischen Epik zufrieden zeigt; dies ist tatsächlich die einzige Notiz von Freude – ein bisschen böswillig gesagt – im gesamten Text. Nach Anderson, „Ovid must be referring irreverently to the end of Vergil’s epic (AenVergilAen. XII 841–842. 12841–42), where she gained satisfaction from an arrangement with JupiterJupiter (not the Furies) for the future of Italy“127. Iris128 wird aufgetragen, Juno vor ihrem Eintritt in den Olymp zu reinigen. Ganz ähnlich ist das Bild in Verg. Aen. VI 229–231VergilAen. VI 229–231, „wo nach der Bestattung des Misenus die Gefährten des Aeneas besprengt werden“129. Bernbeck denkt, dass diese Tat nicht dem göttlichen Status von Juno entspricht: „Befleckung widerspricht der Vorstellung der Götter als Inbegriff der Reinheit“130; Ovid vermischt Elemente der menschlichen Welt mit denen der göttlichen. Meiner Ansicht nach ist diese Bemerkung ein kleiner Tribut von Ovid an die Tradition, die die Unterwelt für die olympischen Götter unzugänglich sein ließ; jedenfalls muss Juno gereinigt werden, wenn sie zurückkehrt, denn sie hat einer Regel zuwidergehandelt und die Unterwelt hat sie beschmutzt.

Über Junos descensus zur Unterwelt ist viel geschrieben worden. Es scheint eine Erfindung von Ovid zu sein, wie in der Einleitung gesagt worden ist, aber Castiglione behauptet, „Nonno non manca di accenni speciali che potrebbero indurre a credere che in un modello anteriore si svolgesse un’azione simile all’ovidiana“131. Ovid ahmt Vergil in der Beschreibung der Unterwelt nach; allerdings besteht der innovative Charakter von Ovid darin, dass eine olympische Göttin, nämlich Jupiters Frau Juno, zur Unterwelt hinabsteigt und dieser descensus sich in Athamas’ Mythos befindet, etwas, das niemand früher beschrieben hatte. Beide Autoren, Vergil und Ovid, werden von Nonnos132 nachgeahmt, wenn HeraHera sich in die Unterwelt begibt, um Persephones Hilfe zu erbitten, damit diese die Erinnyen gegen Dionysos schicke und die mutlosen Inder unterstütze133. Obwohl es Unterschiede gibt134, ist der modus operandi der gleiche und sind die Ähnlichkeiten in beiden Texten reichlich vorhanden, wie z.B. die Betonung der vipernhaften Wildheit beider Erinnyen, die Andeutung ihres Giftes und der von ihnen verursachte Wahnsinn.

Nur seiner Merkwürdigkeit wegen sollte Viarres Vorschlag präsentiert werden, denn dieser Gelehrte interpretiert das Hinabsteigen aus einer magischen Perspektive: „Nous avons vu le contexte magique: l’obscurité … la préparation de Tisiphone et le rite de magie sympathique sur lequel s’achève son rôle …la descente dans le silence … le Styx, les ombres, Pluton, Cerbère, les Erynies; les habitants des Enfers avec leurs traditionnelles occupations reprises de la vie … les grands coupables, Ityos, Tantale, Sisyphe, Ixion, les Danaides“135. Dies ist m.E. eine weit hergeholte Lesart von Ovids Textstelle136.

 4’) Tisiphone greift Athamas und Ino an (481–511).

Tisiphone zögert nicht, wie Allekto (Aen. VII 341VergilAen. VII 341), und erfüllt ihr Wort sofort. Der ZornZorn von Vergils Juno benutzt Allekto, um den Krieg gegen die Trojaner in Italien zu beginnen137. Anderson aber glaubt, „Tisiphone simply ruins an innocent family of typically unheroic Ovidian victims, not significant epic personalities like Vergil’s Amata and Turnus“138. Wie man deutlich sehen kann und wie schon gesagt worden ist, wird der in der Epik üblicherweise präsentierte Einsatzbereich der Erinnyen geändert: „Relationships bonded by blood or promises are the Homeric Erinys’s sphere“139. Dieser Rolle der Eumeniden bei Homer wird eine andere hinzugefügt: Sie sollen darüber wachen, dass der Fluch gegen eine andere Person erfüllt wird140. Es gehört auch nicht zur TragödieTragödie des 5. Jh. v. Chr., dass die Erinnyen einem Menschen den WahnsinnWahnsinn schicken, damit er ein Verbrechen begeht141; üblicherweise ist es umgekehrt, wie das Beispiel von Orestes zeigt: Die Erinnyen foltern ihn mit Wahnsinn, weil er das Blut seiner Mutter vergossen hat142.

In den Metamorphosen wird aber weder eine Familienverbindung zestört noch die Gegenwart der Erinnyen angerufen, im Gegenteil: Tisiphone verursacht, dass ein Vater seinen eigenen Sohn umbringt. Das ist, wie schon angedeutet worden ist, eine absolute Revolution der bis dahin bekannten Funktionen der Erinnyen. Selbstverständlich heißt das nicht, dass Ovid diesen Begriff erfunden hat; hier wird nur angemerkt, dass die Erinnyen diese Rolle in den frühesten Etappen der griechischen Literatur nicht immer hatten: Sie wurde nach und nach im Laufe der Zeit eingeführt.

Tisiphone bereitet sich darauf vor, das Haus zu verlassen, „wie wenn sich eine römische Matrone zum Ausgang rüsten würde“143. Sie trägt den Mantel, in diesem Fall aus flüssigem Blut, und den Gürtel, in diesem Fall aus Schlangen144. Die blutige Fackel erhellt den dunklen Weg bis zur Welt der Lebendigen; diese Fackel gehört, wie die Schlangen, eigentlich zu der gewohnten Ikonographie der Erinnyen145. Möglicherweise wandelte sich die Fackel von einem Reinigungsmittel zu einem Folterinstrument aufgrund des von der Unterwelt geprägten Bildes der Folter.

Tisiphone tritt nicht allein heraus. Ein besonderes Gefolge begleitet sie: Luctus, Pauor, Terror, Insania. Bernbeck denkt, „er benutzt die Anregung Vergils zur Ausgestaltung einer theatralischen Prozession von Allegorien des Schreckens“146; Bömer aber glaubt, „Hesiod hat mit seinen Genealogien die gesamte antike Dichtung beeinflußt“147. Trauer gehört tatsächlich zu den sidonischen Frauen; Schrecken und Angst sind die ersten Wirkungen von Tisiphones Gegenwart auf der Erde; Irrsinn ist die letzte Auswirkung ihres Besuchs in Athamas’ Haus. Merkwürdig ist, dass nicht Furor, sondern Insania148 in all diesen Personifikationen von abstrakten Begriffen erwähnt wird. Normalerweiser ist es Pauor, der Hand in Hand mit verschiedenen Übeln geht, wie es bei Seneca (HFSenecaHF. 690–695. 690–695: Sopor, Fames, Metus …) bzw. bei Valerius Flaccus (II 204–206Valerius FlaccusVal.Flac. II 204–206: Discordia, Dolus, Rabies …) der Fall ist. Bömer hebt hervor, „Terror erscheint als Personifikation hier zuerst in der lateinischen Dichtung“149.

Padel weist treffend darauf hin, dass die Erinnyen, und in diesem Fall Tisiphone, ein riesiges Waffenlager haben (Schlange, Fackel, usw.), um den Wahnsinn einzuflößen. Allerdings, „their essential weapons are the victims’s feeling: madness, terror, nightmare, fear“150, das heißt, die Gottheit benutzt die den Menschen eigenen Gefühle, innersten Emotionen und Leidenschaften gegen sie selbst. Auf jeden Fall erscheint keine dieser Personfikationen während des Angriffs von Tisiphone auf der Bühne. Bernbeck kritisiert Ovid sehr stark – meiner Meinung nach allzu sehr – und sagt, „sein Interesse gilt in erster Linie den Augenblickswirkungen“151. Andersons Meinung ist schon eher zu folgen, nämlich dass alle diese Personifikationen eine bestimmte Funktion haben, obwohl sie nicht wörtlich expliziert werden: „Grief will desolate both Ino and her parents and eventually Terror (cf. 488–89) will be the immediate result of this demonic band; and Madness will carry out the purpose articulated by JunoJuno at 471“152.

Die Erinnye kommt unverzüglich ins Haus des Athamas und bringt dem Aioliden und seiner Frau den Wahnsinn. Ovid stellt den Irrsinn selbst nicht dar, wie etwa Euripides in einer Szene des Herakles; bei Ovid wird nur die Induktorin des WahnsinnWahnsinns präsentiert. Die Botschaft ist in beiden Fällen dieselbe: Der Wahnsinn kommt nicht aus dem Inneren des Menschen, sondern „madness is something external, invading, daemonic, autonomous“153.

Ovid verwendet eine epische Zeitkontraktion: „Schon steht (I 609) Tisiphone auf der Schwelle des Palastes in ThebenTheben“154. Die Schwelle des Palasts imitiert die Gegenwart derjenigen, die sie betritt: die Pfosten zittern und die Flügeltore aus Ahorn „perdent l’éclat que leur a donné la main de l’ouvrier“155. Es gibt eine gewisse Personifikation der Tore, die – infolge des Schreckens – wie ein menschliches Wesen erbleichen156. Dieses Erblassen der Tore aus Angst „ist ein bekanntes Motiv („die Umgebung reflektiert die Natur der Gottheit“)“157. In der Tat erinnert die Farbenänderung an die Liebeselegie, „wo die Tür oft über den schlechten Lebenswandel der Hausherrin klagt“158. Der Glanz ist so stark, dass sogar die Sonne verschwindet. Anderson betont, die „absolute opposition between the Sun and this creature of the Underworld, daughter of Night“159. Das Verbleichen und die FluchtFlucht der Sonne deuten im Voraus Athamas’ und Inos Blässe aus Angst und ihre Flucht durch das Dach an.

Ino und Athamas spüren die Anzeichen des kommenden Schreckens und versuchen zu fliehen. Tisiphone160 blockiert alle Ausgänge und schickt ihnen die Schlangen ihrer Haupthaare. Das Bild ist entsetzlich: Athamas und Ino werden umzingelt, angegriffen, von Schlangen bedeckt. Diese spucken ihr verdorbenes Blut und züngeln laut zischend. Dies verursacht eine alle Sinne durchdringende Angst. Ovid verwendet für diesen besonderen Begriff das Verb coruscant (494), wie Anderson erklärt: „He takes a verb that is usually transitive and much-used by Vergil to describe the brandishing of weapons, but intransitively refers to the flickering light of things, and applies it to the … movement of the reptile tongue“161; in der Tat wird Ovid dieses Verb nirgendwo weiter benutzen. Seinerseits wird Nonnos das Geräusch der Schlangen in seiner Beschreibung erweitern162. Die Nattern aber haben nur die Funktion, Angst zu machen und das Ehepaar festzubinden.

Tisiphone wirft anschließend zwei Schlangen, die Athamas und Ino nicht außen, sondern innen beschädigen sollen. Es gibt keine äußerliche Wunde: mens est, quae duros sentiat ictus (499)163. Wie in den Fasten (VI 493–494)OvidFast. VI 493–494 wird nicht nur Athamas, sondern auch Ino vergiftet. In dieser Beschreibung der Metamorphosen hat man den Eindruck, dass Vergil (Vgl. Aen. VII 350–356VergilAen. VII 350–356) wieder einmal Ovids Vorbild ist. Sowohl der Genitiv von Inos Name (Inoos) wie der von Athamas (Athamanteos) sind ungewöhnliche Bildungen. Inous kommt auch in Met. III 722OvidMet. III 722 und in AA. III 176OvidAA. III 176164 vor. Es scheint, dass Vergil der erste ist, der inVergilG. I 437G. I 437165 so schreibt. Athamanteos erscheint so zum ersten Mal in der lateinischen Literatur; es könnte eine ovidische Erneuerung sein. Andere Autoren haben diese Form danach auch verwendet, wie Statius166 und Martial167 .

 

Und damit nicht genug hat Tisiphone ein starkes, flüssiges Gift mitgebracht; Vergil begnügt sich mit der Wirkung der Schlangen von Allekto. Diese Szene ist nach Bömer eine „barocke Übertreibung …, sowohl im Ausdruck als auch in der Vorstellung“168. Haupt meint ebenfalls, „die Hervorhebung und Schilderung des Grausigen entspricht dem alexandrinischen Charakter der ovidischen Poesie“169. Halm-Tisserant glaubt, „l’interprétation que le poète latin offre de l’épisode (500–509) retient l’intérêt, parce que ne laissant pas vraiment place à la mania, elle associe la démence à la magie“170. Tisiphone erreicht ihr Ziel mit Hilfe von Drogen. Ovid trägt die Verschreibung dieses Gebräus nach dem hellenistischen Verständnis vor; Bömer bemerkt treffend: „In Wahrheit sind die im folgenden genannten uenena durchaus nicht alle liquida“171.

Der Schaum zeigt den WahnsinnWahnsinn an, obwohl er ein den Epileptikern zugehöriger Hinweis ist. Der scheußliche Geifer Echidnas deutet auf ihren fabelhaften Ursprung „à moitié jeune fille et à moitié serpent“172 hin; aus ihr und Typhon wurde Kerberos geboren. Der herumschweifende Wahn und die Verstörung der verblendeten Sinne, zusammen mit dem Vergessen, gehören zum furor. In der Mordlust und in den Tränen mischen sich Ursache und Wirkung. Das frische Blut belebt und verstärkt das Gift. Der Schierling ist das Gift par excellence jener Zeit. Das Gebräu wurde Anderson gemäß wie bei den Hexen gekocht und mit frischem Schierling verrührt. Dieses Gift wird Bernbeck nach ausführlich beschrieben, „weil die Bestandteile eine wesentliche Vorstellung von seiner Wirkung vermitteln“173. Bömer behauptet, indem er diese uenena mit Tisiphones Begleitung vergleicht: „Diese Phantasie greift an unserer Stelle sehr viel kühner aus als bei den üblichen Konkretisierungen abstrakter Begriffe, die im allgemeinen auf Personifikationen hinauslaufen, für die es zahlreiche Vorbilder gibt (IV 484ff.), und daher leichter vorstellbar sind als diese „neutralen“ oder „unpersönlichen“ Konkretisierungen“174. Athamas‘, nicht Inos Geist wird verwundet; sein Leib wird davon nicht berührt. Wie Cicero schreibt175, werden Seele und Leib unterschieden; der Wahnsinn, vor allem, der furor, gehört zur Seele, nicht zum Leib.

Es gibt eine andere Variante für den Vers 506, die eine bestimmte von Anderson vorgeschlagene Interpretation gestattet oder verhindert: uergit o uertit. Anderson nimmt das zweite Wort176 in Teubners Ausgabe an und meint, man solle hier den Kernausdruck der Metamorphose sehen: uertere in + Akkustiv. Er erklärt dies so: „But instead of saying the Fury turned their hearts into poison, he says that she turned poison into their hearts“177. Diese Deutung ist m.E. falsch, auch wenn die Lektüre uertit angenommen wird. Die Verwandlung, auf die Ovid im Mythos von Athamas hinweisen will, ist die von Ino und Melikertes in Götter und die der sidonischen Frauen in Standbilder aus Stein bzw. in Vögel. Meiner Meinung nach ist es nicht zutreffend, dass Ovid sich Athamas’ Wahnsinns-Prozess als eine bleibende Veränderung vorstellt. Die Prozesse sind irreversibel, Athamas’ Wahnsinn aber ist, im Prinzip, nicht für immer verhängt. Darüber hinaus haben die Metamorphosen bei Ovid eine physische Verwandlung zur Folge und dies ist bei Athamas nicht der Fall.

Bömer erklärt, dass furiale uenenum (506) „die faktitive Bedeutung ,ad insaniam compellens‘“178 hat. Das Gift wirkt in pectus, denn da ist der Sitz der Vernunft und der Gefühle des Menschen. In Verg. Aen. VI 472VergilAen. VI 472 wird von praecordia intima gesprochen. Dies ist das Bild des Wahnsinns: Der Irrsinn wird von der Gottheit verursacht – eben wenn sie sich einer Mittelsperson bedient –, aber er wirkt von innen, von den Lebensorganen des Menschen heraus. Dies ist m.W. der im Laufe der Zeit entstandene Kompromiss für das schwierige Dilemma über den Ursprung des WahnsinnWahnsinns: Kommt er von den Göttern oder von einer Fehlfunktion der menschlichen Organe? Padel äußert sich im selben Sinne, „‘Coming from god’ does not have to mean ‘from outside’: daemons are in us as well as outside us“179. Auf jeden Fall hat der Irrsinn seinen Ursprung in der göttlichen Welt, obwohl seine natürliche Ursache leicht erklärbar ist. Schließlich besiegelt Tisiphone alles mit dem Feuer ihrer Fackel (Met. IV 508–509OvidMet. IV 508–509): Tum face iactata per eundem saepius orbem / consequitur motis uelociter ignibus ignes.

Viarre meint, „quant aux émotions humaines qu’Ovide met en rapport avec le feu, elles sont, elles aussi, la plupart du temps, mauvaises et meurtrières“180. Möglich ist, dass Ovid sich von Vergil181 beeinflussen ließ, denn „in der Aeneis stößt Allecto Turnus die Fackel in die Brust und entflammt ihn zu kämpferischem Wahnsinn (VII 456 ff)“182. Anderson aber glaubt, „Ovid’s insistence on literary allusion and on allegory give his scene a distinctly non-Vergilian quality“183. Jedenfalls schließt Ovid Tisiphones’ Eingriff mit dem ersten Mittel aus, nämlich der Fackel aus Feuer, die sie aus der Unterwelt mitgenommen hatte.

Obwohl Ovid sich nicht so sorgfältig wie Vergil um die Gesamtheit des Werkes und die Harmonie der Teile kümmert, sind Bernbecks Behauptungen m.E. ein wenig übertrieben: „Um die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten der Ökonomie und der Zweckmäßigkeit für die Handlung ist er unbekümmert. Die Hauptsache ist ihm die bildhafte Anschaulichkeit der Einzelvorstellungen“184. Meiner Ansicht nach hat Ovid ein anderes Interesse und eine andere Erzählart, die als unzusammenhängend betrachtet werden könnte, die aber einen großen Vorteil hat: Sie ist sehr anschaulich.

Andererseits ist es seltsam, dass alle Attribute Tisiphones von Blut durchtränkt sind, während Athamas und Ino davon nicht betroffen sind: Kein Blutstropfen des Aioliden bzw. seiner Frau wird vergossen. Man hat eher den Eindruck, dass dieses Blut eine Metapher für das Blut ist, das Athamas vergießen wird, wenn er seinen Sohn tötet.

Tisiphone hat ihr Wort gehalten, sie kommt als uictrix185 zum Königreich von Ditis186 zurück und legt ihre Kleidung ab. Diese Beschreibung gehört eigentlich zur Epik: „Wenn eine Person ihre Mission erfüllt hat, tritt sie ausdrücklich von der Bühne ab“187. Dieser Titel, uictrix, wird auch auf Allekto in Aen. VII 544VergilAen. VII 544 zurückgeführt; der Unterschied liegt darin, dass „Tisiphone returns to the underworld unbidden at 4. 510–11 while Allecto must be ordered to go (AenVergilAen. VII 544–571. 7. 544–571)“188.

 5’) Athamas’ Jagd (512–519)

Das Gift tut Wirkung und seine Folgen treten unmittelbar ein. Athamas wird furibundus. Es scheint, dass Athamas’ WahnsinnWahnsinn nach Bömer in die attische TragödieTragödie zurückversetzt werden kann, obwohl dieser Forscher zugibt, „die Fragmente der Tragiker geben keinen Anhaltspunkt“189. Haupt behauptet seinerseits, „eine bestimmte Quelle vom Wahnsinn des Athamas und der Ino (vgl. zu 4, 420) läßt sich nicht nachweisen“190, auch wenn sich einige Züge in Kallimachos’ Werk erkennen lassen191. Dieser letztere Gelehrte denkt, dass das Platzieren des Anfangs von Athamas’ Wahnsinn vor seinem Palast entweder eine Erfindung von Ovid oder, vielleicht, die Kopie eines thebanischen Mythologienhandbuchs sein könnte. Selbst das Motiv der Jagd ist vor Ovid192 nicht ganz sicher; es könnte auch eine Erfindung des lateinischen Dichters sein.