Das qualitative Interview

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3Praktische Hinweise zur Gesprächsdurchführung

Gespräche, egal ob eher formell als Interviews oder eher informell geführt, sind Situationen, in welchen gemeinsam die Sichtweisen der Wirklichkeit verhandelt werden. Insofern kann man sie als einen interaktiven Aufbau sozialer Verstehensweisen im Sinne von Ko-Konstruktionen bezeichnen. Die bislang unter grundsätzlichen Aspekten behandelten Anforderungen an solche Gespräche sind mittels eines forschungspragmatischen – d. h. an den Forschungsbedingungen angepassten, anwendungsbezogenen – Zugangs umzusetzen. Diesbezüglich kommen drei Besonderheiten für solche Gespräche zum Tragen (dies gilt auch für die in Kap. 5 beschriebene Interpretation):

•Sie orientieren sich an den grundlegenden methodologischen Anforderungen einer interpretativen Sozialforschung (siehe Kap. 7);

•sie dienen der Analyse sozialer Systeme und stellen dabei sozialwissenschaftliche Gesichtspunkte in den Vordergrund;

•sie liefern Textprotokolle, die sich für die (Re-)Konstruktion objektiv-latenter Sinnstrukturen sozialer Systeme eignen.

Die in den folgenden Abschnitten nachlesbaren Hinweise sind nicht als Vorschriften misszuverstehen, sondern sollen die Gesprächsgestaltung erleichtern und bewusstmachen. Es geht nicht darum, ,Interviewfehler‘ zu verhindern und die Situation völlig kontrollierbar zu machen (dies ist unmöglich, weil die interviewende Person durch ihre Fragen, Bemerkungen oder auch durch bloßes aufmerksames Zuhören aktiv am Gespräch beteiligt ist; überdies soll die Eigendynamik solcher Gespräche nicht verhindert, sondern im Gegenteil gefördert werden). Es geht vielmehr darum, die Gesprächsstrategie so zu wählen, dass sie angesichts des Erkenntnisinteresses, des Forschungsgegenstandes und der sozialen Situation während der Erhebung die anschließende Interpretationsarbeit nicht unnötig erschwert. Daher gilt es, massive Eingriffe durch die Interviewer*innen und grobe Störungen des Gesprächsflusses zu vermeiden. Darüber hinaus sollen die Hinweise eine intensive Reflexion des Untersuchungsprozesses anregen, weil diese wertvolle Beiträge zum Verständnis sozialer Systeme liefern kann. Sollten hier ‚Ungereimtheiten‘ auftauchen, so bedürfen diese der Interpretation.

3.1Varianten der Gesprächsführung

In der Literatur zur Interviewführung findet sich eine fast unüberschaubare Fülle von unterschiedlichen Verfahren zur Gesprächsführung (Überblicke vgl. z. B.: Gillham 2005; Gubrium/Holstein 2003; Kruse 2015; Kvale/Brinkmann 2015; Gubrium et al. 2012), allerdings meist ohne eine Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen man eine Entscheidung über eine konkrete Vorgangsweise trifft. In der Forschungspraxis entsteht manchmal der Eindruck, als würde man einmal angeeig-nete Verfahren für alle Forschungsfragen nutzen und im besten Fall geringfügig modifizieren. Nur ist nicht jedes Verfahren gleichermaßen für alle Forschungszwecke geeignet. Vielmehr ist in Hinblick auf den Forschungsgegenstand zu überlegen, welches Wissen man mit solchen Gesprächen bei den befragten Personen generieren möchte, inwiefern das Setting ein wichtiger Faktor der Gestaltung eines solchen Gesprächs sein könnte und mit welchen Verfahren man das auf diese Weise generierte Material vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses sinnvoll interpretieren kann. Insofern befasst sich der folgende Abschnitt zunächst mit Entscheidungskriterien bezüglich wesentlicher Grundsätze der Gesprächsführung. Anschließend werden einige in der Literatur angesprochene Grundtypen von Interviewverfahren zumindest kurz thematisiert. Das bietet einen ersten Überblick über die Variabilität von Verfahren und damit einen Einstieg in die weiteren Überlegungen zur Entwicklung einer geeigneten Gesprächsstrategie. Insofern finden sich auch hier Anregungen zur Modifikation der in Abschnitt 3.4 angeführten Gesprächsphasen, um die Vorgangsweise an die aus dem Forschungsinteresse und dem Forschungsgegenstand resultierenden Anforderungen anzupassen.

3.1.1Entscheidungskriterien zur Gesprächsführung

Gesprächsaussagen sind immer (re-)konstruktive Darstellungen von Sachverhalten, die meist außerhalb der jeweiligen Gesprächssituation liegen, auf die konkrete Gesprächsdynamik abgestimmt sind und damit nicht mit den dargestellten Sachverhalten zu verwechseln sind (vgl. Honer 2003). Es verhält sich so, wie mit der berühmt gewordenen Pfeife von René Magritte: Er notierte unter das von ihm gemalte Bild einer Pfeife, dass dies keine Pfeife sei. Man braucht ja nur zu versuchen, diese Pfeife zu rauchen. Es gibt also Pfeifen in der Welt da draußen, die man rauchen kann; es existiert die Darstellung einer Pfeife, wie Magritte sie uns zeigt (sie muss nicht mit einer konkreten Pfeife übereinstimmen und vermutlich hätte sie ein/e Vertreter*in des Expressionismus oder des Kubismus anders dargestellt); und wir haben eine Vorstellung einer Pfeife, weil wir gelernt haben, welche Gegenstände wir mit diesem Begriff bezeichnen (dieser Begriff bezieht sich auf keine konkrete Pfeife, sondern auf die Gegenstandskategorie, die man als Pfeifen bezeichnen kann). Was also Menschen erzählen, ist eine Umarbeitung der äußeren Welt: also wie sie diese erleben, darstellen, dabei bezeichnen und bei anderen eine Vorstellung auslösen, die nicht mit dem Gemeinten übereinstimmen muss. Die Art, wie sie das tun, ist nicht zufällig oder beliebig, sondern sie haben sie sich während ihrer Sozialisationsgeschichte, auf Grundlage ihrer Erfahrungen im Zuge der Auseinandersetzung mit der Welt und in Interaktionsbeziehungen mit anderen angeeignet. Will man diese Welt erkunden, so muss man dabei eine Reihe von Entscheidungen treffen: Will man wissen, was die Person zu bestimmten Sachverhalten oder ihren Erlebnissen erzählt? Will man bestimmte Fragen beantwortet haben? Möchte man wissen, was für die Person wichtig ist und wie sie die Welt erlebt und beschreibt? Möchte man hören, wie eine Person in Anwesenheit anderer redet oder wie sie abgeschottet von ihrem sozialen Umfeld argumentiert? Möchte man wissen, was die Person dazu bringt, auf eine [44]bestimmte Weise zu sprechen, um die Hintergründe für die Aussagen zu erkunden? Bei all diesen Fragen spielen drei Dimensionen eine besondere Rolle: das Wissen, an dem man interessiert ist; das Setting, in dem man das Gespräch führt und damit einen spezifischen Kontext für die Argumentation schafft; die Art, wie man anschließend mit dem Material umgeht (vgl. Lueger/Froschauer 2018b).

a)Entscheidungskriterium Wissen

Im Zentrum steht bei diesem Kriterium die Frage, welches Wissen bei den befragten Personen aktiviert werden soll, wobei sich je nach Forschungsinteresse unterschiedliche Ansatzpunkte ergeben:

•Zur Vorbereitung einer Studie werden häufig mit dem Gegenstandsbereich befasste externe Expert*innen herangezogen, um deren Erfahrungen und Kenntnisse zu einem Themenbereich zu erkunden. Indem man ihr Wissen für eine Studie nutzt, kann man nicht nur den Blickwinkel erweitern, sondern sich auch für das Forschungsfeld sensibilisieren. Oder man kann deren Darstellung heranziehen, um zu erkunden, wie verschiedene Expert*innen (etwa aus verschiedenen Disziplinen) an den Forschungsgegenstand herangehen, welche Schlussfolgerungen sie ziehen und wie sich daraus ihre besondere Sichtweise herauskristallisiert. Expert*inneninterviews sind dafür eine angemessene Strategie der Gesprächsführung (vgl. z. B. Bogner/Littig/Menz 2009; Bogner/Littig/Menz 2014; Kaiser 2014).

•In vielen interpretativ orientierten Studien steht zumindest ein Ausschnitt der Lebenswelt der Befragten im Zentrum, den man aus deren Perspektive verstehen möchte. Für diese perspektivische Betrachtung ist es unabdingbar, den Gesprächspartner*innen einen möglichst großen Gestaltungsspielraum für ihre Darstellung zu übertragen. Entsprechend bieten sich dafür narrative und offene Strategien der Gesprächsführung an (vgl. z. B. Schütze 1977; Glinka 2016).

•Ethnografische Studien rücken die umfassende Beschreibung der sozialen Welt unter besonderer Berücksichtigung der praktischen Erzeugung von Wirklichkeit sowie der Ordnung sozialer Interaktionen im lebensweltlichen Kontext in das Zentrum des Interesses. Folglich ist es bei der Durchführung von Interviews wichtig, die Aufmerksamkeit der Gesprächspartner*innen darauf zu lenken, welche kulturellen Überzeugungen sie hegen und wie sie ihre Vorstellungswelt erzeugen. Dafür bieten sich ethnografische Gespräche oder andere offen gehaltene Gesprächsführungsstrategien an (vgl. z. B. Spradley 2016; Skinner 2014).

•Interessiert man sich für spezifische und eng gefasste Themenbereiche oder für offene Fragen in einem Forschungsprojekt, so sind problem- oder themenzentrierte Interviews ein angemessener Zugang. In solchen Fällen besteht die Kunst der Gesprächsführung in der Fokussierung auf einen konkreten Gegenstandsbereich, ohne diesen zu stark zu prädeterminieren (vgl. z. B. Witzel/Reiter 2012; Witzel 1985).

•[45]Individuelle Entwicklungsverläufe zur Erkundung von Biografien forcieren die Betrachtung und rückblickende Reflexion der Befragten. In diesem Fall bieten sich narrative und offene Formen der Gesprächsführung an, die sich auf die Darstellung der eigene Biografie und deren Interpretation durch die Befragten konzentrieren (oder diese aus der Perspektive des sozialen Umfeldes beschreiben) und dafür das Gespräch auf die Entwicklung der Lebenslage sowie die damit einhergehenden Ereignisse, Handlungen und Sichtweisen fokussieren (vgl. z. B. Atkinson 1998; Rosenthal 2015: 189ff.; Lutz/Schiebel/Tuider 2018: 525ff.).

 

•Im Kontext partizipativer Forschung oder von Aktionsforschung bildet die Aktivierung und Anregung der Gesprächspartner*innen eine wichtige Komponente der Gesprächsführung, geht es doch darum, die Befragten dabei zu unterstützen, ihren eigenen Möglichkeitsraum auszuloten und dabei die Selbstwirksamkeit der befragten Einzelpersonen oder Kollektive zu fördern. Dafür bieten sich bestimmte Settings (etwa Gruppen zur Anregung von Prozessen, Einzelpersonen zur Reflexion) oder spezifische Fragetechniken an (vgl. z. B. rekursives Fragen: Deissler 1986; Pfeffer 2004), um die Befragten zum kritischen Überdenken der Geschehnisse und zu alternativen Deutungen ihrer Situation anzuregen oder zu neuen Handlungsmöglichkeiten zu führen.

•Mitunter ist es sinnvoll, in Gespräche auch Materialien einzubringen oder diese im Zuge des Gesprächs herstellen zu lassen, um entweder den Fokus auf bestimmte Themen zu lenken, Strukturierungsleistungen anzuregen oder alternative, nicht verbale Darstellungsformen zur verwenden und diese zu diskutieren. Dafür bieten sich etwa Fotointerviews, Vignettengespräche oder verschiedene zusätzliche Darstellungsformen und entsprechende Unterstützungen an (vgl. z. B. Collier 1995: 245; Collier/Collier 1992: 99ff.; Miko-Schefzig 2019: 289ff.).

b)Entscheidungskriterium Setting

Das Setting eines Gesprächs ist deshalb nicht zu vernachlässigen, weil es massiv in die Gesprächsdynamik und in die Thematisierungsbedingungen der besprochenen Inhalte eingreift. Das rückt die Frage in das Zentrum, wie man die Gesprächssituation arrangiert, um möglichst viel über die Lebenswelt der befragten Personen zu erfahren. Je nach sozialem Setting werden unterschiedliche soziale Dynamiken aktiviert (etwa entsprechend den jeweiligen Gesprächsteilnehmer*innen), die Struktur des Interviews wird damit verändert (etwa durch wiederholte Gespräche), die Aufmerksamkeit wird ein Stück weit gelenkt (etwa nach Ort, medialer Vermittlung oder Sitzordnung) und auch die Besonderheiten der Gesprächspartner*innen (etwa Artikulationsfähigkeit) verdienen eine entsprechende Aufmerksamkeit. Insofern geht es darum, das für den jeweiligen Forschungsstand und das Erkenntnisinteresse sinnvollste Setting zu wählen:

•[46]Einzelgespräche bieten sich dann an, wenn ein besonderes Interesse an individuellen Sichtweisen oder Erläuterungen besteht. Solche Gespräche schotten die befragte Person weitgehend von Eingriffen dritter Personen ab und simulieren eine gleichsam geschützte Privatatmosphäre. Ein wesentlicher Vorzug einer solchen Gesprächsführung ist die starke Betonung der persönlichen Meinung, die ohne direkte externe Einflussnahmen (außer durch die interviewende Person) vorgebracht wird. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die soziale Relevanz der Aussagen vergleichsweise gering ist und die Isolierung von der Umwelt sowie strukturierende Eingriffe seitens der interviewenden Person besonders stark in das Gespräch intervenieren und durch die Fragen in eine bestimmte Richtung lenken. Deshalb sind im Zuge der Interpretation die gestellten Fragen oder andere Eingriffe in die Gesprächsführung jedenfalls zu berücksichtigen. Zur Erkundung latenter Sinnstrukturen bieten sich narrative, ethnografische und biografische Interviews an, während im Rahmen der Analyse manifester Inhalte eher problem- und themenzentrierte Gesprächsformen sinnvoll sind. Expert*innengespräche werden ebenfalls meist als Einzelgespräche geführt und bewegen sich je nach Zielsetzung zwischen den Polen einer offenen Erkundung des Expert*innenwissens und einer gezielten Abfrage des für die Forschung als nötig erachteten Fachwissens.

•Völlig anders sollten Gespräche angelegt sein, wenn die Analyse sozialer Dynamiken, die Erkundung kollektiver Sicht- und Handlungsorientierungen oder die soziale Relevanz von Aussagen den Kern des Forschungsinteresses bilden. Das gelingt besonders gut mit Mehrpersonengesprächen, die von der internen Gesprächsdynamik profitieren, weil die Teilnehmer*innen einen Teil ihrer Interaktion selbst organisieren und aufgrund ihrer unmittelbaren Präsenz aufeinander Bezug nehmen können (vgl. z. B. Loos/Schäffer 2001; Kühn/Koschel 2018; Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010). Allerdings ist in diesen Gesprächen die Zusammensetzung der Gesprächsrunde ein entscheidender Aspekt, weil sie die Art der Bezugnahmen massiv beeinflusst (etwa als Diskussion unter Gleichgestellten, zwischen verschiedenen hierarchischen Positionen, zwischen untereinander fremden oder bekannten Teilnehmer*innen). Solche Mehrpersonengespräche bieten sich dann an, wenn Gruppen, komplexe Sozialsysteme, Kooperationsbeziehungen oder soziale Prozesse untersucht werden.

•Eine spezifische Variante sind Fokusgruppengespräche, die in der Regel dafür herangezogen werden, um die Meinungen verschiedener Personen zu explizit angesprochenen Themen zu erkunden. Diese Form der Gesprächsführung weist häufig eine klare Themenzentrierung auf und wird ausgleichend moderiert, wobei für die Auswertung meist der manifeste Inhalt von entscheidender Bedeutung ist (vgl. z. B. Morgan 1988; Schulz/Mack/Renn 2012).

•[47]Longitudinalinterviews (vgl. z. B. Hermanowicz 2013) sind Gespräche, die mit denselben Personen über einen längeren Zeitraum hinweg geführt werden und einen Entwicklungsverlauf über mehrere Einzelgespräche hinweg betrachten. Das macht es möglich, im Rahmen von Längsschnittstudien Prozesse und Veränderungen in den Sicht- und Handlungsweisen zu verfolgen. Auch im Zusammenhang mit Biografieforschung ist ein solches Setting sinnvoll, um nicht nur die Geschichten weiter zu elaborieren, sondern auch um Zwischenphasen zur Reflexion einzuschalten.

•Aufgrund der Bedeutung der physischen Anordnung des Gesprächssettings ist es sinnvoll, den Gesprächsort sorgfältig zu wählen. Dabei geht es nicht immer darum, eine ruhige und ungestörte Gesprächsatmosphäre zu schaffen und damit das Gespräch vom Alltag abzusondern. In manchen Fällen ist es angebracht, genau dieses Umfeld einzubeziehen, um eine Nähe zum Forschungsgegenstand herzustellen. Wenn man also im Rahmen einer Organisationsanalyse möchte, dass die befragten Personen aus der Distanz über die Organisation reflektieren, so ist es sinnvoll, den Gesprächsort vom Arbeitsort zu trennen. Wenn man hingegen die Einbettung in den Arbeitsalltag stärker in den Vordergrund rücken möchte, ist das Gespräch im Arbeitsbereich mit all seinen Störungen und Besonderheiten zweckmäßig. Auch die Sitzordnung ist, falls man das steuern kann, zu berücksichtigen (etwa ein runder Tisch für offene Gruppengespräche, um die gleichberechtigte Teilnahme zu symbolisieren). Für Raumerkundungen kann es hilfreich sein, das Gespräch nicht lokal fixiert, sondern während eines gemeinsamen Rundgangs zu führen und sich dabei den Arbeitsbereich oder das spezifische Milieu erläutern zu lassen.

•Zu berücksichtigen sind in den Gesprächen auch spezifische Eigenheiten der befragten Personen. Das betrifft insbesondere die Sprachkompetenz, die bei vielen Personen aus unterschiedlichen Gründen eingeschränkt sein kann: etwa wenn Migrant*innen nicht in ihrer ursprünglichen Sprache kommunizieren und sich schwertun, ihre Sicht in einer fremden Sprache angemessen auszudrücken. Im Fall von Kindern ist es die spezifische Aufmerksamkeit, aber auch die Altersdifferenz, die ein Eltern-Kind-Verhältnis oder ein Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schüler*innen aufleben lassen und die Interaktion nachhaltig verändern. In Gesprächen mit dementen Personen ist auf die vielen Redundanzen aufgrund der veränderten Gedächtnisfunktion Bedacht zu nehmen. Grundsätzlich spielen solche Faktoren in jedem Gespräch eine Rolle – aber in Fällen wie den erwähnten sind sie massiv verstärkt und modifizieren entsprechend den Gesprächsverlauf.

•Letztlich sind auch Sonderformen des Settings zu berücksichtigen: In der Regel werden Forschungsgespräche face to face vor Ort mit Einzelpersonen oder mit mehreren Personen geführt. In manchen Fällen ist dies nicht möglich. In solchen Fällen können medial vermittelte Gespräche geführt werden. Allerdings sind dabei sowohl während der Erhebung als auch im Zuge der Inter-[48]pretation die Besonderheiten der jeweiligen Datensorte zu berücksichtigen. Während die Veränderungen der Gesprächsdynamik im Zuge von Skype-Interviews (Bild- und Tonübertragung) noch vergleichsweise gering sind, wenngleich hier das Setting sich auf den Bildausschnitt vor der Kamera zentriert (ausgeblendeter Kontext) sowie die Besonderheiten der Übertragung (etwa Bild- und Tonqualität) durchaus Irritationen verursachen können (vgl. z. B. Leinhos 2019), fehlt bei Telefoninterviews der visuelle Kontakt gänzlich. Generell schaffen solche Telefongespräche eine spezifische Form der Distanzierung, die den unmittelbaren situativen Kontext der Gesprächspartner*innen ausblendet (vgl. z. B. Schulz/Ruddat 2012). Führt man ein solches Gespräch mit mehreren Teilnehmer*innen, so stellt sich darüber hinaus das Problem der Identifikation der Gesprächspartner*innen. Besonders im telefonischen Kontakt zwischen fremden Personen erweist es sich meist als schwierig, in Mehrpersonengesprächen einzelne Teilnehmer*innen zu identifizieren, zu adressieren oder den Sprecher*innenwechsel zu organisieren. All das macht medial vermittelte Gespräche mit mehreren Personen nicht nur erhebungstechnisch zur Herausforderung, sondern kann auch die Transkription und Interpretation erheblich beeinträchtigen. Asynchrone Settings auf der Basis schriftlicher Kommunikation (vgl. z. B. James/Busher 2012) sind besonders einfach zu organisieren (einfache Dokumentation, keine räumlichen und zeitlichen Restriktionen), weisen aber höhere Ausfallsraten auf. Zudem sind sie keineswegs einfach zu interpretieren (außer in Hinblick auf den manifesten Inhalt), da die mediale Vermittlung die Bedingungen für die Formulierung der Aussagen weitgehend dem Einblick entzieht und auch die Art der Formulierung dadurch stark beeinflusst ist (allein oder mit bzw. von anderen geschrieben, spontan oder wohlüberlegt, ausformuliert oder nur knapp angedeutet). In all diesen Fällen muss die Analyse diese Besonderheiten dieser Textsorte berücksichtigen, also auch den spezifischen Kontext der Textproduktion einbeziehen.

c)Entscheidungskriterium Interpretation

Letztlich stellt sich die Frage, welche Erkenntnis man aus den Gesprächsmaterialien gewinnen möchte, also worauf man die Interpretation der Texte konzentriert. Idealtypisch geht es dabei um zwei Ausrichtungen:

•Genuin interpretative Forschungsarbeiten sind meist an den latenten Gehalten von Gesprächsaussagen interessiert, also was die Gesprächspartner*innen dazu bringt, sich auf eine bestimmte Weise zu äußern, dabei eine bestimmte Erzählform zu wählen, spezifische Themen in den Vordergrund zu rücken, oder wie sie auf andere Bezug nehmen. Da sich viele Strukturmomente in den Gesprächen entfalten, ohne bewusst von den Gesprächsbeteiligten eingebracht oder wahrgenommen zu werden, ist es wichtig, den Subtext zwischen den Zeilen zu verstehen. Damit dies möglich ist, müssen Gesprächsteilnehmer*innen die Chance erhalten, ihre Erzähllinien und Themen sowie die [49]Fokussierungen und Relevanzen nach ihrem eigenen Ermessen zu entfalten. Die Interviewführung konzentriert sich daher vorrangig auf die Weiterführung der Themen und die Schaffung eines für die befragten Personen angenehmen Gesprächsklimas. Dadurch wird die Analyse der Hintergründe der geäußerten Themen, des damit verbundenen Erfahrungshorizonts, der dabei aktivierten individuellen und kollektiven Wissensbestände, der Formen der Sprechpraxis, der verschiedenen Diskurspositionen oder der spezifischen Sichtweisen und deren Implikationen für den sozialen Kontext der befragten Personen ermöglicht. Insofern korrespondieren mit solchen Interpretationsstrategien vorrangig offene und narrative Formen der Gesprächsführung, weil sie die Strukturierung des Gesprächs durch die Befragten unterstützen.

•Den Gegenpol bilden jene Forschungsarbeiten, die sich vorrangig auf den manifesten Gehalt der Gespräche konzentrieren, also darauf, was die befragten Personen erzählen. Es geht also weniger um die Interpretation der Gespräche, sondern um deren Auswertung auf einer inhaltlichen Ebene. Richtet sich also das Erkenntnisinteresse auf die Meinungen der Gesprächspartner*innen oder die Erkundung der Aussagen zu spezifischen Themen, dann bieten sich vorrangig inhaltsanalytische Verfahren an (vgl. Mayring 2015; siehe auch Abschnitte 5.4 zur Themenanalyse und 5.5 zur Zusammenfassung manifester Inhalte), die sich meist an der Schnittstelle zu quantitativ orientierten Methodologien bewegen. Die dafür geeigneten Gesprächsformen sind daher in der Regel stärker auf jene Themen hin ausgerichtet, die für eine Studie als besonders relevant erachtet werden. Insofern sind hier problem- oder themenzentrierte Interviews, Fokusgruppeninterviews, manche Expert*innengespräche oder stark an Leitfäden ausgerichtete Gespräche angemessen (vgl. z. B. Gläser/Laudel 2010).

 

Vor diesem Hintergrund sind Erhebungsverfahren und Interpretationsverfahren aufeinander abzustimmen.