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4

Es gibt da allerdings etwas, das ich Claudia nicht gesagt habe. Ihr nicht, und auch sonst keinem Menschen. Niemand sollte jemals davon wissen, schon gar nicht Thomas. Und auch jetzt bin ich nicht sicher, ob es richtig ist, dass ich es niederschreibe. Ich riskiere es auch nur, weil ich weiß, dass mein Laptop großzügiger ist als die Wirklichkeit, verständnisvoller als jeder menschliche Zuhörer und barmherziger als mein eigenes Gewissen: Er gewährt die Gnade der Löschtaste. Denn wenn ich könnte, würde ich alles sofort ungeschehen machen.

Aber wie soll man etwas beschreiben, das einem bereits in dem Augenblick, als es passierte, völlig unwirklich vorkam? Das man erst zu realisieren begann, als das Gehirn schon auf Autopilot geschaltet hatte, sich Gedanken und Bilder mit der Wirklichkeit vermischten und daraus eine Geschichte machten, die man irgendwann gelesen oder in einem Film gesehen hatte? Wäre ich damals von der Polizei vernommen worden, stünde dann die Wahrheit im Vernehmungsprotokoll?

… auf die Frage, ob seine bisherige Schilderung der Ereignisse vollständig sei und der Wahrheit entspräche, erklärte Herr Markus Steinfelder nach langem Zögern, er wolle seine Aussage in einem entscheidenden Punkt korrigieren. Bis jetzt habe er behauptet, er sei bei seiner stundenlangen Suche nach Roswitha Brunnhofer erfolglos gewesen und habe sie nach ihrem plötzlichen Verschwinden aus seiner Wohnung nicht mehr gesehen. Nun aber müsse er zugeben, dass diese Behauptung eine Lüge gewesen sei. In Wahrheit sei es nämlich in der fraglichen Nacht sehr wohl zu einer letzten Begegnung zwischen ihm und Roswitha Brunnhofer gekommen. Dies sei irgendwann zwischen ein und zwei Uhr früh geschehen, jedenfalls zu einem Zeitpunkt, an dem er nicht mehr damit gerechnet habe. Er sei völlig überrascht gewesen, als er Roswitha Brunnhofer plötzlich am Rudolfskai aus dem Szenelokal Harry’s Pub herauskommen gesehen habe. Sie sei in Begleitung eines ihm unbekannten, etwa gleichaltrigen Mannes gewesen, weswegen er zunächst in einiger Entfernung stehen geblieben sei und die beiden beobachtet habe.

Nach einigen Minuten sei der Mann wieder ins Lokal gegangen und habe Roswitha Brunnhofer allein gelassen. Diesen Moment habe er nutzen wollen, um sie wegen ihres Verhaltens zur Rede zu stellen. Er sei mit wenigen Schritten bei ihr gewesen, und als sie versucht habe, vor ihm in Harry’s Pub zu flüchten, habe er sie am Arm gepackt und über die Straße zur Mauer an der Salzachböschung gezerrt. Dort sei es ihr gelungen, sich von ihm loszureißen, sie habe ihm wütend ins Gesicht geschlagen und zwischen die Beine getreten, worauf er sie reflexartig zurückgestoßen habe. Dann habe er nur noch einen kurzen Schrei gehört, und sie sei auf einmal nicht mehr da gewesen, einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Es habe einige Augenblicke gedauert, bis ihm bewusst worden sei, was passiert sein musste. Durch seinen Abwehrstoß habe Roswitha Brunnhofer offenbar das Gleichgewicht verloren, sei nach hinten getaumelt, über die an dieser Stelle kaum hüfthohe Mauer gefallen und über die steile, felsige Böschung gut zehn Meter in die Tiefe gestürzt. In der Dunkelheit habe er ihren Körper unten am Flussufer zunächst gar nicht richtig sehen können, und als dann von der verrenkten Gestalt zwischen den Steinen auch kein einziger Laut, kein Hilferuf, kein Stöhnen zu ihm nach oben gedrungen sei, habe nur ein einziger Gedanke schlagartig von ihm Besitz ergriffen, eine Gewissheit, die stärker gewesen sei als der Impuls, zu helfen oder wenigstens Hilfe zu holen, und mächtiger als jede Vernunft: die Überzeugung, dass Roswitha Brunnhofer tot sei und dass er sie umgebracht habe. Daraufhin sei er in Panik weggerannt und habe gehofft, die Polizei würde nie auf seine Spur kommen …

So oder so ähnlich. Was weiß ich, wie ein richtiges Vernehmungsprotokoll ausschaut, ich habe noch nie eines zu Gesicht bekommen, bin nie von der Polizei befragt, vernommen, verhört worden, musste nie eine Aussage machen, ein Geständnis unterschreiben. Aber darum geht es jetzt auch gar nicht. Die Frage ist, ob es sich wirklich so abgespielt hat. Sind ein paar logisch aneinandergereihte Erinnerungsfetzen schon die ganze Geschichte?

Habe ich Roswitha tatsächlich über die Mauer gestoßen oder habe ich sie in Wirklichkeit gar nicht berührt und ihr Sturz war nichts als ein schreckliches Unglück? Welche Rolle hat mein Hass auf Roswitha gespielt, in den ich mich während meiner vergeblichen Suche nach ihr hineingesteigert hatte? Hat er mir diese Variante der Geschichte diktiert, weil in meinem Kopf schon die längste Zeit nur ein einziger Satz im Kreis gelaufen war, sich ununterbrochen wiederholt hatte wie ein Mantra: „Wenn ich dich finde, bringe ich dich um!“? Habe ich mich in die Rolle des Mörders versetzt, nur weil ich in dieser Nacht Roswithas Mörder sein wollte? (Aber wenn es bloß eine verheerende Vorstellung war, die nach Entsprechung in der Wirklichkeit verlangte, war ich dann nicht auch nur ein Narr wie mein kleiner Bruder?)

Meine Überzeugung, Roswitha getötet zu haben, war so groß, dass ich keine Sekunde daran dachte, über die Böschung zu ihr hinunterzuklettern. Vielleicht war sie ja gar nicht tot, sondern nur bewusstlos, und ich hätte sie retten können. Aber dann? Mord, Mordversuch, Totschlag, versuchter Totschlag, schwere Körperverletzung, Unfall mit Todesfolge … mein Autopilot kannte da keinen Unterschied, sondern schaltete augenblicklich auf Flucht.

Dabei wusste ich nichts, absolut nichts. Die Bilder, die mein Gehirn generierte, hatten ihren Ursprung ausschließlich in zahllosen Fernsehkrimis, die ich gesehen hatte. Bilder von Mordopfern, aus Hochhausfenstern oder von Klippen gestoßen. Nahaufnahmen von Menschen, die aussahen wie zerbrochene Gliederpuppen. Von verzerrten Gesichtern mit vor Entsetzen weit aufgerissenen, toten Augen. Und immer wieder von dunklen Blutlachen, die sich unter zerschmetterten Schädeln ausbreiteten.

Und genau so sah ich Roswitha vor mir: ein lebloses Porzellangesicht mit Augen aus Glas. Und rund um ihren Kopf, wie ein Strahlenkranz über die Steine am Flussufer ausgebreitet, ihr Haar. Ihre rote Mähne, die immer länger wurde und immer röter. Dunkelrot. Blutrot. Ihre Haare, die in dicken, feuchten Strähnen aus ihrem Hinterkopf hervorquollen und nicht aufhören wollten zu wachsen und sich über den Ufersand, die Kiesel und Felsbrocken zu ergießen. Die Rinnsale bildeten, Bäche, Ströme. Haarströme, Bluthaarströme, Blutströme, mit denen alles Leben aus Roswitha herausfloss, um zwischen Steinen und Grasbüscheln und Dreck zu versickern, zu vertrocknen, zu verschwinden.

Absoluter Schwachsinn, ich weiß. Aber das ist ja das Problem: Vorstellung schlägt Realität. Und zwar um Längen.

Ich war so sicher, dass ich Roswitha umgebracht hatte. Deshalb blendete ich völlig aus, was ich tatsächlich wahrgenommen hatte: Roswithas Knie, das sie mir in den Schritt rammte, und fast gleichzeitig meine Faust, die wie von selbst nach vorn schnellte, die zustoßen, abwehren wollte, ehe ich mich vor Schmerz zusammenkrümmte. Dann diesen Schrei, diesen kurzen, hellen Laut, der sich anhörte, als hätte Roswitha gelacht, einfach nur gelacht über diesen Idioten, der da vor ihr in die Knie ging und nach Luft rang. Danach, als ich mich wieder vorsichtig aufrichtete und tief durchatmete und schon die nächsten Tritte oder Schläge befürchtete, meine Verblüffung und Ratlosigkeit, weil ich Roswitha plötzlich nirgends mehr sehen konnte. Und schließlich, bei einem zufälligen Blick hinunter ans Flussufer, die reglose menschliche Gestalt zwischen den Steinen, kaum zu erkennen im Dunkel der Nacht. Das war alles. Das war die Wirklichkeit. Aber da übernahmen schon die Bilder in meinem Kopf das Kommando. Diese beschissenen, gottverdammten Bilder, die mich zum Mörder machten.

Bei ihrem Sturz hätte sich Roswitha ebenso gut sämtliche Knochen brechen können, das Rückgrat, das Genick. Auch tödliche Verletzungen innerer Organe wären denkbar gewesen. Oder ein letaler Schock. Es gibt so viele Ursachen, die zum Tod führen und die danach keinen derart grausamen, blutigen Anblick bieten. Ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass sie, wie durch ein Wunder, nur mit ein paar Schrammen hätte davonkommen können. Aber nein, es musste unbedingt das Bild von Roswithas zerschmettertem Schädel sein und ihrer roten Haare, ihrer blutroten, blutgetränkten Haare in einer Blutlache, das meinen Kopf okkupierte.

Dieses Bild ließ mich nicht mehr los. Ich konnte nicht vor ihm davonrennen. Ich konnte es nicht mit Schlaftabletten vertreiben. Ich konnte es nicht auskotzen. Es fraß sich in mein Gehirn, setze sich fest, kapselte sich ein. Ein mieser, hässlicher Parasit.

Ich rechnete ständig mit meiner Verhaftung. Es war schließlich nicht schwer, eine Verbindung zwischen dem Mordopfer und mir herzustellen. Und wenn jemand wusste, dass sich Roswitha erst ein paar Stunden vor ihrer Ermordung Hals über Kopf von mir getrennt hatte und diese Information an die Kripobeamten weitergab, brauchten die nur mehr eins und eins zusammenzuzählen. Gut, ich konnte dann noch immer alles abstreiten. Aber was, wenn es einen Zeugen gab? Wenn irgendwer von der anderen Straßenseite aus den stillen Kampf zwischen mir und Roswitha beobachtet hatte?

Da war doch dieser Mann, mit dem Roswitha Harry’s Pub verlassen hatte. Er war zwar nach wenigen Augenblicken wieder zurück ins Lokal gegangen, aber konnte ich sicher sein, dass er nicht kurz darauf noch einmal herausgekommen war und alles gesehen hatte? Vielleicht nur zu spät, um einzugreifen und mich von meiner Tat abzuhalten? Zu erschrocken, zu fassungslos, um meine Flucht zu verhindern oder mich zu verfolgen? Aber trotz allem ein Augenzeuge, der mir mit einer genauen Täterbeschreibung bei der Polizei gefährlich werden konnte?

 

Doch nichts geschah. Keine Polizei, keine Befragung, keine Festnahme. Auch in den Zeitungen nicht eine Zeile. Kein einziges Wort über eine tote junge Frau, ein Verbrechen oder einen tragischen Unfall. Es war mir ein Rätsel. Kam die Polizei aus irgendeinem Grund mit ihren Ermittlungen doch nicht weiter? Hielt sie deshalb Informationen zurück? Dass man Roswithas Leiche mittlerweile noch nicht entdeckt hatte, war ja wohl höchst unwahrscheinlich.

Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

Ich war so in meinen Vorstellungen gefangen, dass für mich alles andere bedeutungslos geworden war. Es fiel mir schon schwer genug, mir für Thomas eine plausibel klingende Lügengeschichte einfallen zu lassen. Dass ich das schaffte, erstaunt mich heute noch. Doch etwas anderes wundert mich überhaupt nicht: Das Unwetter, das über die Stadt hereingebrochen war, hatte ich völlig verdrängt.

Bereits während meiner Flucht hatten die ersten Blitze die Nacht erhellt. Und dann hatte der Himmel mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag seine Schleusen geöffnet, und ich war vom Regen völlig durchnässt gewesen, als ich endlich meine Wohnung erreicht hatte. Aber die Bilderflut und das Gewitter in meinem Kopf müssen noch heftiger gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich an den folgenden Tagen nie an die Wassermassen dachte, die in dieser Nacht stundenlang auf die Stadt niedergegangen waren.

Es war wie ein Befreiungsschlag, als ich mich endlich daran erinnerte. Klar, dachte ich, man hatte Roswithas Leiche tatsächlich noch nicht entdeckt. Durch das Unwetter war der Wasserstand der Salzach in kürzester Zeit um viele Meter gestiegen. Der friedliche Fluss hatte sich in einen breiten, reißenden Strom verwandelt und, wie schon so oft, alles mitgerissen, was an seinen Ufern nicht niet- und nagelfest verankert gewesen war.

Unglaublich, was bei Hochwasser so alles in den schlammig braunen Fluten treibt. Unmengen von Abfall. Plastiksäcke, Fahrradteile, Gummibälle, Kleidungsstücke. Manchmal tote Tiere. Vor allem aber alle Arten von Holz. Bretter, Pflöcke, entwurzelte Sträucher, Zweige, Äste, Baumstämme, sogar ganze Bäume, die mit ihren riesigen Wurzelstöcken aussehen wie vorsintflutliche Ungeheuer. Da war es doch nur logisch, dass sich der wild gewordene Strom auch Roswithas Leiche geholt hatte. Zuerst hatte er das Blut von den Steinen gespült, dann hatte er nach ihren Haaren gegriffen, schließlich war sie fortgerissen worden von der dreckigen Flut. War eine Zeit lang auf dem Wasser dahingetrieben, Treibgut zwischen anderem Treibgut, hatte sich in totem Geäst verfangen oder war von einem Strudel in die Tiefe gezogen worden. Und jetzt lag sie wohl auf dem Grund des Flusses, irgendwo weit weg, eingeklemmt, zusammengedrückt zwischen Baumstämmen, vielleicht verstümmelt bis zur Unkenntlichkeit.

Nicht, dass ich Roswitha so ein Ende gewünscht hätte. Mein Hass auf sie hatte rasch in Wut auf mich selbst umgeschlagen. Ich war wütend über die Situation, in die ich mich selber gebracht hatte. Wütend über meine unfassbare Unvernunft, angefangen bei meiner idiotischen blinden Liebe zu Roswitha bis hin zum völligen Wahnsinn, einen Mord zu begehen. Mein Herz hatte schon gewusst, was es tat, als es mich in jener Nacht nicht einschlafen ließ mit seinen wütenden Trommelschlägen: bambam-bambam-du-Arsch-du-Arsch!

Trotzdem muss ich zugeben, der Gedanke, oder vielmehr die Hoffnung, dass man Roswitha erst nach Wochen, Monaten oder möglicherweise überhaupt nie finden würde, erleichterte mich. Und irgendwann wurde aus der Hoffnung Gewissheit. So gesehen stimmte die Geschichte sogar, die ich später Thomas auftischte: Roswitha war spurlos verschwunden.

Aber die Bilder in meinem Kopf, die verschwanden nicht. Immer wieder tauchten sie unvermutet auf und quälten mich. Schon beim Anblick der Kaimauer begann ich zu zittern, mein Magen krampfte sich zusammen, kalter Schweiß lief mir übers Gesicht. Wann immer ich konnte, mied ich die Gegend und zwang mich zu Umwegen. Es dauerte lang, bis die Bilder ihre Wirkung verloren, bis sie verblassten wie alte Fotos. Und erst ein paar Jahre später, den Verkehrsplänen der Stadt und den Baumaschinen sei Dank, erinnerte mich am Kai endlich fast nichts mehr an den Unglücksort: keine viel zu niedrige Ufermauer mehr, an ihrer Stelle ein breiter Radweg den Fluss entlang, gut gesichert durch ein hohes Geländer. Harry’s Pub längst geschlossen. Dafür ein Lokal neben dem anderen und jede Nacht die Hölle los. Hunderte von Jugendlichen, Betrunkene, Randalierer, Polizei. Nein, so ein einsamer Kampf wie damals zwischen Roswitha und mir wäre gar nicht mehr möglich. Nur die Felsen, diese verfluchten schwarzen Felsen unten am Wasser, die liegen immer noch da.

Ich bin ein Mörder, der davongekommen ist, dachte ich. Nicht durch einen perfekt geplanten Mord, sondern einfach durch Zufall. Ich hatte Schwein gehabt.

Bis auf ein Kleinigkeit: Wer war der Mann, mit dem ich Roswitha gesehen hatte? Hatte er etwas gegen mich in der Hand, war er eine Gefahr für mich? Und wenn es so war, warum schwieg er, was hatte er vor? Auf welche Gelegenheit wartete er, wann würde er zuschlagen?

Doch je länger nichts passierte, desto sicherer wurde ich, dass meine Sorgen unbegründet waren. Alles war gut. Ich war schließlich kein Irrer wie Thomas, der überall nur Feinde sah. Ich musste nur noch lernen, mit meiner Schuld zu leben.

Und das gelang mir hervorragend.

Ich verfrachtete die tote Roswitha in den Keller meiner Seele. In den großen Tresor, in dem ich bereits meine toten Eltern abgelegt hatte, sicher verwahrt hinter einer Tür aus schwerem Panzerstahl. Niemand würde die Tote dort jemals finden, davon war ich überzeugt. Niemals würde sie mir gefährlich werden können. Nie wieder würde mich ihr Anblick erschrecken, wenn ich so klug war, den Tresor geschlossen zu halten. Kein Schuldgefühl, kein Pesthauch des Todes würden meine Erinnerung ans Leben vergiften. Ans Glück, das ich empfunden hatte, wenn Roswitha auf mir saß und vor Lust schrie und ihr Haar in der Morgensonne brannte. Was tot war, würde für immer bei den Toten bleiben, ich musste nur noch den Zifferncode vergessen, mit dem sich die Tresortür öffnen lässt.

Soeben habe ich alles durchgelesen, was ich da in den letzten beiden Stunden in meinen Laptop getippt habe. Wort für Wort. Diese ganze erbärmliche, kranke Scheiße. Und mir ist klar, dass mich das jetzt ziemlich mies ausschauen lässt, milde ausgedrückt. (Was Frau Doktor Freud von mir dächte, wenn ich es ihr erzählen würde, möchte ich erst gar nicht wissen.)

Egal. Ich lass das jetzt einmal so stehen.


distanzverlust

protokoll 1

mit diesem protokoll versucht die verfasserin, ihren schrittweisen verlust an emotionaler distanz zu einem ihrer patienten zu stoppen oder wenigstens einigermaßen unter kontrolle zu halten. seit sie registriert hat, dass ihr interesse an diesem patienten das professionell zulässige maß bei weitem übersteigt, fühlt sie sich zunehmend irritiert: einerseits weiß sie, dass die wachsende empathie sie bei der erfüllung ihrer aufgabe als psychotherapeutische begleitung beeinträchtigt, andererseits kann sie sich der unerklärlichen faszination, die der patient auf sie ausübt, nicht entziehen.

um sich aus diesem dilemma zu befreien, folgt die verfasserin dem rat einer kollegin, alle durch den patienten hervorgerufenen gedanken und gefühle regelmäßig aufzuschreiben und dabei eine möglichst neutrale beobachterhaltung einzunehmen. deshalb schreibt die verfasserin in diesem protokoll über sich in der dritten person einzahl (sie) und verwendet außerdem, wenn nötig, statt ihres eigenen namens die bezeichnung „alpha“. ebenso verfährt sie bei ihrem patienten, den sie der einfachheit halber „zero“ nennt. außerdem gebraucht sie konsequent die für sie ungewohnte kleinschreibung, um dadurch noch größere objektivität zu erzeugen und der unreflektierten empathie-umklammerung, wie sie es nennt, ein weiteres element der selbstkontrolle entgegenzusetzen. dieses protokoll ist also der versuch einer „autonomen supervision“.

bereits bei ihrer ersten begegnung war alpha vom außergewöhnlichen verhalten überrascht, das zero an den tag legte. denn während die meisten chemotherapiepatienten erst vorsichtig und mühsam dazu gebracht werden müssen, die mauer des schweigens zu durchbrechen, hinter der sie sich oft schon ein leben lang verbarrikadieren, sich endlich zu öffnen und für ihren zustand, ihr leiden, ihre sorgen und ängste irgendwelche worte zu finden, redete zero sofort drauflos.

die erstaunliche offenheit, mit der zero seither über sich und sein leben spricht, beeindruckt alpha ganz enorm. irgendwas sagt ihr, dass sie es mit einem außergewöhnlichen menschen zu tun hat, einer person, die in ihrem leben noch eine bedeutende rolle spielen wird.

bei selbstkritischer betrachtung muss sich alpha eingestehen, dass es sogar einen ganz konkreten grund für ihr übermäßiges interesse an zero gibt: zero ist ungefähr im alter ihres vaters, den sie nie kennengelernt hat. sie war erst zwei, als er ihre mutter verließ, die sich danach beharrlich weigerte, auch nur ein einziges wort über ihn zu verlieren. keine bilder, keine erinnerungen, nur eine große sehnsucht, ihm wenigstens einmal zu begegnen und mit ihm zu sprechen. nach dem tod ihrer mutter vor ein paar jahren hat alpha begonnen, nach ihrem vater zu suchen, bis jetzt vergeblich. eigentlich wollte sie schon aufgeben, doch nun hat sie auf einmal das gefühl, dass sie doch endlich erfolg haben könnte. hat sie der zufall auf die richtige spur gebracht? wäre es sogar möglich, dass zero alphas vater ist? sie könnte ihn fragen, aber dafür fehlt ihr der mut. deshalb bleibt ihr wohl nichts anderes übrig, als ihn so oft wie möglich zu besuchen und ihm zuzuhören. vielleicht verrät er sich ja irgendwann und sie erfährt so die wahrheit, wie auch immer sie aussehen mag.

5

Die Schnittwunden auf meiner Stirn verheilten rasch. Bereits nach drei Tagen wurden die Fäden gezogen. Endlich war ich den Verband los, der mir bis über die Nasenwurzel und die Augen gereicht hatte. Doch nun stellte sich heraus, dass ich unter Sehstörungen litt. Ich sah alles verschwommen und leicht verzerrt, manchmal sogar doppelt. Wie durch geriffeltes Milchglas. Deshalb musste ich noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, zur Beobachtung, wie es hieß, und für weitere Untersuchungen. Man untersuchte mich in der Augenklinik, man machte eine Computertomographie von meinem Kopf und eine Hirnstrommessung, alles ohne Befund. Aber nach einiger Zeit, um es vorweg zu nehmen, begann sich mein Zustand von selbst zu normalisieren und die Symptome verschwanden.

Bis ich wieder klar sehen konnte, lebte ich allerdings in einer gespenstischen Welt. Besonders der Anblick meines Bruders erschreckte mich jedes Mal auf Neue. Täuschten mich nur meine Augen, oder war aus ihm in den letzten beiden Jahren, während der wir einander nicht gesehen hatten, tatsächlich dieser aufgedunsene, stoppelglatzige, ziegenbärtige Gnom geworden, der da neben meinem Bett hockte und mir mit seinen Vergeltungsschwüren für Tanjas angebliche Vergewaltigung in den Ohren lag? Der immer wieder dieselben haarsträubenden, hasserfüllten Behauptungen absonderte und mich zum Komplizen seiner Rache machen wollte? Ich wusste, dass ich mit ihm darüber nicht diskutieren konnte, und außerdem war ich zu müde, zu schwach für eine Auseinandersetzung. Meine einziger Ausweg war, ihn zu ignorieren. Sollte dieser hässliche Freak doch daherquatschen, was er wollte, ich hörte einfach nicht mehr hin.

Das gelang mir allerdings nicht immer. Ich versuchte, Thomas abzulenken, und fragte ihn nach dem Befinden von Tanja. Vergeblich. Er hatte sich derart verbohrt in seine zwanghafte Idee, es dem Vergewaltiger heimzuzahlen, dass daneben für nichts anderes mehr Platz war. Tanjas augenblicklicher Zustand interessierte ihn ebenso wenig wie der meine.

„Weiß nicht. Liegt im künstlichen Tiefschlaf. Aber ich schwör dir, wenn sie stirbt, bring ich das Dreckschwein um.“

Das war alles. Mehr fiel ihm nicht ein zu seiner Frau, die zwei Stockwerke über uns in der Intensivstation lag.

Es war hoffnungslos. Ich konnte sagen, was ich wollte, es lief immer wieder aufs selbe hinaus. Bis mir der rettende Einfall kam.

„Kannst du eigentlich Auto fahren, Tommi?“ „Ja. Warum?“

„Irgendwo vor der Spitalseinfahrt müsste noch das Cabrio stehen. Nicht ganz vorschriftsmäßig, fürchte ich. Vielleicht hat man es sogar schon abgeschleppt. Könntest du dich darum kümmern?“

 

„Du meinst den Scheiß-VW von Pa?“

„Ja. Vaters heißgeliebten Käfer.“

„Die beschissene Kiste gibt’s noch immer? Was soll ich damit machen?“

„Mach, was du willst, Tommi. Schlüssel steckt, Papiere sind im Handschuhfach.“

„Geht in Ordnung. Ich kümmer’ mich irgendwann drum.“

„Nicht irgendwann. Gleich, Tommi. Sofort.“ „Okay, wie du willst.“

Eine halbe Minute später war Thomas weg. Endlich. Ich hatte bei ihm auf den richtigen Knopf gedrückt. Der Groll auf unsere toten Eltern schwelte nach wie vor in ihm. Und wie gewohnt war er knapp bei Kasse.

Nein, in dieser Hinsicht hatte er sich nicht verändert. Vernünftige Argumente prallten an ihm ab. Doch wenn man seinen wunden Punkt traf, spurte er sofort wie ein dressiertes Hündchen. Man konnte allerdings nie wissen, wohin es führen und was dabei herauskommen würde. Aber in diesem Augenblick war mir das egal. Ich war nur erleichtert, dass ich den Quälgeist für einige Zeit losgeworden war.

Es war wie damals, nachdem sich Roswitha in Luft aufgelöst hatte. Monatelang, bis er das Gymnasium geschafft hatte, war es mir gelungen, Thomas mit meinen Lügen einigermaßen zu beruhigen. (Und, wenn ich ehrlich bin, auch mich selber.) Doch danach wusste ich mir keinen Rat mehr.

Wegen seiner geringen Körpergröße musste Thomas keinen Wehrdienst leisten, so blieb die Verantwortung für ihn weiter an mir hängen. Ob ich es wollte oder nicht, ich hatte ihn am Hals und musste nun miterleben, wie er aus unserer Wohnung eine regelrechte Kultstätte für Roswitha machte. Nach dem Tod unserer Eltern hatte er jede Erinnerung an die beiden so schnell wie möglich auszulöschen versucht. Jetzt tat er das genaue Gegenteil. Und das mit einer Verbissenheit, die schon an Wahnsinn grenzte.

Das muss man sich einmal vorstellen: Da will ich endlich die Wohnung frisch ausmalen, bin gerade dabei, im Vorzimmer ein Graffiti nach dem anderen mit weißer Farbe zu übertünchen, und plötzlich drängt sich Thomas dazwischen, stellt sich mit hochrotem Kopf und weit ausgebreiteten Armen schützend vor die knallbunte Scheiße, die Roswitha vor Jahren an die Wand gesprayt hat, zittert am ganzen Leib und bekommt fast einen Tobsuchtsanfall.

„Das tust du nicht“, brüllt er. „Dazu hast du kein Recht! Das bleibt alles so, wie es ist! Du rührst nichts an, bis Roswitha wieder da ist!“

Sinnlos, ihm zu erklären, dass er sich falsche Hoffnungen mache. Dass er aufhören solle, Roswitha nachzutrauern. Dass es an der Zeit sei, sie ein für alle mal zu vergessen. Dass Roswitha wie jeder Mensch ein Anrecht darauf habe, an einem anderen Ort ein neues Leben zu führen.

Es nützt nichts. Der sture Hund rückt keinen Millimeter von seiner Überzeugung ab, Roswitha würde zu uns zurückkommen. Sogar als ich mich in letzter Not zu dem Argument hinreißen lasse, niemand könne wissen, ob Roswitha nicht schon längst tot sei, möglicherweise einer schlimmen Krankheit zum Opfer gefallen, einem schrecklichen Unfall oder einem Verbrechen, umgekommen irgendwo weit weg, vielleicht in Süditalien oder auf einem anderen Kontinent, ja, sogar da reagiert mein Bruder mit nichts als unverhohlener Verachtung für mich und mit Wut und Empörung.

„Du Arsch! Niemand nimmt mir Roswitha weg! Niemand! Und du schon gar nicht!“

Und ich Idiot gebe klein bei. Um des Friedens willen mache ich nicht weiter. Lasse es bleiben. Das Ausmalen ebenso wie den Versuch, Thomas zur Vernunft zu bringen. Kapituliere, statt ein Machtwort zu sprechen. Weil irgendwie tut mir Thomas sogar leid. Scheiß Bruderspiel, würde Claudia sagen.

Und dann beginnt der Wahnsinnige auch noch mit einem Küchenmesser die frische, weiße Farbe abzukratzen. Legt in stundenlanger Arbeit die Graffitis wieder frei, vorsichtig, Quadratzentimeter um Quadratzentimeter. Schabt und wischt, beharrlich, geduldig und mit Feuereifer, als wäre er ein Archäologe, der ein kostbares, antikes Wandgemälde vom Dreck von Jahrhunderten befreit. Wird zum Restaurator, um schadhafte Stellen wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen, schleppt kartonweise alte Farbspraydosen aus dem Keller in die Wohnung, sprüht jede fehlende Linie nach, füllt Farbflächen, ergänzt Schwünge und Kanten, bis endlich alles wieder genau so ist, wie es Roswitha zurückgelassen hat.

Doch das reicht ihm noch lange nicht. Und ich lasse ihn machen, weiß der Teufel, warum. (Zwischenfrage an Frau Doktor Freud: Ist es denkbar, dass auch mir die Vorstellung durchaus willkommen war, ich würde eines Morgens aufwachen, Roswitha läge neben mir ihm Bett, und alles wäre nur ein böser Traum gewesen? Können Illusionen ansteckend wirken, allenfalls eine Zeit lang und in einmal mehr, einmal weniger heftigen Schüben? Oder gibt es eine andere Erklärung für meine fast ein halbes Jahr andauernde Lethargie?)

Heute muss ich ja fast lachen, wenn ich mich daran erinnere. Kommt der Kerl doch tatsächlich eines Tages mit einem Stapel von Kunstgeschichtebüchern an, die er auf einem Flohmarkt gekauft hat, und verteilt sie in der ganzen Wohnung. Macht wenig später einen Aufstand, als er bemerkt, dass ich den Kleiderschrank wieder zur Gänze für mein Zeug benutze. Räumt Roswithas ehemalige Fächer leer, schafft Platz für ihre Sachen. Hängt zusätzliche Handtücher ins Badezimmer. Stellt einen neuen Zahnputzbecher samt Zahnbürste auf die Etagere. Stopft das Spiegelkästchen voll mit Kosmetiksachen und Tamponpackungen. Und zu guter Letzt finde ich sogar auf dem Badezimmerboden einen Haufen ungewaschener Damenslips, sicher zwanzig oder mehr, Roswithas alte Slips, die sich der kleine Perversling im Laufe der Zeit zusammengeklaut und in seinem Zimmer versteckt hat.

Jeden Tag ein neues Déja-vu. Jeden Tag für einen Augenblick das Gefühl, Roswitha sei noch hier. Jeden Tag ein kleiner Stich ins Herz. Jeden Tag meine Kapitulation vor Thomas’ manischer Roswitha-Inszenierung, bei der ich mitspiele, weil ich nicht anders kann. Bis ich es schließlich doch nicht mehr aushalte.

Als Thomas damit anfängt, jedes Mal, wenn er die Wohnung betritt, „Hallo Roswitha! Hallo Markus!“ zu rufen, wird es mir zu viel. Soll ich jetzt auch noch mit verstellter Stimme antworten, um den Schein aufrecht zu halten? Aus! Es reicht. Schluss mit dem faulen Zauber.

Ich weiß, mit Vernunft ist Thomas nicht beizukommen. Und mit der Wahrheit schon gar nicht. Also muss wieder ein Lüge her. Eine Täuschung, mit der ich seine Selbsttäuschung übertrumpfen kann. Eine Geschichte, die Thomas dazu bewegt, wenigstens eine Zeit lang zu verschwinden und mich in Ruhe zu lassen.

Es ist mein Geschenk zu seinem neunzehnten Geburtstag. Drei gute Nachrichten. Erstens, dass er ab sofort das Recht habe, zu tun oder zu lassen, was er will, weil ich nicht mehr für ihn verantwortlich sei. Zweitens, dass er nun selbstverständlich auch über das Geld, das ihm unsere Eltern vererbt haben, frei verfügen könne. Und drittens, dass ich gehört hätte, Roswitha sei von einem ehemaligen Studienkollegen im Hafen von Piräus gesehen worden, als sie gerade die Fähre nach Mykonos bestiegen habe.

Ich bin verblüfft, wie präzise die letzte Nachricht auf Thomas wirkt. Er stellt keine Fragen, zieht nichts in Zweifel. Am liebsten würde er sofort alles stehen und liegen lassen und nach Griechenland aufbrechen, um Roswitha zu suchen. Das Einzige, was ihn davon abhält, ist die Bank, die für die Regelung einiger finanzieller Fragen und die Ausstellung seiner Kreditkarte zehn Tage braucht. Doch dann packt er ein paar Klamotten in einen Rucksack und macht sich auf den Weg. Ruft nur noch „Ciao, Markus! Ich bring Roswitha zurück!“ und haut ab.