Das qualitative Interview

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2Grundlagen qualitativer Forschungsgespräche

Stellen Sie sich vor, Sie sollen einem größeren Auditorium eine Vortragende vorstellen, die Sie selbst nicht kennen, von der Sie auch nichts wissen und mit der zu sprechen Sie erst fünf Minuten vor dieser Kurzpräsentation eine Gelegenheit haben. Wie gehen Sie dabei vor?

Natürlich gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, diese Situation zu meistern. Eine davon ist folgende: Da Sie zwar das Auditorium kennen, nicht aber die Vortragende, überlegen Sie sich, was das Auditorium über die vorzustellende Person wissen sollte. Entsprechend stellen Sie Fragen wie beispielsweise nach dem Werdegang, den wichtigsten Stationen ihres Wirkens und vielleicht (damit Sie zur Auflockerung auch etwas sagen können) stellen Sie eine Frage zur Anreise.

Eine solche Vorgangsweise wäre durchaus verständlich und ist in derartigen Kontexten auch üblich. Aber was erfahren Sie auf diese Weise? Zuerst einmal füllen Sie mit solchen Fragen Lücken in Ihrem eigenen Denkschema (z. B.: Was will das Publikum hören, wie kann man die Vorstellung auflockern, was sind zentrale Informationen, um die vorgestellte Person einordnen zu können? etc.). Eine solche Fragetechnik setzt voraus, dass Sie schon im Vorfeld wissen, was relevant ist. Im Zuge dessen erfahren Sie, was Sie für wichtig erachten – aber eben nur dieses (sofern die von Ihnen befragte Person nicht extemporiert). Indem Sie mit Ihren Fragen die Struktur vorgeben, erfahren Sie nichts darüber, was möglicherweise der Vortragenden selbst wichtig sein könnte.

Wenn Sie hingegen wissen möchten, was der befragten Person wichtig ist, müssen Sie ganz anders vorgehen: Sie können schlicht danach fragen, was die Vortragende möchte, dass Sie dem Auditorium über sie erzählen. Die Intention dieser Strategie ist daher eine völlig andere: Nicht Sie geben eine Struktur vor, sondern die befragte Person muss auf der Grundlage einer Frage eine eigene Struktur entwickeln. Diese enthält zwangsläufig eine Präferenz über die Selbstdarstellung. Und selbst wenn Sie nichts anderes zur Antwort bekommen, als die erstgenannte Fragestrategie ihnen offenbart hätte, so besteht dennoch ein fundamentaler Unterschied: Im ersten Fall wissen Sie nichts über die Bedeutung dieser Inhalte; im zweiten Fall können Sie jedoch davon ausgehen, dass diese Inhalte etwas mit der Person oder ihrer Einschätzung der Situation zu tun haben.

Im Zentrum qualitativer Interviews steht die Frage, was die befragten Personen für relevant erachten, wie sie ihre Welt beobachten und was ihre Lebenswelt charakterisiert. Dafür bietet sich eine Vorgangsweise an, die der zweiten Variante entspricht, weil nur diese die Möglichkeit eröffnet, aus der Perspektive der befragten Person heraus den für sie bedeutsamen Kontext zu untersuchen. Das gilt generell für die Analyse sozialer Systeme. Wenn Sie sich etwa für Führungsstrukturen in einem Unternehmen interessieren, können Sie nach diesem Muster danach fragen, was ,Führen‘ im Unternehmen heißt oder welche ,Führungsrichtlinien‘ gelten. Die be-[15]fragten Personen müssen dann für sich klären, was überhaupt Führung bedeutet, sie müssen also ihre Antwort in ein Relevanzsystem integrieren, das sie in der Antwort implizit transportieren. Eine solche Frage kann aber auch eine Gegenfrage auslösen, etwa in der Art, was man denn in dieser Frage unter ‚Führung‘ verstehe, damit man die Frage richtig beantworten kann. Aber selbst diese Gegenfrage ist bereits eine erste Antwort auf die Frage, denn damit fordert die rückfragende Person eine (autoritative) Vorgabe, an der sie sich orientieren oder der sie widersprechen kann. Und damit wird bei genauer Hinsicht das Führungsthema bereits in der Interaktionssituation vorgeführt. Der Nachteil einer solchen Strategie ist, dass die angesprochenen Personen von ihren eigenen Führungserfahrungen abstrahieren und erzählen, was man eben über Führung so erzählt, womit sie die Antwort auf eine öffentliche Situation (wie das Interview eine ist) anpassen. Dadurch erfahren Sie zwar etwas über führungsrelevante Vorstellungen, aber wenig über Führung im alltagspraktischen Kontext.

Darüber hinaus können Sie noch offener vorgehen, indem Sie Ihr primäres Interesse, nämlich Führung, überhaupt nicht thematisieren, sondern das Gespräch generell über den Arbeitsalltag führen. Eine solche Verfahrensweise erscheint zwar etwas paradox, weil vielfach angenommen wird, Interviewer*innen müssten das ansprechen, was sie unmittelbar interessiert. Aber indem man die Themenführung den befragten Personen überträgt, entscheiden diese, ob führungsrelevante Aspekte überhaupt zur Sprache kommen. Wenn dies der Fall ist, dann ist von Interesse, wie diese Thematik zum Ausdruck kommt. Auf diesem Weg erfahren Sie nicht nur etwas über ‚Führung‘, sondern darüber hinaus etwas über die Bedeutung, den Kontext oder damit verbundene Handlungsstrategien. Falls die Gesprächsteilnehmer*innen ‚Führung‘ explizit ansprechen, können Sie diese Thematik vertiefend behandeln.

Damit ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen bereits angesprochen: Qualitative Forschung widmet sich der Untersuchung der sinnhaften Strukturierung von Ausdrucksformen sozialer Prozesse. Es geht also darum zu verstehen, was Menschen in einem sozialen Kontext dazu bringt, in einer bestimmten Weise zu handeln, welche Dynamik dieses Handeln im sozialen Umfeld auslöst und wie diese auf die Handlungsweisen zurückwirkt. Im Zuge dessen fokussieren qualitative Analysen die gesellschaftliche Verankerung der Praxis menschlichen Handelns, sozialer Ereignisse und deren Entwicklungsdynamik (allgemein: die Strukturiertheit sozialer Prozesse) und versuchen diese einem theoretisierenden Verständnis zuzuführen. Die Erhebungsmethode übernimmt dabei die Funktion, jene Materialien zu beschaffen, die diesem Anspruch gerecht werden können.

Hinter einer solchen Fragestrategie, die den befragten Personen eine möglichst umfassende Strukturierungsleistung abfordert, stehen – und das wird im Kapitel 7 noch ausführlicher besprochen – eine Reihe von Annahmen. Diese beziehen sich auf die Durchführung der Erhebung und deren Integration in einen Forschungskontext, um ein bestmögliches Verständnis eines untersuchten sozialen Systems zu ermöglichen. Einen allgemeinen Hintergrund bilden die im Folgenden kurz umris-[16]senen Annahmen über den Gegenstandsbereich, die eine interpretativ orientierte Forschungsstrategie leiten:

•Phänomene kommen nur in einem kommunikativen Prozess der Vergesellschaftung zur Geltung. Wie Menschen handeln, ist nicht bloß Resultat subjektiver Überlegungen oder Planungen, die Außenstehenden nicht zugänglich sind (gemeinter Sinn), sondern ist in einen kollektiv geformten lebensweltlichen Horizont aus Relevanzstrukturen und Typisierungen integriert. Dies rückt die Prinzipien der Strukturierung sozialer Beziehungen und der Bedingungen der Verständigung in das Zentrum qualitativer Studien. Die Perspektive einzelner Personen, wie sie in Interviews zum Ausdruck kommt, ist folglich nur der Ausgangspunkt für die Analyse, die in die (Re-)Konstruktion der subjektunabhängigen Regeln der Organisierung von sozialen Systemen mündet.

•Die Praxis menschlichen Handelns weist darüber hinaus eine eigenständige Dynamik auf. Die im sozialen Kontext produzierte Sinnhaftigkeit und die Orientierung des Handelns an anderen Personen bilden einen gemeinsamen Rahmen, der individuelle Handlungsstrategien in einen Kontext integriert. Durch das miteinander verbundene Handeln vieler Akteur*innen entsteht ein gesellschaftliches Milieu, welches diesen als äußerliche Rahmenbedingung entgegentritt und dem sie potenziell ausgeliefert sind. Die Analyse sozialer Systeme mittels Interviews ist ein typischer Fall einer solchen Kontextanalyse: Das Gespräch wird als Manifestation eines Kontextes, nämlich des sozialen Systems interpretiert, in dem die Menschen ihre situativen und allgemeinen Vorstellungen, Erwartungen und Handlungsweisen entwickeln. Dabei sind die Inhalte nur eine Komponente für die Analyse; genauso wichtig sind die Darstellungsformen, weil sich hier die Reproduktionsmechanismen eines sozialen Systems sowie die Spezifika der Außendarstellung am deutlichsten offenbaren.

•Soziale Phänomene unterliegen einer permanenten Fluktuation, in der sich die Reproduktionsstrategien von Kollektiven und die Lebensbedingungen aller Mitglieder einer Gesellschaft (langsam oder krisenhaft) verändern. Aus diesem Grund ist die Entwicklungsdynamik, d. h. die (Re-)Konstruktion der Logik und die Entfaltung von Entwicklungskräften, Bestandteil jeder Analyse. Der Begriff der sozialen ‚Logik‘ meint dabei jene Regeln, die konkretes Handeln mit einer sinnhaft erlebbaren Ordnung versehen. Zum einen bezieht sich diese Ordnung auf die Beziehungen zwischen den Elementen eines Phänomens (Relationalität), andererseits auf die zeitliche Abfolge (Sequentialität) von Interaktionen.

•Den zentralen Analysefokus im Untersuchungsfeld bilden folglich Lebensäußerungen und deren zugrundeliegende Regeln (z. B. die Äußerungsstruktur, die spezifische Kontextbezogenheit, die kommunikative Dynamik). Interpretative Analysen sind hierbei mit dem Problem konfrontiert, sich mit einem Gegenstandsbereich zu befassen, der sich einer Beobachtung nicht unmittelbar präsentiert (z. B. Sinn, Struktur), sondern sich nur erschließen lässt. Erkenntnisse sind daher Konstruktionen aus einer spezifisch wissenschaftlichen Perspektive, die den Erkenntnisgegenstand theoretisierend dem Verständnis zugänglich machen. [17]Dieser konstruktive Charakter erfordert gewissenhafte Maßnahmen zur Qualitätssicherung, um zuverlässige Ergebnisse bereitzustellen.

 

Im Gegensatz zur quantitativ orientierten Forschung besteht die Zielsetzung folglich nicht in der Prüfung vorgefasster Annahmen, sondern im Aufbau eines (meist fallorientierten) theoretischen Verständnisses eines Untersuchungsbereiches, wie etwa das sozialer Systeme. Viele Studien widmen sich einer solchen theoriegenerierenden Vorgangsweise, indem sie etwa

•die untersuchten Phänomene auf den kulturellen Kontext bezogen im Sinne einer dichten Beschreibung (vgl. Geertz 1991) durchleuchten (z. B.: Was bedeutet Durchsetzung im kulturellen Kontext eines Unternehmens?),

•aus dem untersuchten Bereich eine gegenstandsorientierte Theorie (vgl. Glaser/Strauss 2010: 50ff.) herausdestillieren (z. B.: Was sind typische Durchsetzungsstrategien in einem spezifischen Unternehmen?),

•aus einer umfassenden vergleichenden Studie vieler heterogener Fälle formale Theorien (vgl. Glaser/Strauss 2010: 93ff.) mit einem hohen Verallgemeinerungsgrad zu erstellen versuchen (z. B.: Wie lässt sich die Logik von organisationaler Durchsetzung unabhängig von einem spezifischen Fall verstehen?).

Soziale Systeme, deren Analyse in den folgenden Ausführungen im Zentrum steht, zeichnen sich durch ihre Grenzziehung aus. Dadurch bildet die Generierung gegenstandsorientierter Theorien mit der Möglichkeit einer Weiterentwicklung zu formalen Theorien den Analyseschwerpunkt. In erster Linie soll also ein im Rahmen einer Untersuchung fokussiertes soziales System durch die Analyse dem Verstehen zugänglich gemacht werden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit primär auf das theoretische Verständnis von Prozessen, Ereignissen, Differenzierungen oder Strukturierungen innerhalb des sozialen Systems, auf die Untersuchung der Gestaltung und Entwicklung der sozialen Beziehungen nach innen und nach außen zu relevanten Systemumwelten und auf die Erkundung von Zusammenhängen individuellen Handelns und kollektiver Dynamiken. Führt man solche Analysen im Sinne einer fallübergreifend vergleichenden Analyse weiter, so trägt dies zu immer tragfähigeren Verallgemeinerungen im Sinne der Entwicklung formaler Theorien bei. Dichte Beschreibungen spielen eine Rolle, wenn die spezifischen Bedeutungskontexte und subkulturellen Verankerungen von Sinnstrukturen innerhalb einer Fallstudie zum Tragen kommen. Insofern sind die drei Vorgangsweisen zwar miteinander verbunden, setzen aber spezifische Schwerpunkte in der Analyse und stellen infolgedessen unterschiedliche Anforderungen an die Sammlung bzw. Erhebung von Materialien und deren Interpretation.

Das kommunikative Fundament sozialer Systeme (siehe Abschnitt 7.2.1) macht die Durchführung von Interviews zu einem wichtigen Instrument organisationaler Reflexion. Es wäre jedoch völlig unzureichend, sich in der Textauslegung von den vordergründigen Gesprächsinhalten vereinnahmen zu lassen, weil diese nicht mit den Charakteristika des untersuchten Systems gleichzusetzen, sondern Ausdruck der kognitiven Verarbeitung von Systemprozessen sowie deren sprachlicher Ausdruck gegenüber einer (meist außenstehenden) anderen Person sind. Eine seriöse [18]qualitativ orientierte Vorgangsweise versteht daher Gesprächsaussagen als Manifestation sozialer Beziehungen und Verhältnisse, deren Regeln in der Selektivität der Mitteilungen zum Ausdruck kommen. Mitglieder eines sozialen Systems sind daher nicht bloß Expert*innen ihres Systems, sondern repräsentieren in ihren Aussagen das System und ihre Beziehungen zu diesem. Sie müssen dabei nicht alles verstehen und sie können je nach Gesprächssituation aus ihrer Sicht Dinge ansprechen, besonders herausheben, verändert darstellen oder verschweigen. Erst die Berücksichtigung dieser komplexen Dynamik erlaubt es, durch die Inhalte hindurch die Sinnstrukturierung des Systems erkennen zu können.

Diese Ausführungen lassen bereits erkennen, dass sich qualitative Forschungsstrategien nicht für alle Fragestellungen gleichermaßen eignen, sondern deren spezifische Stärken in der Analyse der Organisierung und Manifestation sozialer Prozesse, deren Entwicklungsdynamik und die ihnen zugrundeliegenden Sinnstrukturen liegen. Typische Themen könnten daher beispielsweise sein: Wie organisieren Familien die Beziehungen zu ihrer relevanten Umwelt? Woran orientieren sich Unternehmen bei ihrer Entscheidung über eine Unternehmensberatung? Wie und vor welchem Hintergrund wird ein bestimmtes Problem an einer Universität erzeugt, stabilisiert, verändert und bewältigt? Wie sind in einer Gemeinde die Beziehungen zwischen verschiedenen Bereichen geregelt? Nach welcher Logik entwickeln die Vereinsmitglieder ihre spezifischen Sichtweisen?

Eine theoriegenerierende Vorgangsweise macht es unmöglich, Forschungsfragen bereits am Beginn der Untersuchung endgültig zu präzisieren oder die Erhebung auf einen Teilbereich des Untersuchungsfeldes zu konzentrieren. Vielmehr erkundet die Forschung den allgemeinen Phänomenbereich (etwa die Organisation als Ganzheit, auch wenn nur ein Teilbereich interessieren sollte), wobei aus den erlangten Erkenntnissen sukzessive adäquate Fragestellungen, die Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes sowie dem jeweiligen Forschungsstand angemessene methodische Vorgangsweisen abgeleitet werden. Die gesamte Forschungsstrategie muss die Voraussetzungen für die Generierung neuen Wissens, dessen Prüfung, Erweiterung und Präzisierung schaffen. Auch das Ende eines solchen Forschungsverlaufes lässt sich nicht genau abschätzen, sondern hängt von der Stabilisierung des Wissens, d.h. von der Frage ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Erhebungen neue Erkenntnisse erschließen könnten. Die Dynamik der sozialen Welt findet insofern ihre Entsprechung in der Vorläufigkeit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis.

Die Durchführung qualitativ orientierter empirischer Studien erfordert eine Forschungskonzeption, die den Anforderungen qualitativer Sozialforschung gerecht wird. Um die spezifische Vorgangsweise der Gesprächsführung in der qualitativ-empirischen Sozialforschung nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, wie Forschungsentscheidungen in diesem Sinne begründet werden, befasst sich dieses Kapitel mit mehreren Komponenten der Gesprächsvorbereitung und -führung: die Verankerung im Forschungskontext, Funktionen im Rahmen der Analyse, die Auswahl der Gesprächspartner*innen und angemessene Gesprächsstrategien. Den [19]Abschluss bildet ein kurzes Anwendungsbeispiel, welches die Grundidee des Ansatzes veranschaulicht.

2.1Das Forschungsdesign als Gesprächsrahmen

Qualitative Forschungsdesigns erfüllen drei Funktionen, die in den verschiedenen Phasen einer Studie verschiedene Anforderungen an eine adäquate Forschungsstrategie stellen:

•im Vorfeld der Planung und des Forschungseinstiegs schaffen sie die Voraussetzungen für die Durchführung einer Analyse;

•für die Forschungsabwicklung sehen sie Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Ergebnisse vor;

•zum Abschluss einer Studie machen sie das gewonnene Wissen verfügbar.

Eine nähere Beschäftigung mit dem Verlauf qualitativer Studien macht nachvollziehbar, welche Entscheidungen in den verschiedenen Forschungsphasen anfallen und welche Bedeutungen diesen für die Durchführung qualitativer Forschungsgespräche zukommen. Sinnvollerweise lassen sich hierbei vier Phasen unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009b):

a)Die Planungsphase

Diese erste Forschungsphase dient der gedanklichen Vorbereitung einer Studie, indem man sich mit den möglichen Anforderungen eines Forschungsfeldes vertraut macht. In ihr werden Lernpotenziale hergestellt und Rahmenbedingungen ausgelotet, die eine möglichst sinnvolle Sammlung oder Erhebung von Materialien sowie deren intensive Nutzung erlauben. Im Zuge dessen schafft man die organisatorischen Voraussetzungen für die Realisierung des Vorhabens.

In Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand sind Überlegungen nötig, welche unterschiedlichen Varianten des Zugangs möglich sind, welche Datenmaterialien man höchstwahrscheinlich für das Verständnis des Feldes braucht und wie man diese erhalten könnte. All dies erfordert die sorgsame Prüfung der sozialen Voraussetzungen des Zuganges zu einem Forschungsfeld, insbesondere bei Forschungsfeldern, die sich nach außen hin abschließen (z. B. eine Haftanstalt, die Entwicklungsabteilung eines Automobilkonzerns).

Forschungsseitig setzt dies voraus, sich über das eigene Erkenntnisinteresse Klarheit zu verschaffen und damit auch die Eignung einer qualitativ orientierten Forschungsstrategie zu prüfen (siehe Kap. 7). Um eine möglichst offene Vorgangsweise zu gewährleisten, bedarf es einer sehr vagen Frageformulierung oder Themenstellung, in deren Zentrum das Interesse an der sozialen und kollektiven Form der Herstellung von Wirklichkeit und deren Folgen für die soziale Dynamik in einem sozialen System steht. Man stellt Fragen nach Bedeutungen, Kontexten, Konstellationen, Relevanzen, Prozessen, um herauszufinden, warum und wozu ein bestimmter Kontext die Akteur*innen motiviert, welche Entwicklungskräfte und Dynamiken in bestimmten physischen und sozialen Umgebun-[20]gen aufzuspüren sind und was dabei genau vor sich geht, was typische Muster sind und wie diese vor welchem Hintergrund entstehen oder auch, warum jemand etwas als Faktum betrachtet, also wie Bedeutungen entstehen und verändert werden und wie diese mit welchen Folgen von wem in die Argumentation eingebracht werden und wie sie dabei das soziale Feld verändern.

Die Zentrierung auf ein soziales Problem (wie dies mitunter im Fall von Auftragsforschung vorkommt) ist dafür wenig hilfreich, weil jede Problemdefinition bereits eine Betrachtungsperspektive einschließt und damit die Sicht auf die Funktionsweise eines sozialen Systems einschränkt. Tauchen in der Forschungskonzeption Problemstellungen auf, so ist in der Analyse jedenfalls zu erkunden, warum etwas aus welcher Perspektive überhaupt als Problem betrachtet wird (d. h. was ein ‚Problem‘ zu einem ‚Problem‘ macht). Eine solche Problemreflexion ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine differenzierte Analyse. Zu vermeiden ist auch eine einfache Suche nach Faktoren oder Motiven oder Kausalitäten. Die interpretative Sozialforschung erweitert solche Fragestellungen in der Regel, indem man nicht bloß nach Faktoren fahndet, sondern erkundet, was diese zu Faktoren macht, inwiefern sie relevant wofür sind und in welche Prozesse sie eingebunden sind; bezüglich der Motive erkundet man den Kontext ihrer Entstehung und ihre Bedeutung für individuelle oder soziale Vorgänge; Kausalitäten werden als dynamische Konstellationen analysiert, deren Geschichte, Bedingungen, Verläufe oder Folgen sowohl für die direkt oder indirekt betroffenen Akteur*innen als auch für die Umwelt genauer in den Blick genommen werden.

Qualitative Studien sind erfahrungsgemäß immer wieder mit verschiedensten Interessen konfrontiert: beispielsweise im Rahmen von Forschungsaufträgen, aber auch bei der Begutachtung von Qualifizierungsarbeiten oder von Beiträgen, die in Fachzeitschriften zur Veröffentlichung eingereicht werden, und nicht zuletzt von jenen Gatekeepern, die über den Zugang zu manchen Forschungsfeldern entscheiden). Die empirische Forschungsarbeit muss sich von solchen Einflussnahmen freispielen, um sich nicht vereinnahmen, methodische Einschränkungen auferlegen oder sich in die soziale Dynamik des Feldes verstricken zu lassen. Eine gut überlegte Artikulierung der Forschungsfrage kann viel zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung beitragen.

Darüber hinaus ist es wichtig, in dieser Vorbereitungsphase die erforderlichen Kompetenzen (z. B. in Hinblick auf Erhebungs- und Interpretationsmethoden) zu bestimmen, um ein geeignetes Forschungsteam zu bilden bzw. um ein unterstützendes Forschungsumfeld zu schaffen (z. B. Kolleg*innen; eventuell kann eine Supervision hilfreich sein). Im Fall von Forschungsteams ist eine gemeinsame methodologische Perspektive notwendig (um sich nicht über Gebühr in Grundsatzdiskussionen zu verlieren), das Team sollte aber bezüglich der methodischen und inhaltlichen Kompetenzen sowie hinsichtlich der Anforderungen des Untersuchungsgegenstandes möglichst heterogen zusammengesetzt sein. Entschei-[21]dend ist hier die Steigerung des Forschungspotenzials, ohne zu viel Reibungsflächen zu schaffen.

In diesem fiktiven Probierstadium zur kognitiven Strukturierung des Forschungsfeldes verschafft man sich aus einer Außenperspektive einen ersten Überblick über den Forschungsgegenstand (eventuell auch unter Einbeziehung von Expert*innenmeinungen) und klärt die eigenen Erwartungen und Vorannahmen. Im Zuge dessen ist zu prüfen, welche Vor- und Nachteile mit unterschiedlichen Feldzugängen verbunden sind: Bildet die Geschäftsführung eines Unternehmens die entscheidende Kontaktstelle, so kann dies gravierende Probleme nach sich ziehen, wenn diese Geschäftsführung gerade ein Personalabbauprogramm vorbereitet. Auch wenn das Untersuchungsvorhaben mit diesem Programm nichts zu tun hat, könnte ein bereits vorhandenes Misstrauen gegenüber der Geschäftsführung auf das Projektteam übertragen werden. In einer solchen Situation kommt es daher darauf an, das Vertrauen der Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Dies bedeutet, dass man – egal ob die Geschäftsführung, die Gewerkschaft, außenstehende Vermittlungsinstanzen etc. den Eintritt in das Forschungsfeld ermöglichen – mit Zuschreibungen konfrontiert ist, die man selbst nur bedingt steuern kann. Aber man kann darauf achten, welche möglichen Zuschreibungen auftauchen könnten und welche Strategien sich anbieten, ungünstige Zuschreibungen zu vermeiden oder aufzufangen.

 

Um ein System kennenzulernen, ist es wichtig, sich mit den Handlungsweisen des Feldes vertraut zu machen. Dafür bietet sich an, Strukturierungsleistungen des Feldes für die Forschung zu nutzen: Wie ein soziales Feld mit externen Forscher*innen umgeht, sagt beispielsweise viel über die Strukturierung der Außengrenze eines sozialen Systems aus (vgl. Lau/Wolff 1983). Man sollte daher bereits während der Planung darauf achten, dass der Forschungseinstieg das erste Analysematerial verfügbar macht. Um dieses Material auch forscherisch nutzen zu können, sollte man auf die Dokumentation dieses Einstiegs vorbereitet sein. Darüber hinaus könnte man bereits im Vorfeld überlegen, wie man die Akteur*innen in einem sozialen System in den Forschungsprozess einbindet, indem man etwa bestimmte Agenden (wie die Zusammensetzung von Gesprächsrunden) an Akteur*innen im sozialen System überträgt oder mit diesen die Vorgangsweise im Studienverlauf diskutiert. Hinsichtlich der Durchführung von Gesprächen ist zu prüfen, welche Vor- und Nachteile dieses Verfahren in Hinblick auf die Untersuchung einer Forschungsfrage aufweist. Dabei sind Fragen zu klären wie:

•Inwiefern sind Gespräche anderen möglichen Verfahren (wie etwa Beobachtung oder Artefaktanalysen) überlegen?

•Welche Differenzierungen des Untersuchungsgegenstandes vermittelt dieser nach außen und welche Schlüsse sind daraus für den Forschungszugang zu ziehen?

•[22]Welche Gruppen von Akteur*innen in einem sozialen System bzw. dessen Umfeld kommen für Gespräche in Frage und welche Besonderheiten des Feldes könnten dabei aus dem Blick geraten?

•Gibt es mögliche Zugangsrestriktionen und wie kann man diese überwinden?

•Welche Erwartungen, die mögliche Ansprechpartner*innen an die Forscher*innen herantragen könnten, sind antizipierbar und welche Konsequenzen hat das für den Zugang zum Feld?

•Welche Kompetenzen werden für die Forschungsdurchführung benötigt, um eine adäquate Durchführung und Analyse der Gespräche zu gewährleisten, und wie können eventuelle Kompetenzdefizite beseitigt werden?

•Welche Möglichkeiten zur Anregung von Strukturierungsleistungen bestehen?

b)Die Orientierungsphase

Diese Phase setzt die in der Planung vorgesehenen Schritte erstmals um. In heiklen Forschungsfeldern (etwa im Fall von Zugangsrestriktionen in abgeschlossenen Bereichen wie Haftanstalten, Ministerien, Schulen oder Forschungsabteilungen in Unternehmen, aber auch in Familien) ist diese Eröffnung des Kontaktes zum untersuchten sozialen System besonders wichtig, weil in deren Verlauf Kommunikationsschnittstellen etabliert und Möglichkeiten der weiteren Forschungsorganisierung im Feld erschlossen werden.

Ersten Beziehungen kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie den Rahmen für Folgekontakte schaffen und Zuschreibungen auslösen, die den Zugang zu weiteren Kontaktstellen oder -personen verändern (d. h. erleichtern oder eventuell blockieren). In dieser Phase spielt sich das Forschungssystem auf drei Ebenen ein: (a) Forschungsseitig bedarf es in vielen Fällen einer Regulierung und Normalisierung der internen Arbeitsbeziehungen im Forschungsteam (insbesondere wenn die Teammitglieder noch nie in der gewählten Konstellation zusammengearbeitet haben oder über wenig Forschungserfahrungen verfügen). (b) Dazu kommt der Aufbau tragfähiger Beziehungen zum Untersuchungsfeld, um die weitere Vorgangsweise abstimmen zu können (z. B. wer den Kontakt zu welchen Personen hält, welche Informationen an welche Personen weitergegeben oder vertraulich behandelt werden). (c) Auch das untersuchte System beginnt, sich auf die Forschungsaktivitäten einzustellen (etwa indem Mitglieder des untersuchten Systems sich über die Erfahrungen mit der Forschung austauschen).

In diesem Zugangsprozess wird auch die Eignung verschiedener Verfahrensweisen im Forschungsfeld geprüft (vgl. z.B. Lueger 2000). Das betrifft die ersten Entscheidungen sowohl bezüglich der Erhebung als auch der Interpretation. Am Beginn sind dies meist sehr offene Gespräche mit externen Expert*innen (um etwa die Zugangsmöglichkeiten und die Rahmenbedingungen einer Forschungsarbeit zu erkunden) oder mit sogenannten Gatekeepern im sozialen Feld (um [23]sich im Verlauf der Eröffnung des Zuganges einen ersten Überblick zu verschaffen).

Für die in dieser Phase geführten ersten Gespräche ist zu berücksichtigen, dass sie eine wichtige Funktion für die Aushandlung einer für das soziale System verträglichen Vorgangsweise übernehmen und ein positives Forschungsklima herstellen sollten. Daraus folgt, dass der sozialen Dimension der Forschungsorganisierung in den ersten Gesprächen besonderes Augenmerk geschenkt werden sollte. Im Zuge dessen erhält man erste Informationen über den Umgang eines sozialen Systems mit externen Personen und über interne Prozesse. In dieser Phase ist daher die Überlegung folgender Fragen nützlich:

•Wer könnte (speziell wenn dem Forschungsteam das zu untersuchende System sehr fremd ist) vertrauenswürdige Informationen zur ersten Orientierung über das zu untersuchende soziale System geben (externe Expert*innen)?

•Wer sind erste Ansprechpartner*innen im sozialen System (z. B. Gatekeeper, die den Weg in das System erschließen)?

•Wie kontaktiert man diese Personen?

•Wann erscheint der Zeitpunkt zur Kontaktaufnahme geeignet und welche Zeitstrukturen könnten hier von Bedeutung sein?

•Wo sollen die erste Kontaktnahme und das erste Gespräch stattfinden (unter der Annahme, dass die Erhebungssituation Effekte für das produzierte Material hervorruft)?

•Auf welche Weise könnte das System bereits bei der Kontaktaufnahme Systeminformationen produzieren (z. B. Umgang mit einem Forschungsansinnen) und was muss daher bei der Strukturierung der ersten Kontaktsituation beachtet werden?

•Welche Informationen sollte man dem untersuchten System über das Forschungsvorhaben geben, um ein Vertrauensverhältnis zu den potenziellen Gesprächspartner*innen aufzubauen?

•Welche organisatorischen Maßnahmen zur Sicherung des Vertrauensverhältnisses werden ergriffen?

•Welche Informationen benötigt man aus dem sozialen Feld, um eine sinnvolle Auswahl von Gesprächspartner*innen treffen zu können?

•Welche Informationen sind zur erfolgreichen Kontaktierung von Gesprächspartner*innen erforderlich?

•Wie lassen sich unterschiedliche Formen von Expertisen im fokussierten sozialen System und in dessen Umwelt identifizieren?

•Wie kann die Forschungsfrage nach den ersten Erfahrungen reformuliert werden?