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Ich weiß nicht einmal, ob er die Bahn nimmt oder ein Flugzeug. Interessiert mich auch nicht. Ich bin nur froh, einfach nur heilfroh.

Noch am selben Abend packe ich sämtliche Roswitha-Relikte zusammen, die gefälschten ebenso wie die echten, und schmeiße sie in die Mülltonne. Und dann öffne ich ein Flasche Wein, einen richtig schönen, teuren Roten, und besaufe mich. Und weil es so schön ist, mache ich noch eine Flasche auf und dann noch eine, und schließlich bin ich von dem schönen Rotwein richtig schön besoffen und ich rufe „Prost, Tommi! Prost, Roswitha! Alles Gute euch beiden und der Teufel soll euch holen!“ und ich werfe das halbvolle Glas an die Wand, so richtig schön nach russischer Art, und dann das nächste und zum Schluss sogar noch die Flasche, knalle sie gegen die Graffitis, und der schöne Rotwein rinnt an ihnen herunter und vermischt sich mit den Farben, und so werden sie erst richtig schön, finde ich, richtig schön durch meinen schönen Rotwein, diese Scheißgraffitis. Und dann schlafe ich ein, was soll ich sagen, das erste Mal seit langem schlafe ich richtig schön, schlafe tief und fest, ohne Schlaftablette, schlafe, wie ich früher geschlafen habe, ganz früher, nämlich wie damals, als mein Bruder noch überhaupt nicht auf der Welt war und die Welt deshalb noch ziemlich in Ordnung gewesen ist.

Ist man eigentlich ein Arschloch, wenn man seinen Bruder gleichzeitig liebt und zum Kotzen findet? Gut, dann war ich eben ein Arschloch und bin vermutlich noch immer eins. Jedenfalls genoss ich jeden Tag ohne Thomas. Beglückwünschte mich zu jeder Woche, jedem Monat, in welchem ich nichts von ihm erfuhr, von gelegentlichen, nichtssagenden Ansichtskarten einmal abgesehen. Und gratulierte mir schließlich zu jedem der über drei Jahre, wirklich zu jedem einzelnen dieser herrlichen, wunderbaren Jahre, in denen ich von ihm meine Ruhe hatte!

Manchmal vergaß ich ihn völlig, manchmal machte ich mir aber auch Sorgen um ihn. Fragte mich, ob es richtig gewesen war, ihn allein auf eine falsche Fährte zu setzen und seinem Schicksal zu überlassen. Doch erst viel später, als er mir von seiner langen Suche nach Roswitha erzählte, erkannte ich, dass ich allen Grund zur Sorge hatte. Nicht wegen der ein, zwei unangenehmen Dinge, die Thomas zugestoßen waren. Was mir Sorgen bereitete, oder vielmehr, was mich erschreckte, war diese Mischung aus Gutgläubigkeit und Starrsinn, mit der er sein Ziel verfolgt hatte. Es wurde mir klar, dass Thomas ein Mensch ist, der sich durch nichts davon abbringen lässt, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Der eisern daran festhält, so falsch und verrückt und aussichtslos es auch sein mag. Mehr als bloß ein Phantast. Ein Irrer.

Eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein für einen, der drei Jahre lang einem Phantom nachrennt. Einen, der auf ein bloßes Gerücht hin auf jeder mit einer Fähre oder für eine Handvoll Münzen mit einem Fischerboot erreichbaren griechischen Insel nach einer rothaarigen Frau Ausschau hält, in die er sich als Fünfzehnjähriger unsterblich verliebt hat. Einen, der, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach Athen fährt, sich im teuersten Hotel einquartiert und es für eine glänzende Idee hält, ein paar Farbspraydosen zu kaufen und dann an jeder zweiten Fassade den Namenszug Roswitha als bunt gestyltes Graffiti zu hinterlassen, sozusagen als Geheimbotschaft an die Gesuchte. Einen, der eines Tages von einer Tramperin angesprochen wird, einer jungen Deutschen, der aufgefallen ist, dass auf einmal in halb Athen ihr Name an den Wänden steht, und die wissen möchte, was das soll. Die er daraufhin zum Essen einlädt, ihr alles erzählt, überglücklich, dass sich endlich jemand für seine Geschichte interessiert, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er sich ohnehin ziemlich mies und allein und von seinem großen Bruder im Stich gelassen fühlt. Die das wahnsinnig toll findet, was er da tut, und die ganz spontan das Angebot macht, ihm zu helfen, diese andere Roswitha zu finden. Ein Angebot, das er sofort annimmt, ohne viel zu fragen. Weil er Witta, wie sie sich nennt, blind vertraut. Sie sogar ausgesprochen nett findet mit ihren Dreadlocks, diesen braunen Rastazöpfen mit den eingeflochtenen bunten Glasperlenketten, und mit ihrem hübschen Gesicht, vor allem aber wegen ihrer immer neuen Ideen, an welchen Orten sich Roswitha aufhalten könnte.

Und so reisen sie gemeinsam kreuz und quer durch Europa, immer mit dem Flugzeug, immer in den besten Hotels, Geld genug hat er ja. Ziehen durch die Straßen und sprühen Roswitha-Graffitis an die Hauswände. In Lissabon, in Madrid, in Amsterdam, in London, in Rom, auf Ibiza. Drei Jahre lang. Ohne Erfolg, ohne die geringste Spur von Roswitha. Drei Jahre, in denen er jedes Mal gebannt an Wittas Lippen hängt, wenn sie dafür eine Erklärung parat hat. Wenn sie von Verschwörungen und Geheimgesellschaften spricht, von im Verborgenen wirkenden Organisationen, von den wirklich Mächtigen, die alles auf der Welt in ihren Händen haben, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Waffen, Geld und vor allem natürlich Menschen, die sie nach Gutdünken entführen, verschwinden lassen, für ihre Zwecke benutzen und irgendwann wieder auftauchen lassen, manche nach ein paar Tagen, manche erst nach Monaten oder Jahren, manche nie. Geschichten, die ihm bestätigen, was er schon lang geahnt, gewusst hat. Drei Jahre, in denen sie ihn immer wieder aufbaut und tröstet und in die Arme nimmt, und manchmal kramt sie einen kleinen Lederbeutel mit Hasch aus ihrem Rucksack und dreht sich einen Joint und lässt auch ihn dran ziehen, und das findet er irgendwie aufregend und beruhigend zugleich, und dann schläft sie mit ihm. Und es ist einfach phantastisch, wirklich traumhaft ist es, wenn sie miteinander schlafen und er dabei Roswithas Namen seufzen, flüstern, schreien kann, und dafür liebt er Witta fast ein bisschen.

Mein Bruder, der Irre. Der Irre, der sich von einem raffinierten Späthippiegirl um den Finger wickeln lässt. Der nicht merkt, dass er der Lady bloß einen langen, komfortablen Europatrip bezahlt. Der ihr auch noch jedes Mal bereitwillig Geld gibt, wenn sie behauptet, sie könne an einen todsicheren Hinweis auf Roswithas Aufenthaltsort herankommen, aber für diese Information müsse sie leider ziemlich viel bezahlen, und der dann jede Geschichte glaubt, die sie natürlich prompt in die nächste teure Metropole oder auf die nächste angesagte Ferieninsel führt.

Der Irre, der nichts begreift. Auch zuletzt nicht, als im Flughafen von Palma plötzlich die Handschellen klicken, weil der Spürhund bei seinem Rucksack angeschlagen hat, in dem man, leider nicht gut genug in zwei leeren Spraydosen versteckt, Cannabis und einen Haufen hübscher, bunter Designerdrogen findet. Der keine Ahnung hat, wie das Zeug in seinen Rucksack gekommen ist. Der sich hilfesuchend nach Witta umblickt, aber die ist auf einmal nirgends zu sehen, in der ganzen Abfertigungshalle weit und breit keine fröhlichen Rastalöckchen. Ein Irrer, einfach ein Irrer, der selbstverständlich sofort davon überzeugt ist, Opfer einer Verschwörung zu sein, irgendwelcher Leute, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Roswitha entdeckt wird, und die deshalb dafür sorgen, dass sich seine kleine Freundin buchstäblich in nichts auflöst, als hätte es sie nie gegeben, und dass er für zwei Monate in ein spanisches Gefängnis kommt und danach sofort nach Österreich abgeschoben wird.

Dumm gelaufen für Thomas. Gründlich schiefgegangen die Variante Brüderchen und Schwesterchen, kleiner Bruder, große Schwester. Oder war es die Ödipus-Version?

Trotzdem war es gut, dass ich Thomas dazu gebracht hatte, eine Zeit lang aus unserer Wohnung und aus meinem Leben zu verschwinden. Ich wäre sonst mit Sicherheit wahnsinnig geworden. Und früher oder später hätten wir uns vermutlich gegenseitig die Schädel eingeschlagen. Vor allem aber hätte ich Claudia nie kennengelernt. Claudia, mit der ich ein paar richtig gute Jahre hatte. Ganz großartige Jahre sogar, bevor die Scheiße auf einmal gewaltig zu dampfen anfing. Genau genommen die besten Jahre meines Lebens.


6

Meine Sehstörungen wurden lang von heftigen Schwindelanfällen begleitet. Ich brauchte mich nur im Bett aufzusetzen, schon begann sich das Zimmer um mich herum zu drehen. Mein Bett zu verlassen, um auf die Toilette zu gehen oder mich zu waschen, war völlig unmöglich. Ich war auf Urinflasche und Bettpfanne angewiesen, aber nach einer Woche hielt ich es nicht mehr aus. Ich zwang mich aufzustehen und schlich in Richtung Bad. Mit vorsichtigen, kleinen, tapsigen Schritten, mich mit beiden Händen am Bettgestell, an der Wand und am Türrahmen abstützend. Ängstlich ums Gleichgewicht kämpfend, wie die Fußgänger auf den vereisten, spiegelglatten Gehsteigen in jener Nacht, die für mich in der Unfallambulanz geendet hatte.

Im Bad sah ich zum ersten Mal seit zehn Tagen im Spiegel mein Gesicht. Verschwommen, aber doch deutlich genug, um zu erschrecken. War das wirklich mein Gesicht? Diese Fratze mit der riesigen blauroten Schwellung, die sich über die Stirn, um beide Augen und bis zu den Backenknochen ausgebreitet hatte? Mit der langen, verkrusteten Narbe über der Nasenwurzel? Oder blickte ich in das Gesicht eines Boxers, das von Muhammed Ali fünfzehn Runden lang zu Brei geschlagen worden war? Wenn mir Thomas schon hässlich vorgekommen war, dann war ich jetzt im Vergleich zu ihm Quasimodo.

Gott sei Dank sieht Claudia mich nicht in diesem Zustand, dachte ich. Ich hatte mich schon gefragt, warum sie nie zu Besuch gekommen war, sich nicht einmal nach mir erkundigt hatte. Gut, am Abend vor meinem Unfall hatten wir Streit miteinander gehabt, sie hatte im Gästezimmer geschlafen und sicher gar nicht bemerkt, dass ich in der Nacht weggefahren war. Aber wir hatten nur über irgendeine Lappalie gestritten, nichts, was Claudia Grund gegeben hätte, lange auf mich böse zu sein. Deshalb war ich doch etwas erstaunt, ja, besorgt gewesen, dass sie sich in all den Tagen nie hatte blicken lassen.

 

Doch jetzt war ich froh darüber. Sie hätte meinen Anblick vermutlich nicht ertragen. Ich war zwar auch sonst keine Schönheit, aber doch das, was man einen gut aussehenden Mann nennt. (Wahrscheinlich einer der Gründe, aus dem Claudia sich ausgerechnet für mich entschieden hatte, gesagt hat sie es mir natürlich nie.) Aber mit diesem Gesicht? Nein, damit musste ich sie verschonen. Konnte nur hoffen, dass es bald wieder verschwinden würde. Dieses Gesicht konnte ich Claudia unmöglich zumuten, dafür war sie nicht stark genug.

Claudia. Die personifizierte Antithese zu Roswithas animalischer Sinnlichkeit. Vom akkurat frisierten, aschblonden Kurzhaarscheitel überm unauffällig hübschen Dutzendgesicht bis zu den dunkelblauen Collegeschuhen: der Prototyp einer braven Tochter aus gutem Haus. Also genau das, was ich nach meinem Desaster mit Roswitha brauchte.

Monatelang hatte ich völlig planlos gelebt und die Schuld daran auf meinen Bruder geschoben. Jetzt war er endlich weg, aber ich wusste trotzdem nichts mit mir und meiner Zeit anzufangen, hatte immer noch keinen Plan. Anfangs dachte ich, dass ich nun doch endlich in aller Ruhe die Wohnung ausmalen könnte. Niemand würde mich daran hindern, die Geister Roswithas auszutreiben und den Wänden wieder ihr unschuldiges Weiß zurückzugeben. Doch ich wusste ja nicht, wann Thomas wieder zurückkommen würde, musste täglich damit rechnen, und dann begänne die ganze leidige Geschichte wieder von vorn. Also ließ ich es bleiben. Außerdem hatte ich mich an die Graffitis eigentlich schon gewöhnt. Oder besser gesagt, ich nahm sie gar nicht mehr richtig wahr. So wie man ein hässliches Gebäude, an dem man jeden Tag vorbeifährt, irgendwann nicht mehr sieht, geschweige denn als störend empfindet. Und genauso störte mich auch die Langeweile nicht, die sich auf einmal in meinem Leben breitmachte. Diese spezielle Art Langeweile, die aus dem dumpfen Gefühl entsteht, dass es völlig gleichgültig ist, was man tut oder unterlässt, weil die Dinge ohnehin geschehen oder nicht geschehen und sich einen Dreck darum scheren, was man möchte.

Ich hatte die Dreißig überschritten, hatte eine, sagen wir es einmal so, gescheiterte Beziehung und eine Familientragödie gröberen Ausmaßes hinter mir, meine finanzielle Lage war zwar noch nicht Besorgnis erregend, aber in den letzten Jahren waren meine Mittel doch ganz gehörig geschrumpft, und dieser negativen Bilanz hatte ich so gut wie nichts entgegenzusetzen. Kein abgeschlossenes Studium, nicht einmal eine Berufsausbildung, und vor allem nichts, wofür ich mich besonders interessierte oder gar begeisterte. Aber das war mir egal. Ich dümpelte ziellos und unentschlossen vor mich hin und wartete auf den berühmten Zufall, der mir zeigen sollte, wo es lang ging. Und dieser Zufall hieß Claudia.

Noch einmal: Es war Zufall. Nicht Vorherbestimmung, nicht Karma, nicht irgendein Weltenplan, nicht Schicksal und schon gar nicht irgendeine geheimnisvolle höhere Macht. Shit happens – und das Gegenteil eben auch.

An diesem fünfzehnten April vor über zwanzig Jahren hätte es ja zum Beispiel schon von in der Früh weg regnen können. Dann wäre ich weiter in meinem winterschlafähnlichen Zustand verharrt. Keine zehn Pferde hätten mich aus der Wohnung gebracht, wäre da nicht dieses Italienhoch gewesen, das den ersten sonnigen Frühlingstag versprach und Lust auf fröhliche Gesichter und Stimmen und einen Stadtbummel machte. Und wären ein paar Stunden später nicht plötzlich Wolken aufgezogen, aus denen es schlagartig abwechselnd in Strömen regnete und schneite, und hätte ich mich nicht kurzerhand entschlossen, ins nächste Kaffeehaus zu flüchten, statt mich irgendwo unterzustellen oder durch den Regen nachhause zu laufen, dann wäre ich auch nicht im Café Bazar gelandet wie unzählige andere Menschen, die dort Schutz suchten. Hätte nicht in dem überfüllten Raum, in dem eine eigenartige Geruchsmischung von Zigarettenrauch, gerösteten Kaffeebohnen, Vanille und nassen Kleidern hing, nach einem freien Platz Ausschau gehalten. Hätte mich nicht mit den Worten „Verzeihung, darf ich?“ auf den einzigen unbesetzten Stuhl an das Tischchen zu der jungen Dame gesetzt, die mir nur kurz zustimmend zunickte und sich dann sofort wieder ihrer Zeitschrift zuwandte.

Und was wäre gewesen, wenn die junge Dame nicht zwischendurch ihre Lektüre unterbrochen und mich verstohlen aus den Augenwinkeln angeblickt hätte, während ich geistesabwesend meinen Kaffee umrührte? Wenn sie sich nicht an mich erinnert, mich nicht wiedererkannt, nicht nach ein paar Minuten zögernd „Markus? Markus Steinfelder?“ gesagt hätte? Wir wären nie ins Gespräch gekommen, hätten nie festgestellt, dass wir einander schon vor Jahren ein paarmal begegnet waren, früher, als meine Eltern für das Unternehmen ihrer Eltern tätig gewesen waren, sie in Finanz- und Wirtschaftsfragen beraten hatten und daraus im Laufe der Zeit so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden war. Niemals hätte ich mich an das Mädchen erinnert, das bei den Firmenfesten, zu denen mich meine Eltern hin und wieder mitgenommen hatten, sehr ernst und ein bisschen verlegen am Tisch gesessen war. Dass sie dieses Mädchen gewesen war, mit dem ich nichts anzufangen gewusst hatte, und sie mit mir ebenso wenig, wie das nun einmal so ist bei einer schüchternen Vierzehnjährigen und einem gelangweilten Achtzehnjährigen.

Man kann dieses Spiel noch weiter treiben. Was, wenn meine Eltern nicht für ihre Eltern gearbeitet hätten? Was, wenn mein Vater mit einer anderen Frau verheiratet gewesen wäre? Oder wenn die Mutter meiner Mutter gar keine Kinder bekommen hätte? Eine beliebte Grundidee zahlloser Hollywoodfilme, in denen Zeitreisende in die Vergangenheit zurückkehren, um an bestimmten Punkten in den Lauf der Geschichte einzugreifen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Aber vor jedem unvorhersehbaren Ereignis liegt noch ein anderes und vor dem wieder eins. Mehr noch, nicht bloß ein Zufall löst den nächsten aus, nicht nur eine einzige, endlose Kette aufeinanderfolgender, zufälliger Geschehnisse führt zu einem ganz bestimmten Resultat, sondern ein ganzes Netzwerk von Vorfällen und unkontrollierbaren Wendungen. Unendlich viele miteinander verknüpfte Zufallsketten. (Oder wuchernde Metastasen. Dieser Vergleich scheint mir im Augenblick noch treffender zu sein.) Und um an ihren Anfang zu gelangen, müsste man wohl konsequenterweise bis zum Urknall zurückgehen. Falls der nicht auch nur Zufall war.

Hätte. Wäre. Wenn. Fakt ist, dass ich auf diese Weise Claudia wiedersah. Der Zufall hat uns zusammengeführt. Und ich danke dem Urknall dafür.

Wir sprachen lange miteinander an diesem Nachmittag im Kaffeehaus. Wir redeten und redeten, auch als sich draußen die Regenwolken längst wieder verzogen hatten. Um genau zu sein, die meiste Zeit redete Claudia und ich hörte zu. Ihre ruhige Art zu sprechen und der angenehme, dunkel gefärbte Klang ihrer Stimme nahmen mich sofort für sie ein. Es tat gut, ihr zuzuhören. (Ein letztes Mal: Was, wenn Claudias Stimme schrill oder piepsig gewesen wäre? Und was, wenn sie ständig albern gekichert oder, noch schlimmer, lauthals drauflos gelacht hätte wie Roswitha?)

Gut fand ich auch, dass Claudia mich nicht nach meiner Familie fragte. Mit achtzehn war sie für zwei Jahre als Au-pair-Mädchen nach London gegangen und hatte deshalb nichts vom tödlichen Unfall meiner Eltern mitbekommen, der nur hier den regionalen Zeitungen ein paar Schlagzeilen wert gewesen war. Auch dass ich einen jüngeren Bruder hatte, wusste sie nicht. Und ich erwähnte beides mit keinem Wort, weil ich vermeiden wollte, mit verspäteten, sinnlosen Mitleidsbekundungen oder guten Ratschlägen überschüttet zu werden. Ich fand es viel schöner, zur Abwechslung einmal von jemandem zu hören, wie „unglaublich easy“ das Leben ist, wie problemlos und ohne Sorgen.

Dabei war Claudia keineswegs naiv oder gar dumm. Sie hatte nur das unverschämte Glück, das einzige Kind einer schwerreichen Industriellenfamilie zu sein. (Der Name der Familie tut hier nichts zur Sache, ich möchte ihn aus Gründen der Diskretion auch nicht verraten. Nur so viel: Es handelt sich um ein bekanntes Baustoffunternehmen, seit Generationen im Familienbesitz. Mehrere Kalksteinbrüche und Zementwerke, mit den Produkten wird halb Europa beliefert.)

Aus dem, was Claudia erzählte, wurde mir schnell klar, dass sie sich in einer überaus beneidenswerten Lage befand. Ihre Mutter hatte zwei Leidenschaften: das Geschäft und den großen gesellschaftlichen Auftritt, der ihr zu Glanz und Ansehen in den sogenannten besseren Kreisen verhalf und besonders während der Festspielzeit die Aufmerksamkeit der Klatschpresse garantierte. Und Claudias Vater hatte ebenfalls zwei Passionen: mit seinem Spezialmörtel und seinen Edelverputzen die Konkurrenz auszustechen und seinen beiden Lieblingsfrauen, wie er seine Gattin und seine Tochter nannte, jeden Wunsch zu erfüllen, und sei er auch noch so kostspielig.

Es war für Claudia einfach ganz selbstverständlich, dass sie immer bekam, was sie wollte. Das Leben war für sie ein einziger großer Selbstbedienungsladen, und Paps bezahlte. Im Anschluss an die zwei Jahre in England nach Paris gehen, ein bisschen Französisch studieren und es nach einem Jahr wieder sein lassen, weil es keinen Spaß mehr macht – kein Problem. Doch lieber Privatunterricht bei einem Klavierprofessor vom Mozarteum nehmen – Ma ist begeistert, vielleicht wird aus Claudia eine berühmte Pianistin, ein umjubelter Festspielstar, eine zweite Martha Argerich. Nein? Was soll’s. Man muss dem Kind Zeit lassen, damit es alles ausprobieren kann, bis es das Richtige für sich herausfindet. Und die Idee, die Claudia jetzt hat, ist ja noch viel großartiger: eine eigene Kunstgalerie!

Phantastisch, findet Ma. Eine todchice Galerie in der Festspielstadt, Claudia als neue Peggy Guggenheim, also bitte, das hat doch was! Allein schon prestigemäßig. Ganz abgesehen vom Ambiente, das so eine Galerie bietet. Nach einer Premiere zu einem Fest in irgendein Nobellokal oder in die Residenz einladen, das macht doch heute schon jeder. Das ist doch nicht wirklich upperclass. Und die echten Promis, die lassen sich da ja auch gar nicht mehr blicken. Man muss sich schon was einfallen lassen, damit die kommen. Aber eine Vernissage mit Bildern von einem berühmten Künstler, so etwas ist richtig upperclass. Da kann man nämlich zeigen, dass man Geschmack und Stil hat und es sich auch leisten kann. Es muss natürlich schöne Kunst sein, nicht dieses grässliche avantgardistische Zeug. Schon modern, man ist schließlich nicht von gestern, aber eben angenehm anzuschauen. So in der Art von Mirò oder Chagall zum Beispiel. Oder Kunstwerke von Festspielkünstlern, das wäre überhaupt der Hit. Gibt ja unglaublich viele Sänger und Schauspieler, die nebenbei auch malen, sagt Ma. Und eine Freundin von ihr kennt jemanden, die jemanden im Festspielpräsidium kennt, also da lässt sich sicher was einfädeln. Aquarelle von Placido Domingo oder so. Ehrlich, wenn das keine Sensation wäre, einfach unschlagbar. Wirklich eine Goldidee, diese Sache mit der Kunstgalerie.

Ich konnte zwar nicht unterscheiden, wie viel original Ma und wie viel original Claudia ich zu hören bekam, aber allein schon die Begeisterung und der schier grenzenlose Optimismus, die in jedem Satz lagen, stimmten mich fröhlich. Endlich war einmal nicht die Rede von Schwierigkeiten, Hindernissen, Ungerechtigkeiten und Menschen, die einem nur Böses wollten. Sondern alles war eitel Wonne, alles würde gut gehen, alles ganz genau so werden, wie man es sich wünschte. Dieses warme Gefühl unerschütterlicher Zuversicht hatte ich lang vermisst, deshalb genoss ich es in vollen Zügen und feuerte Claudia immer wieder an weiterzuerzählen, indem ich zwischendurch Floskeln wie „toll!“, „großartig!“, „genial!“ und „super!“ von mir gab. Obwohl mich diese ganze Galeriegeschichte in Wahrheit überhaupt nicht interessierte, ganz im Gegenteil, was Kunst betraf, war ich ja ein gebranntes Kind. Wie gesagt, ich wollte mich bloß ein bisschen an Claudias unerschütterlichem Enthusiasmus wärmen.

Claudia konnte natürlich nicht wissen, dass mein Interesse nur gespielt war. Sie steigerte sich immer mehr in ihre Begeisterung hinein, offenbar überglücklich darüber, in mir einen weiteren Gleichgesinnten gefunden zu haben.

„Eigentlich dürfte ich gar nicht darüber reden“, sagte sie. „Ma sagt, wir sollten alles noch ganz geheim halten und erst im Sommer mit einem richtigen Paukenschlag damit an die Öffentlichkeit treten. Aber ich finde das alles so unheimlich aufregend. Das wird die Sensation, meinst du nicht auch?“

 

„Klar“, sagte ich. „Das wird ein echter Hammer. Der Überhammer. Garantiert.“

„Aber es bleibt unter uns, ja?“

„Ehrenwort. Von mir erfährt keiner was.“

Claudia strahlte übers ganze Gesicht. Ich konnte richtiggehend spüren, wie eine riesige Welle der Sympathie über mich schwappte. Gefolgt von einer zweiten Welle der Zuneigung und des Vertrauens, einer Welle des Gemeinsamkeitsgefühls, weil wir ein Geheimnis teilten.

„Komm“, sagte sie, „ich möchte dir was zeigen.“

Es war inzwischen Abend geworden, wir waren die letzten Kaffeehausgäste, und der Ober war sichtlich froh, dass wir endlich zahlten und aufbrachen.

Eine Viertelstunde später standen wir vor einem Haus in der Kaigasse.

„Das ist es“, sagte Claudia. „Das wird unsere Galerie.“

Sie sperrte ein altmodisches Scherengitter und eine schmale Glastür auf, und wir betraten einen finsteren Raum, in dem es ein bisschen muffig roch.

„Licht gibt es leider noch keines“, erklärte Claudia. „Die Stromleitungen müssen alle neu verlegt werden.“

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Soviel ich erkennen konnte, befanden wir uns in einem hohen, alten Gewölbe. Irgendwelche kaputten oder halb zerlegten Möbel standen herum, Regalbretter lehnten an den Wänden, das einzige, große, gassenseitige Fenster war mit Packpapier zugeklebt. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, war hier vor nicht allzu langer Zeit ein Lebensmittelgeschäft gewesen. Oder war es ein Drogerieladen?

„Toll“, sagte ich. Aber vermutlich hatte ich nicht sehr überzeugt geklungen. Denn Claudia begann sofort in den höchsten Tönen davon zu schwärmen, wie das alles in ein paar Wochen aussehen würde.

Immerhin war da ja ihr Paps. Und wenn man so einen Paps hat, kann man sich eben darauf verlassen, dass alles perfekt wird. Hat ihr auch gleich das ganze Haus gekauft, damit die Sache Hand und Fuß hat und man richtig großzügig was machen kann aus dem alten Gemäuer. Unten Galerie, oben Büro, wie es sich gehört. Und in den oberen Geschoßen vielleicht später einmal Künstlerateliers, wenn die Galerie erst einmal so richtig boomt. Alles schon geplant von einem befreundeten Architekten. Wahnsinnig sensibel, damit die historische Bausubstanz richtig zur Geltung kommt. Macht eine Baufirma, die zur Hälfte Paps gehört. Wird außerdem gleich ein Vorzeigeprojekt für seinen neu entwickelten Innenverputz. Das Um und Auf in einer Galerie sind nämlich die Wände, sagt Paps. Und Ma sagt das übrigens auch. Das schönste Bild wirkt hässlich, wenn es an einer hässlichen Wand hängt. Und umgekehrt veredelt eine edle Wandoberfläche sogar ein schwaches Kunstwerk. Vielleicht macht Paps sogar eine Werbekampagne mit der Galerie. Die Idee dafür hat er schon. Ein Bild von einer Galeriewand und darunter den Slogan: Edelverputz – die edle Kunst für jede Wand. Genial, oder?

„Wow“, sagte ich. Langsam gingen mir die Begeisterungsvokabel aus. Außerdem konnte ich mir noch immer nicht vorstellen, wie aus dieser schwarzen Höhle jemals so etwas wie eine Galerie werden sollte. Ich hörte zwar noch was von einer Wendeltreppe aus poliertem Nirosta, von irrsinnig tollen Halogenspots aus Mailand, von einem Kunstharzbodenbelag mit eingegossenen Kieselsteinen, von einem ganz speziellen Bilderhängesystem, und zwar genau demselben, das auch im Centre Pompidou in Paris verwendet wird, und auch sonst noch jede Menge Hippes, Chices, Angesagtes, Cooles und dennoch ganz unglaublich mit dem zauberhaften Baustil des siebzehnten Jahrhunderts Harmonierendes. Alles hörte sich irgendwie genau so an, wie der perfekte Werbetext in einem Hochglanzkatalog für Designermöbel, vor meinem inneren Auge wollte daraus trotzdem beim besten Willen keine todchice Galerie entstehen, und mehr als ein paar weitere „wow!“ fielen mir dazu nicht ein. Doch die genügten vollauf.

Zumindest genügten sie, um die nächste warme Welle auszulösen. Und dass sich Claudia plötzlich an mich lehnte, und wir so eine Zeit lang dastanden, ganz still, ihr Rücken an meine Brust geschmiegt, und wir in dieselbe Richtung blickten, obwohl es da überhaupt nichts zu sehen gab außer einem Haufen Gerümpel im Dunkeln. Und Claudia schließlich aufatmete und seufzte: „Das wird so toll, sag ich dir. So unglaublich toll wird das.“ Und noch bevor ich mein nächstes „wow!“ loswerden konnte, hinzufügte: „Wie wär’s, Markus, machst du mit? Du verstehst doch was von Kunst.“

Gut, dass Claudia nicht mein blödes Gesicht sehen konnte, das ich in diesem Augenblick vermutlich machte. Ich Idiot musste wohl irgendwann meine paar Semester Kunstgeschichte erwähnt haben. Die waren an mir zwar so gut wie spurlos vorübergegangen, aber Claudia hielt mich jetzt offensichtlich für einen Kunstexperten.

Ich überlegte. Was soll schon schiefgehen, dachte ich. Warum nicht Kunst? Warum nicht eine Galerie? Ist schließlich genauso gut wie alles andere.

Und dann sagte ich: „Warum eigentlich nicht?“

„War das jetzt ein Ja?“ fragte Claudia.

„Irgendwie schon“, sagte ich.

„Wow“, sagte Claudia, drehte sich um und umarmte mich.

So einfach war das: Claudia hatte einen Traum, und ich hatte nichts Besseres vor. Die beste Voraussetzung, um etwas miteinander zu machen. Die ideale Basis jeder Gemeinsamkeit. Der eine hat ein Ziel, und der andere macht mit, weil er kein anderes Ziel hat. Also, bei Claudia und mir ging das jedenfalls ziemlich lang richtig gut.

Nein, ich bin nicht zynisch. Schließlich hat Claudia doch auch jetzt wieder alles bekommen, was sie wollte. Was macht es da für einen Unterschied, ob ich aus Liebe mitgemacht habe oder aus Langeweile?

Wir führten gemeinsam die Galerie, weil Claudia es wollte, und ich nichts Besseres vorhatte. Wir schliefen miteinander, weil sie es wollte und ich nichts Besseres vorhatte. Wir heirateten nach wenigen Wochen, weil sie es wollte und ich nichts Besseres vorhatte. Wir lebten in der Villa, die Paps ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, weil sie es wollte und ich nichts Besseres vorhatte. Was war schlecht daran? Tatsache ist doch: Erst als Claudia es war, die auf einmal etwas Besseres vorhatte, begann alles den Bach hinunterzugehen. Aber ich mache ihr keinen Vorwurf. Denn bis dahin fand ich an unserem Leben kaum etwas auszusetzen.

Claudias Eltern nahmen mich mit offenen Armen auf. Möglich, dass sie es nur aus Sentimentalität taten. Um etwas wieder gutzumachen, weil meine Eltern nämlich zu ihnen unterwegs gewesen waren, als sie tödlich verunglückten, ausgerechnet zu ihnen, und noch dazu wegen eines völlig unwichtigen Geschäftstermins, der auch an jedem anderen Tag hätte stattfinden können. Übrigens, als es sich nicht mehr vermeiden ließ und ich Claudia von dem Unfall erzählte, reagierte sie Gott sei Dank völlig anders, als ich es befürchtet hatte. Kein großes Mitleidsgetue. Sie blickte mir nur sehr ernst in die Augen, streichelte kurz mit dem Handrücken meine Wange und meinte: „Tja, was soll man dazu noch sagen?“ Das war auch schon alles. Ebenso gelassen blieb sie bei ihrem ersten und einzigen Besuch in meiner Wohnung, wo sie die Graffiti-Orgie an den Wänden nur lächelnd mit „In unsere Galerie kommt mir so was aber nicht!“ kommentierte. Und als ich erwähnte, ich hätte noch einen Bruder, der sich aber zur Zeit im Ausland herumtreiben würde, sagte sie bloß: „Muss irgendwie scheiße sein, wenn man Geschwister hat.“ Womit sie ja nicht ganz falsch lag.

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