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2

Eines will ich gleich einmal klarstellen: Ich erzähle diese Geschichte nicht, um mein Gewissen zu erleichtern oder damit man mir vergibt. Wer könnte mir schon vergeben, wer hätte das Recht, über Schuld oder Unschuld ein Urteil zu fällen? Ganz bestimmt nicht die junge Psychotherapeutin, die jeden Tag eine Stunde lang an meinem Bett sitzt, mir aufmerksam zuhört und sich gewissenhaft in ein kleines Buch Notizen macht, während ich rede und rede und rede.

Frau Doktor Freud – so nenne ich sie für mich, weil ich mir ihren richtigen Namen einfach nicht merken kann – wird vom Krankenhaus bezahlt, sie gehört sozusagen zum All-inclusive-Angebot für Krebspatienten, die in der Sonderklasse liegen. Aber was ich zu sagen habe, scheint sie wirklich zu interessieren, denn seit einiger Zeit besucht sie mich öfter, als sie müsste, manchmal am Wochenende, manchmal spätabends nach ihrem Dienstschluss. Ich finde das gut, weil es mir einfach leichterfällt, über all das nachzudenken, was vor ein paar Jahren geschehen ist, wenn ich es jemandem erzählen kann.

Es ist dann jedes Mal so, als würde ich das Ende des Fadens in die Finger bekommen, der mich aus meinem Labyrinth herausführt. Und hinterher, wenn sie wieder gegangen ist, tippe ich alles in meinen Laptop. Alles, was ich erzählt habe, alles, was mir noch dazu einfällt, und manches, was ich vielleicht lieber nicht erzählen möchte und deshalb vermutlich irgendwann wieder löschen werde. Spule den Gedankenfaden weiter auf, immer weiter, ohne zu wissen, wohin er mich bringen wird. Es ist schließlich das Einzige, was ich noch tun kann.

So denke und rede und schreibe ich, um nicht ständig die Infusionsflaschen und Plastikbeutel anstarren zu müssen, aus denen beinahe rund um die Uhr dieser Giftcocktail durch dünne Schläuche in meine Venen rinnt, diese wohldosierte Chemiemixtur, die endlich meine Krebszellen umbringen soll. Denke, rede und schreibe gegen die Übelkeit an, die mich in regelmäßig wiederkehrenden Wellen überfällt, gegen den Gestank, den ich auszudünsten vermeine, gegen den Drang, ständig erbrechen zu müssen, und vor allem gegen die unerklärliche Kälte, die durch meine Adern strömt, als hätten sich meine Blutkörperchen in Eiskristalle verwandelt. Sogar die Ärzte wissen nicht, was diese Kälte verursacht. Mein Blutdruck sei völlig in Ordnung, sagen sie, und die Anzahl meiner Leukozyten ebenso. Doch ich bilde mir das nicht bloß ein, ich friere wirklich.

Statistisch betrachtet ist mein Krebs nicht lebensgefährlich. Ein typisches, häufig vorkommendes Leiden von Männern im fortgeschrittenen Alter, mit einer Heilungschance von fünfundneunzig Prozent. Ich habe mir deshalb auch keine allzu großen Sorgen gemacht. Bis ich vor einer Woche aus dem Zimmer neben dem meinen die halbe Nacht hindurch leises Jammern und Stöhnen vernahm. Aber nachdem ich meine Schlaftablette genommen hatte, schlief ich schließlich doch ein, und am nächsten Morgen war von nebenan nichts mehr zu hören. Ich wusste, dass mein Zimmernachbar den gleichen Krebs hatte wie ich und sich auch im selben Behandlungsstadium befand, und dachte, es ginge ihm wieder besser. Doch als ich mich bei der Nachtschwester nach ihm erkundigte, erklärte sie mir – gleich darauf verlegen und erschrocken, denn sie hätte es mir eigentlich gar nicht sagen dürfen –, dass er in den Morgenstunden gestorben sei. Seither weiß ich, niemand kann mir garantieren, dass nicht auch ich zu den restlichen fünf Prozent gehöre, die es trifft.

Ich hatte übrigens die Wahl: entweder die Psychotante oder einen Pfarrer. Gott kann warten, dachte ich damals, bis dahin habe ich noch jede Menge Zeit. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Trotzdem, Frau Doktor Freud ist jetzt genau richtig für mich. Vielleicht, weil sie vom Alter her meine Tochter sein könnte, das Kind, das ich nie hatte, und dem ich jetzt erzählen kann, woraus das Leben in Wirklichkeit besteht. Nämlich aus viel mehr Fragen, als es Antworten gibt. Shit happens. So einfach, so banal.

Ein paar Antworten möchte ich allerdings schon noch bekommen. Nur Antworten, keine großen Wahrheiten oder Erklärungen, was richtig ist und was falsch, oder gar, was gut und was böse. Einfach Antworten. Also vermutlich das, was ich ohnehin weiß, aber bloß nicht zu denken wage, geschweige denn auszusprechen. Noch nicht.

Ich denke, im Grunde mache ich das Gegenteil dessen, was der Krebs in meinem Körper macht: Ich fange bei den Metastasen an und versuche dorthin zu gelangen, wo sie zu wuchern begonnen haben. Eigentlich völliger Unsinn, denn das, was geschehen ist, ändert sich dadurch auch nicht mehr. Leben lässt sich nicht rückgängig machen, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es gar nicht wollen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was mich frösteln lässt.


3

Die Nacht, in der sich ein dünner Eispanzer über die ganze Stadt gelegt hatte, war tagelang das alles beherrschende Gesprächsthema. Die Krankenschwestern, die Pfleger und die Ärzte in der Unfallchirurgie redeten über nichts anderes und nannten sie nur „Eisnacht“ und Patienten wie mich „Eispatienten“. Später erfuhr ich, dass sie es als kälteste Nacht seit Beginn der regionalen Wetteraufzeichnungen sogar auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft hatte. Wobei weniger der Kälterekord für Aufregung sorgte, sondern die fast ebenso rekordverdächtige Zahl von Verkehrsunfällen und Verletzten. Die Stadtregierung wurde mit Vorwürfen überhäuft, Bürgerinnen und Bürger, die genau Buch geführt hatten, wann und wo die Streufahrzeuge und Streutrupps des Magistrats im Einsatz waren, empörten sich darüber, dass ausgerechnet ihr Stadtteil, ihr Straßenzug, ihr Gehsteig viel zu spät oder sogar überhaupt nicht an die Reihe gekommen waren, Unfallopfer und Versicherungen drohten mit Schadensersatzklagen, dem zuständigen Stadtrat und dem Bürgermeister wurde völlige Unfähigkeit attestiert, und alles mündete schließlich in eine heftige politische Diskussion über die offenbar katastrophalen Zustände, die sich hinter der schönen Fassade unserer Stadt verbergen würden.

Mag ja sein, dass wir einem Haufen Unfähiger ausgeliefert sind. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht, aber im Grunde glaube ich es nicht. Und Leute, die so tun, als hätten sie den großen Durchblick, kann ich einfach nicht ernst nehmen. Leute, die hinter allem und jedem eine Verschwörung von Idioten oder finsteren Mächten wittern. Leute, die davon überzeugt sind, dass die ganze Menschheit nur eines im Sinn hat, nämlich ihnen ganz persönlich Schaden zuzufügen. Leute wie meinen Bruder.

Ich will ja nicht schlecht über ihn reden, aber Thomas gehört zu den Menschen, die meinen, die Welt sei nichts als böse und habe es nur auf sie abgesehen. Von dieser Opferrolle konnte ich ihn nie abbringen. Im Gegenteil, wenn ich ihn davon zu überzeugen versuchte, dass er nicht nur von Ignoranten, miesen Schweinen und kompletten Arschlöchern umzingelt sei, wie er es auszudrücken pflegte, wurde er nur noch verbissener in seiner wütenden Verzweiflung und warf mir vor, sogar ich würde ihn nicht mehr verstehen und mich gegen ihn wenden. „Mein Bruder, mein Feind“, sagte er dann jedes Mal. „Mein Bruder, der mich hasst.“ Doch ich hasste ihn nicht. Er ging mir ganz gewaltig auf die Nerven mit seinem abstrusen Weltbild, aber ich hasste ihn nicht. Und deshalb gab ich zu guter Letzt immer klein bei und spielte mit. Das alte Bruderspiel: Großer Bruder und kleiner Bruder, Verbündete im Kampf gegen den Rest der Welt.

Das funktionierte bestens, solange es nicht um große Sachen ging. Was war dabei, wenn ich Thomas’ Bilder hin und wieder in unserer Galerie ausstellte? Diese riesigen Leinwände, auf denen er mit Acrylfarben seine Frustration abreagiert hatte, Scheußlichkeiten, die er für bedeutende Kunstwerke hielt, für die sich aber kein Mensch interessierte. Und was außer ein paar hundert Euro kostete es mich schon, sein angeschlagenes Selbstbewusstsein immer wieder aufzubauen, indem ich manchmal zwei oder drei seiner Bilder kaufte, im Keller unseres Hauses versteckte und Thomas dann irgendwelche Geschichten über ausländische Kunstsammler erzählte, die überraschend in der Galerie aufgetaucht und von seinen Arbeiten ganz begeistert gewesen seien?

Hätte ich ihm die Wahrheit sagen sollen? Ihm an den Kopf werfen, dass seine Pinselhiebe und Farbspritzer wertloser Mist seien, epigonales Geschmiere, schon tausendmal so oder so ähnlich gesehen und auch nicht besser, wenn er behauptete, es handle sich um transzendentale Seelenräume, kosmische Explosionen oder die Verwandlung von Geist in Materie? Hätte ich ihm erklären sollen, dass die Galeristen, Kritiker und Jurymitglieder, die seine Bilder ignorierten, keineswegs verständnislose Banausen, vertrottelte Beamte oder Drahtzieher einer internationalen Kunstmafia seien? Was hätte es gebracht, ihn mit der Realität zu konfrontieren? Ihn, den Traumtänzer, der mit seinen Hirngespinsten niemandem Schaden zufügen konnte, im Gegensatz zu manch knallhartem Realisten.

Es erstaunte mich immer wieder, wie einfach es war, Thomas aus seinen moralischen Tiefs herauszuholen, ihn zu befreien aus dem Gefängnis seiner finsteren Gedanken. Ich musste ihn nur geschickt täuschen, dann wechselte er mit fliegenden Fahnen von der feindlichen Welt, die ihn betrog, zur freundlichen Welt, die ihn belog. Die Wahrheit empfand er als Angriff, sie erschreckte ihn, also musste ich eben seine Lügen mit meinen Lügen ausstechen, entscheidend war einzig und allein, dass ich im System blieb.

Unglaublich, wie glücklich er jedes Mal war, wenn ich ihn zur Vernissage eines Prominenten einlud und im Laufe des Abends den Gästen als jungen Maler vorstellte, dessen internationaler Durchbruch unmittelbar bevorstehe, als fantastisches Talent und absoluten Geheimtipp. Und wenn sich der Berühmte dann sogar noch freundlich gemeinsam mit dem jungen Kollegen fotografieren ließ, schwamm Thomas regelrecht in einem Meer von Seligkeit und registrierte überhaupt nicht, dass man hinter seinem Rücken über ihn lächelte und ihn für vieles hielt, für ein schräges Original, für einen kompletten Spinner, für das sympathisch überdrehte Galerie-Faktotum, für alles, nur nicht für einen Künstler. Und obwohl er nie lange anhielt, manchmal nur bis zum nächsten Morgen, vergönnte ich ihm diesen Rausch. Denn, verflucht noch einmal, Thomas war mein kleiner Bruder, und das wird er immer bleiben, auch dann, wenn ich vor ihm sterbe.

 

Claudia fand es immer falsch, dass ich mich so für Thomas einsetzte. Sie meinte, er würde bloß meine Gutmütigkeit ausnutzen, weil das für ihn klarerweise viel bequemer sei, als zu lernen, endlich auf eigenen Beinen zu stehen und erwachsen zu werden. Aber vor allem würde er dem Ansehen der Galerie schaden.

Natürlich hatte sie Recht. Natürlich wusste ich, dass Thomas ein Versager war, der sich hinter einer Mauer aus absonderlichen Gedanken verschanzt hatte und im Leben nur mit meiner Hilfe halbwegs zurechtkam. Aber ich wusste, oder besser, ich ahnte eben auch, warum er so geworden war. Doch jeder Erklärungsversuch prallte an Claudia ab. Ich versuchte es immer und immer wieder. Keine Chance. Für Claudia blieb Thomas nichts als ein kleiner Schmarotzer. Und vor allem ein Freak, ein verrückter Freak.

Claudia konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es ist, ein Dreizehnjähriger zu sein. Ein durchschnittlich intelligenter, durchschnittlich verwöhnter, durchschnittlich glücklicher Dreizehnjähriger, dessen einzige Auffälligkeit bisher darin bestand, dass er mit elf Jahren auf einmal zu wachsen aufgehört hatte. Ein eins fünfundvierzig großer Dreizehnjähriger, bei dem man annahm, seine Wachstumshormone würden im Laufe der Jahre ganz von selbst wieder aktiv werden und ihn dann in einem plötzlichen Schub emporschießen lassen. Ein Dreizehnjähriger, dem es zunächst nichts auszumachen schien, dass er im Vergleich zu seinen Altersgenossen ein Zwerg war. Ein Dreizehnjähriger, dessen durchschnittliches Leben in einer durchschnittlichen Familie sich dann aber von einer Sekunde auf die andere in nichts auflöste.

Ich war dabei, als es passierte. Nicht, dass ich es in diesem Augenblick schon begriffen hätte, dafür war ich selber noch viel zu verstört. Erst eine Stunde zuvor hatten zwei Polizeibeamte an unserer Wohnungstür geläutet und mir mitgeteilt, dass unsere Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien. Hatten mir etwas über ein riskantes Überholmanöver unseres Vaters erzählt, über einen Sattelschlepper, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, über einen Frontalzusammenstoß und über ein völlig ausgebranntes Wrack.

Und weil ich mich zunächst geweigert hatte, diese Nachricht zu glauben – denn wie konnte man mit solcher Sicherheit behaupten, dass es sich bei dem Unfallauto tatsächlich um den BMW unseres Vaters und bei den beiden fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten um unsere Eltern handelte –, waren die Beamten noch mit mir im Wohnzimmer gesessen und hatten ein paar der Details geschildert, anhand deren die Toten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Margot und Josef Steinfelder identifiziert worden waren, eindeutige Indizien, auch wenn die endgültigen gerichtsmedizinischen Untersuchungsergebnisse noch ausstanden. Und ausgerechnet während dieser schonungslosen Konfrontation mit der ganzen grausamen Wahrheit war Thomas von der Schule nachhause gekommen.

Keiner von uns hatte ihn bemerkt. Er musste eine geraume Zeit hinter der halb geöffneten Tür gestanden sein und hatte unser Gespräch belauscht. Hatte all die schrecklichen Dinge gehört, die nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Und als er dann plötzlich ins Zimmer kam, war es zu spät, um ihm möglichst behutsam zu erklären, was geschehen war.

Ich werde nie den Ausdruck seines Gesichtes vergessen. Wie soll ich es beschreiben? Etwas unglaublich Erschrockenes, Verletztes, zutiefst Empörtes lag in seinen Zügen, als hätte ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Er stand stumm in der Tür. Er sah mich an. Er sah die Polizisten an. Er sah wieder mich an. Wir blickten ihn an. Wir schwiegen. Vier, fünf Sekunden, vielleicht zehn. Unendlich lange Sekunden, erfüllt von Atemlosigkeit, Anspannung und Entsetzen, als würden wir auf Tretminen stehen. Und dann nickte Thomas nur, sagte kein Wort, drehte sich um und verschwand in sein Zimmer.

Den Polizisten stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als ich ihnen versprach, ich würde selber mit meinem Bruder reden und alles tun, um seinen Schock zu mildern. Aber versuchen Sie einmal, mit jemandem zu sprechen, der sich in seinem Zimmer eingesperrt und die Stereoanlage auf volle Lautstärke aufgedreht hat. Dröhnende Bässe, den ganzen Nachmittag nichts als hämmernde, dröhnende Bässe. Ich ließ ihn gewähren, denn, um ehrlich zu sein, der Sound war genau richtig, um auch in meinem Kopf das Chaos zu betäuben. Bloß gegen meine Verzweiflung konnte er nichts ausrichten und gegen den Schmerz, der von Minute zu Minute stärker wurde und mir die Tränen in die Augen trieb, bis ich schließlich nur noch hilflos auf dem Sofa lag und Rotz und Wasser heulte.

Von mir aus hätte das Hämmern der Bässe ewig so weitergehen können. Nur nicht denken müssen, nur nicht realisieren müssen, dass ich unsere Eltern nie wieder sehen würde, dass sie einfach verschwunden waren. Aber irgendwann schaltete Thomas die Anlage ab und dann stand er auf einmal vor mir, blass und verschwitzt, und flüsterte in einem fort drei Sätze, als hätte er sie auswendig gelernt:

„Versprich mir, dass ich nicht in ein Heim muss. Versprich mir, dass wir zusammenbleiben. Versprich mir, dass du mich nicht auch noch verlässt.“

Immer wieder nur diese drei Sätze. Wie eine Zauberformel. Wie eine Beschwörung.

„Klar“, sagte ich. „Versprochen. Verlass dich drauf. Großes Indianerehrenwort.“

Mehr als dieser dumme Spruch fiel mir nicht ein in meinem Zustand. Auch später nicht, in den folgenden Tagen und Wochen. Noch nie hatte ich mich so abgrundtief elend gefühlt, noch nie so ausgehöhlt, noch nie so unfähig, auch nur einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen. Und deshalb war ich in Wirklichkeit auch gar nicht in der Lage, mich um Thomas zu kümmern. Ich war wie betäubt, erstarrt unter einer Kruste aus Fassungslosigkeit, Trauer und Wut.

Auf die anderen Menschen machte ich aber offenbar den Eindruck, alles im Griff zu haben. Niemand schien zu bemerken, dass ich in Wahrheit wie ferngesteuert agierte. Ich hätte auch überhaupt keine Chance gehabt, zur Besinnung zu kommen. Auf einmal waren unglaublich viele Leute da, die auf mich einredeten und sich um alles kümmerten, was getan und geregelt werden musste. Ständig tauchten Verwandte und Freunde unserer Eltern auf, um die Dinge in die Hand zu nehmen, wie sie erklärten. Dauernd kamen Vertreter irgendwelcher Behörden und Gerichte, die plötzlich für unsere Zukunft zuständig waren, besonders für die meines Bruders.

Mich hat das alles nicht interessiert. Das ganze Mitleidsgefasel, der Begräbniszirkus, die Erbschaftsscheiße und all die Wichtigtuer mit ihren amtlichen Dokumenten, die sie mir unter die Nase hielten. Ich habe einfach zu allem ja gesagt, habe alles unterschrieben, egal, was es war. Alles unwichtig. Meine Eltern hat es nicht wieder lebendig gemacht. Und auch nicht die Bilder vertrieben, die in meinem Kopf entstanden waren und sich dort festgekrallt hatten. Den Feuerball und die beiden zusammengekrümmten, verkohlten Toten, die mich bis in den Schlaf verfolgten, eine fiebrige Bewusstlosigkeit, in die ich zwischendurch immer wieder fiel, erschöpft von Weinkrämpfen und lähmender Trauer.

Und eines Morgens wachte ich auf und alles war vorbei. Etwas in mir hatte den Tod meiner Eltern akzeptiert, hatte von ihnen Abschied genommen, hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Es war, als hätte ich in diesen Wochen mein ganzes Reservoir an Trauer restlos ausgeschöpft. Jedenfalls habe ich seither nie wieder geweint. Um nichts und niemanden.

(Ich denke, meine Frau Doktor Freud hat dafür vermutlich eine ganz andere, komplizierte, hochwissenschaftliche Erklärung. Aber die kann sie sich sonst wohin stecken.)

Schön langsam begann ich mich mit der Situation anzufreunden, in der ich mich nun befand. Ich muss sagen, sie war gar nicht so schlecht. Unsere Eltern waren mit ihrer Unternehmens- und Wirtschaftsberatungskanzlei äußerst erfolgreich gewesen, hatten einen Haufen Geld verdient und Thomas und mir ein kleines Vermögen hinterlassen. Dazu zwei hohe Lebensversicherungen, Vaters geliebtes VW-Cabrio und außerdem die riesige Eigentumswohnung in bester Lage am Stadtrand. Selbst nach Abzug der Erbschaftssteuer mussten wir uns für viele Jahre nicht die geringsten finanziellen Sorgen machen. Deshalb war mir auch vom Gericht ohne Bedenken die Obsorge für meinen Bruder übertragen worden, so dass ich ohne mein Zutun das Versprechen halten konnte, das ich ihm im Zustand völliger Verwirrung gegeben hatte: Wir blieben zusammen und konnten weiter in unserer Wohnung leben. Thomas würde weiterhin zur Schule gehen. Und ich würde mein Jusstudium fortsetzen, und zwar ganz bequem und ohne den Leistungsdruck, unter den mich mein Vater bisher gesetzt hatte. Alles bestens, dachte ich.

Wie hätte ich wissen können, dass Thomas zu diesem Zeitpunkt längst begonnen hatte, in seine persönliche Hölle abzudriften?

Ich hatte ja auch kein Problem damit, wie er sich verhielt. Dass er sich geweigert hatte, zum Begräbnis mitzukommen. Dass er oft stundenlang in seinem Zimmer saß und nur stumm vor sich hinstarrte, bis er plötzlich aufsprang, durch die Wohnung rannte und wütend gegen Türen und Möbel trat, als hätten sie ihm etwas getan. Selbst als ich entdeckte, dass er aus unseren Fotoalben alle Bilder, die ihn zusammen mit unseren Eltern zeigten, herausgerissen und in kleine Stücke zerfetzt hatte, selbst da machte ich mir keine großen Gedanken. Ich hielt das einfach für seine verzweifelte und unbeholfene Art, mit dem Tod von Vater und Mutter fertig zu werden.

Ein paar seiner Aktionen waren natürlich schon extrem. Einmal hatte er sämtliche Kleidungsstücke unserer Eltern auf der Terrasse auf einen Haufen geworfen, und ich konnte ihn nur davon abhalten, sie anzuzünden, indem ich ihm versprach, ich würde sie demnächst von der Altkleidersammlung abholen lassen. Ein anderes Mal ertappte ich ihn dabei, wie er mit einem Küchenmesser auf einen Hinterreifen von Vaters Cabrio einstach. Und er hört erst damit auf, als ich erklärte, dass das jetzt nicht mehr Vaters, sondern mein Auto sei.

Aber was hätte ich tun sollen? Ihm Vorwürfe machen? Im Grunde tat mir Thomas nur leid. Und ich meinte sogar zu verstehen, dass er auf seinen Verlust wohl nicht anders reagieren konnte als mit Aggression. Irgendwann würde er sich schon wieder beruhigen, dachte ich. Ein Dreizehnjähriger braucht eben mehr Zeit, um damit klarzukommen, was geschehen ist. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte.

Heute weiß ich, es hatte einen Moment gegeben, in dem ich durchaus hätte erkennen können, was in Thomas wirklich vorging. Einen Augenblick, in dem ich anders reagieren hätte müssen als mit meinem verständnisvollen Lächeln, hinter dem ich mich damals aus Unfähigkeit und Bequemlichkeit verschanzt hatte. Meinem blöden, brüderlich solidarischen Grinsen, das Thomas immer nur als Zeichen meiner Zustimmung interpretiert hatte.

Wir saßen im Auto. Ich brachte Thomas zur Schule und wir waren spät dran. Verkehrsstau, ständig rote Ampeln. Ich war genervt und hatte einfach keinen Kopf dafür, was Thomas vor sich hinmurmelte. Irgendwas über einen Lehrer, der ihn hassen und deshalb immer viel zu streng prüfen würde. Die übliche faule Schülerausrede, die ich schon aus meiner eigenen Schulzeit kannte. Doch im gleichen Atemzug fügte er dann hinzu, dass er sich ohnehin schon längst daran gewöhnt hätte, gehasst zu werden.

„Ma und Pa haben mich auch gehasst“, sagte er.

„Du spinnst“, sagte ich.

„Ich war nur eine Belastung für sie“, fuhr er fort. „ Eine außergewöhnliche Belastung, weil ich nicht so bin, wie sie es sich gewünscht haben.“

Ein Radfahrer zwängte sich vor mein Auto.

„Verzieh dich, du Arschloch!“

„Ich weiß genau, dass sie mich so genannt haben.“

„Jetzt fahr endlich, Idiot!“

„Unsere kleine außergewöhnliche Belastung. Unser Minuswachstum. Und dann haben sie gelacht.“

 

„Soll ich dich über die Kreuzung tragen, oder was?“

„Ich war für sie einfach eine Enttäuschung. Und deshalb haben sie mich gehasst.“

„Du spinnst wirklich“, wiederholte ich. „Unsere Eltern haben dich geliebt!“

„Und warum sind sie dann abgehauen?“

„Abgehauen?“

„Ja, abgehauen.“

„Sie sind nicht abgehauen, Tommi. Sie sind tot. Es war ein Unfall. Ein ganz, ganz schrecklicher Unfall.“

Thomas schüttelte den Kopf.

„Abgehauen, einfach abgehauen sind sie. Damit sie mich los sind. Weil sie mich gehasst haben.“

„In Ordnung. Wenn du ohnehin alles besser weißt.“

Ich musste scharf bremsen, ein Taxi hatte mir die Vorfahrt genommen.

„Sind denn heute nur Volltrottel unterwegs?“

Thomas öffnete die Tür und stieg aus.

„Ich glaub, zu Fuß bin ich schneller. Also dann.“

Ich winkte ihm zu und lächelte wie üblich.

„Alles klar, Tommi. Und lass dich nicht unterkriegen von den bösen Menschen. Am besten, du hasst sie auch!“

Das sollte ein Scherz sein. So, wie es natürlich auch immer nur ein Scherz gewesen war, wenn unsere Eltern den Nachzügler, das Kind, das sie noch im reiferen Alter völlig unerwartet bekommen hatten, überglücklich mit Bezeichnungen aus ihrem Finanzberatungsfachchinesisch bedachten. Als überraschenden Bilanzgewinn oder kleine Extradividende. Und in letzter Zeit eben manchmal auch besorgt als außergewöhnliche Belastung oder Minuswachstum. Wie hätten sie auch nur ahnen können, was sie damit in Thomas auslösten, der diese Worte nicht so verstand, wie sie gemeint waren, nämlich einfach als Kosenamen, vielleicht unüblich und unpassend, doch deshalb nicht weniger liebevoll und zärtlich.

Aber Thomas redete nie mehr über dieses Thema, und so sah auch ich keine Veranlassung, es jemals wieder zur Sprache zu bringen.

Um ehrlich zu sein, ich tat auch sonst kaum etwas von dem, was man von mir in meiner neuen Rolle als Elternersatz vermutlich erwartet hatte. Einfach ausgedrückt, beschränkte ich meine Sorgepflicht darauf, dafür zu sorgen, dass immer genügend Fertigpizza und Cola im Kühlschrank war. Und dass Thomas morgens rechtzeitig aufstand und zur Schule ging. Alles andere regelte ich mit großzügig bemessenem Taschengeld. Das war’s. Und das schien auch prima zu passen.

Wer wollte mir daraus einen Strick drehen? Bitte, ich war damals gerade einmal dreiundzwanzig! Da interessierte mich das Seelenleben eines kleinen Spinners herzlich wenig. Solange er mir damit nicht auf die Nerven ging, sollte er doch denken, was er wollte.

Thomas machte auch keinen Ärger mehr. Gut, in der Schule gab es einmal ein Problem, weil er sich geweigert hatte, in einem Aufsatz den Beruf seiner Eltern zu beschreiben und stattdessen nur ein leeres Blatt abgegeben hatte, auf dem ein einziger Satz stand: Ich hasse meine Eltern. Da wurde ich zum Direktor gebeten, aber nachdem ich erklärt hatte, dass Tomas einfach den Tod unserer Eltern noch nicht verarbeitet habe, war die Geschichte erledigt. Man versprach sogar, Thomas besonders viel Verständnis und Nachsicht entgegenzubringen. So lief dann lange Zeit auch wirklich alles ganz passabel.

Und dann kam Roswitha. Ungefähr ein Jahr später. Die schöne, wunderbare, eigenwillige, vielleicht ein bisschen verrückte Roswitha. Und mit ihr kam eine Zeit, in der es sogar ganz phantastisch lief.

Ich hatte Roswitha auf einem Studentenfest kennengelernt. Sie war Südtirolerin, studierte im vierten Semester Kunstgeschichte, und ich verliebte mich sofort in ihr hinreißendes Lachen. Roswitha war das faszinierendste weibliche Wesen, das mir bis dahin in meinem Leben begegnet war. Spontan, herzlich, gescheit, impulsiv. Einfach irgendwie anders. Und nicht nur wegen ihrer dunklen, feurigen Augen und ihrer unglaublich roten, unglaublich langen, unglaublich gelockten Haarpracht eine Frau, die man nur als Superweib bezeichnen konnte. Ein echter Glücksfall, dass auch sie sich sofort in mich verliebt hatte, wie sie mir schon nach ein paar Tagen gestand.

Wir waren noch keine vier Wochen zusammen, da machte ich ihr schon den Vorschlag, zusammenzuziehen. Ohne lang zu überlegen, sagte sie ja, zog aus ihrem überteuerten WG-Zimmer aus und mit Sack und Pack in meine Wohnung ein. Fairerweise hatte ich sie mit ein paar Andeutungen vor meinem Bruder und seinen möglichen Macken gewarnt, aber das hatte sie nur mit einem Schulterzucken abgetan: „Wer einmal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, hält alles aus.“

Meine Sorge war unbegründet. Thomas war von Roswitha begeistert. Vor allem, weil sie mich schon nach wenigen Tagen dazu überredete, die Wohnung komplett neu einzurichten. Mir hatten die pseudobarocken Möbel und die grüngoldenen Biedermeierblümchentapeten ohnehin nie gefallen, und so schmissen wir den ganzen Krempel kurzerhand raus, ließen sämtliche Wände weiß streichen und füllten dann einen Raum nach dem anderen mit den Objekten, die zu der Zeit als modernes Wohndesign galten. Eine Orgie aus gebogenem Stahlrohr, naturweißem Leinen, hellem Leder und rauchfarbenem Acrylglas. Ich konnte es mir ja leisten. Und Thomas fand es ganz einfach „unheimlich cool“ und strahlte übers ganze Gesicht. Ich bezweifle allerdings, dass es ihm wirklich gefallen hat. Er war wohl eher nur glücklich darüber, dass nun in der ganzen Wohnung wirklich überhaupt nichts mehr an unsere Eltern erinnerte.

Als Roswitha dann auch noch mit dem Vorschlag kam, die Wände doch ein bisschen bunter, kreativer, origineller zu gestalten, und gleich mit einem Dutzend Farbspraydosen anrückte, war Thomas völlig aus dem Häuschen. Ich war anfangs zwar etwas skeptisch, aber weil ich in meiner Verliebtheit letzten Endes alles großartig fand, was Roswitha tat, sah ich grinsend zu, wie sie und mein Bruder sich an den Wänden austobten und sie mit knallbunten Graffitis überzogen. Zuerst etwas ungeschickt, doch bald immer perfekter, wobei vor allem Roswitha ganz erstaunliche Kompositionen aus Farben und Formen zustande brachte.

Mein Talent hielt sich eher in Grenzen, wie ich nach ein paar kümmerlichen Versuchen feststellen musste. Und Thomas war meiner Meinung nach völlig unbegabt. Aber er war mit Feuereifer bei der Sache und fabrizierte wie in Trance einen hässlichen Farbfleck und einen wirren Krakel nach dem anderen. Also tat ich so, als würden mir seine Klecksereien gefallen, und Roswitha nannte ihn sogar „unser kleiner Henri Toulouse-Lautrec“ und erzählte Thomas von dem Franzosen, der trotz seiner Kleinwüchsigkeit eines der größten Malergenies gewesen war. (Ich bin übrigens davon überzeugt, das waren die Wurzeln von Thomas’ späterem Hirngespinst, ein großer Künstler zu sein.)

Doch nicht nur Thomas und Roswitha waren offensichtlich unheimlich happy, vor allem ich hatte das Gefühl, vor Glück fast platzen zu müssen. Mag sein, dass ich es mir nur einbildete, weil ich dachte, nach der ganzen Scheiße, die hinter mir lag, hätte ich eine Glückssträhne wirklich verdient. Oder dass ich bloß ausgehungert war nach Liebe, Unbeschwertheit und hemmungslosem Sex und deshalb nichts anderes im Sinn hatte, als all das mit Roswitha zu genießen, ungezügelt und blind vor Gier. Gut, vielleicht war ich ein Narr. Aber dann war ich ein glücklicher Narr.

Es war ja auch der reine Wahnsinn. Die Graffitis wucherten über die Wände, in der Wohnung hing ständig der Geruch von Farbspray, auf dem Küchenboden türmten sich die Schachteln vom Pizza-Express und vom Chinesen neben Coladosen und Rotweinflaschen, überall hingen oder lagen irgendwelche Kleidungsstücke herum, Roswithas Kunstgeschichtebücher und Skripten stapelten sich rund um unser Bett, und mitten in diesem laut Roswitha „herrlichen süditalienischen Chaos“ lebten wir auf Teufel komm raus. Das heißt, wir vögelten uns die Seele aus dem Leib, wann immer es ging.