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Maschiach und die Tiere

Juni 1998

Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit, als sich Theodor auf den Rücken drehte und starb. Seine Barthaare zitterten, aber seine Augen sahen ihn leblos an. Sein Tod war zu schnell gekommen.

Er legte den Kopf zur Seite und betrachtete den kleinen Nager. Was war er doch für ein Narr! Entrüstet über sich selbst schüttelte er den Kopf. Er hätte dieses rasche Ende ihrer gemeinsamen Reise vorhersehen müssen. Er hatte Theodor mit einem schwarzen Klebeband an die Tischplatte gefesselt. Sein ängstliches Piepsen war schnell in Panik umgeschlagen, als er die Flamme des Feuerzeugs gesehen hatte. Alles hätte perfekt sein können.

Es war alles da gewesen: die Anspannung, das Herzrasen, das Flirren in seinem Kopf und das Rauschen des Blutes in seinen Adern. Die Angst der Maus zauberte all das herbei. Doch dann war sie einfach gestorben. Theodors winziges Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Er hatte Wut erwartet, empfand aber nur Neugier. Wie gut, dass er vorgesorgt hatte. Zweimal hatte er die Lebendfalle aufgestellt und zweimal darin eine Maus gefangen. Theodor und Oskar. Die Namen zweier seiner Lehrer. Nicht dass er die Lehrer nicht mochte, ganz im Gegenteil. Aber er mochte ja auch die Mäuse.

Jetzt war Theodor tot. Und Oskar wartete darauf, ihn über die Grenze zu begleiten, hinüber vom Mittelmaß des Diesseits in das Mysterium auf der anderen Seite. Ein Schritt, der mit Schmerzen und Qualen verbunden sein musste, sollte der Tod auch die Erlösung bringen. Die Erlösung von allen Sorgen und Qualen, allen Schmerzen und aller Schuld. Falls ein Tier dergleichen fühlte, würde er Oskar diese Ehre erweisen. Vorsichtig packte er die Maus, die sich völlig regungslos verhielt. Er betrachtete die spitze Schnauze, die huschenden Augen. Sollte er es noch einmal versuchen? Er entschied sich gegen das Feuer. Für Oskar hatte er einen anderen Weg vorgesehen. Warum den Plan ändern? Er hielt ihn in der einen Hand, während er mit der anderen den Blecheimer auf den Tisch stellte. Der Eimer war fast bis zum Rand gefüllt und schwer, doch an Kraft hatte es ihm noch nie gefehlt.

Er wartete einige Sekunden, bis sich die kräuselnde Oberfläche des Wassers in einen Spiegel verwandelte. Dann warf er Oskar hinein.

Mit fast wissenschaftlichem Interesse verfolgte er den kleinen Nager, der erst den Eimer durchquerte und dann begann, entlang der Außenwand seines Gefängnisses im Kreis zu schwimmen. Die kurzen Beine traten das Wasser, die Schnauze ragte nach oben.

Minutenlang ging es so. Minuten, in denen er nichts fühlte. Die Maus drehte ihre Runden in der Hoffnung, irgendwann rettendes Ufer zu erreichen.

Die Angelegenheit begann langweilig zu werden. Sollte dies ein missglückter Nachmittag werden? Erst der Herztod des ersten Auserwählten und jetzt weigerte sich der zweite, die Erlösung anzunehmen. Und ihm die Freude zu bereiten, die ihm zustand.

Dabei hatte er diese Stunde seit Wochen herbeigesehnt. Die Vorfreude auf die Mäuse hatte ihn bereits am Vormittag seiner Aufmerksamkeit beraubt und seine Gedanken vom Unterricht in der Schule in den Keller des Hauses der alten Frau gelenkt.

Nicht weiter schlimm, dachte er. Seinen schulischen Leistungen konnten ein paar Stunden geistiger Abwesenheit nicht schaden. Nicht umsonst galt er als Musterschüler. Seine Lehrer und all die anderen im Dorf hätten sicher anders über ihn geurteilt, hätten sie geahnt, was sich im Keller der alten Frau zutrug, um die sich der nette Junge mit dem blassen Gesicht so fürsorglich kümmerte. Heute waren es Theodor und Oskar, die auf ihn gewartet hatten.

Sein Blick verfolgte regungslos die Maus. Vielleicht sollte er ein wenig nachhelfen? In dem Augenblick, da er sich dazu entschloss, tauchte sie zum ersten Mal unter. Sofort zog er seine Hand zurück. Und genauso schnell brandete die Erregung heran. Als es Oskar schaffte, an die Oberfläche zurückzugelangen, wusste er, dass es doch noch ein guter Tag werden würde. Mit erst gleichbleibenden, dann langsamer werdenden Bewegungen setzte der Nager seine endlose Suche nach Rettung fort. Er spürte, wie sein Herzschlag schneller ging. Seine Hände wurden feucht, er begann zu schwitzen. Als Oskar erneut unter der Wasseroberfläche verschwand, waren alle Empfindungen von vorhin wieder da.

Endlich, dachte er. Zitternd sah er die Maus wieder nach oben kommen. Nach Luft japsend begann sie ein letztes Mal ihre Runden zu drehen. Dann ging es schnell. Untertauchen, hochkommen, untertauchen, hochkommen, untertauchen.

Die Welle der Erregung überrollte ihn.

Er schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zärtlich fischte er Oskar aus dem Eimer. Der kleine Nager hatte sich der Erlösung als würdig erwiesen. Er nahm Theodor und Oskar und trug sie nach nebenan. Der Lehmboden dort ließ vermuten, dass die Bewohner des Hauses hier in früheren Zeiten ihre Kartoffeln aufbewahrt hatten. Jetzt diente der niedrige, kalte Raum als letzte Ruhestätte seiner Partner. Heute fand die Beerdigung von Theodor und Oskar statt. Er hatte das flache Loch bereits vorbereitet. Vorsichtig legte er die beiden Mäuse hinein. Als er den lockeren Boden mit der Schaufel, die er im Schuppen hinter dem Haus gefunden hatte, glattschlug, deutete nichts mehr auf die beiden kleinen Tiere hin.

Nachdenklich betrachtete er sein Werk. Bald würde er größere Löcher graben müssen. Er dachte an die streunende Katze, die seit einigen Tagen das Leben der Vögel im Dorf erschwerte. Der nachtschwarze Kater schien niemandem zu gehören. Niemand würde ihn vermissen. Und hieß es nicht, Katzen hätten neun Leben? Er würde einen ganzen Tag für sie einplanen müssen. Vielleicht einen Samstag? Oder auch einen Sonntag? Man würde schon sehen.

Und dann gab es da noch diesen Brunnen, den er hinter dem Berg aus Gerümpel gefunden hatte. Die alte Frau war seit Jahren nicht mehr hier heruntergekommen. Wie auch, konnte sie ihre Beine doch kaum mehr bewegen. Über die Zeit hatte sie wohl die Erinnerungen an frühere Jahre vergessen, die in dem kleinen Raum am Ende des Kellers lagerten. Sie wusste nichts mehr von dem Kinderwagen, dem Koffer, einigen kitschigen Landschaftsbildern in ebenso kitschigen Rahmen, Säcken voll Wäsche, die modern gewesen war, als der Junge noch nicht gelebt hatte. Unter all dem unnützen Zeug hatte er Nützliches entdeckt. Er hatte sich gleich gefragt, was der Holzdeckel verstecken sollte, der hohl klang, wenn er darauf trat. Das Loch im Boden war breit und so tief, dass er den Grund nicht sehen konnte. Und es war mit Schlamm und Wasser gefüllt. Es hatte geplatscht, als er einen Stein hinuntergeworfen hatte.

Er würde dieses Loch noch benötigen. Später!

Ja, später, wenn die Zeit der Tiere vorbei sein würde und die Zeit der Menschen begann.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann ging er hinauf zu der Frau. Wie schon so oft war sie vor dem Fernseher eingeschlafen. Er holte ihre Lieblingsdecke aus dem Schrank und legte sie ihr vorsichtig über die Beine. Fast zärtlich nahm er ihr die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus. Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen.

Seine Mutter wartete sicher schon auf ihn. Und seine Hausaufgaben auch, die er so gewissenhaft wie jeden Tag erledigen wollte. Schließlich wollte er auch sein drittes Schuljahr als Klassenbester abschließen.

Ich

Der erste Tag nach dem Mord schickt sich an, zu Ende zu gehen. Die meisten der Zahnräder in meinem Kopf stehen noch still oder drehen sich nur langsam. Nadim Hemedi steht auf einem geschrieben. Auf den anderen GME und Grigore Lazar, Schmuggel und Kindesmissbrauch. Recht wenig angesichts der latenten Gefahr weiterer Morde. Wenigstens um eine Erfahrung bin ich heute reicher: Ein Tag ohne Partner kann ein verlorener Tag sein.

Auch jetzt, auf der Fahrt nach Kirchbach, fehlt der Gedankenaustausch mit Melanie Güßbacher, mit Karl oder auch mit Sven Straubmann.

Ich parke meinen alten BMW vor dem Haus Schedlbauer in dem Augenblick, da der Predigtstuhl die letzten Strahlen der Sonne verschluckt. Der Tag geht, doch der Abend zögert die Kälte der Nacht noch hinaus.

Claudia ergreift die Gelegenheit. Für diese Jahreszeit ansonsten ungewöhnlich, hat sie den Tisch im Garten gedeckt. Zusammen mit ihren Eltern genießen wir die Stunde. Leberkäse, Spiegelei und ein Glas Bier sind mein kulinarischer Höhepunkt dieses Tages. Erst jetzt bemerke ich, dass ich heute kaum etwas gegessen habe.

»Rosi Geiger hat angerufen«, informiert mich Claudia zwischen zwei Bissen. »Die Resi kommt heute zu ihr und sie würde sich freuen, wenn wir auch Zeit hätten.«

Es mag etwas ungewöhnlich erscheinen, dass ein Mann Anfang 40 mit zwei älteren Damen der Kategorie Resi und Rosi befreundet ist. Seit meinem ersten Aufenthalt in Kirchbach vor zwei Jahren schätze ich mich jedoch glücklich, die beiden zu kennen. Die Zeit hat es gebracht, dass uns inzwischen nicht nur der Tod Georg Kollers verbindet. Warum nicht die beiden heute treffen? Vielleicht ist ein wenig Abwechslung genau die Schmiere, die das Getriebe in meinem Kopf braucht.

»Gerne! Hast du eine Flasche Wein zum Mitnehmen? Ich komme ungern mit leeren Händen.«

»Ein Brunello wird unseren Keller nicht zieren, aber es wird sich schon was finden. Karl und Jana hab ich auch angerufen. Sie sind dabei.«

»Gut! Ich springe noch schnell unter die Dusche, dann können wir gehen. Servus, Gisela, servus, Ludwig.«

»Servus, Moritz. Schönen Abend noch.« Claudias Eltern haben kein Wort über den spektakulären Mord verloren, obwohl sich sicher bereits alle darüber den Mund zerreißen. Ich rechne den beiden ihre Rücksicht hoch an. Ich habe wirklich kein Verlangen, über Silvian zu sprechen.

 

Ich nicke Claudia noch zu, dann gehe ich. Täusche ich mich, oder hat sie mich die ganze Zeit über beobachtet? Unsinn! Warum sollte sie?

Wir verbinden den Besuch Rosis mit einem kleinen Abendspaziergang hinauf zu ihrer Pension Sonnenschein. Claudias Nähe lässt die Geschehnisse des Tages verblassen. Vergessen auch der Finger, dieser Vorbote einer zupackenden Hand. Er ist wieder verschwunden und hat die Geister der Vergangenheit mitgenommen. Ich kann nur hoffen, dass es so bleibt.

Rosi öffnet uns die Tür, kaum dass ich einmal die Klingel gedrückt habe.

»Moritz! Lange nicht gesehen. Kommt rein, kommt rein. Es wird Zeit, dass ihr endlich mal wieder vorbeischaut. Was habt ihr denn da dabei? Das hätte es doch nicht gebraucht. Aber gut, dann köpfen wir die Flasche eben gleich.« Würden wir Rosi Geiger nicht kennen, der Wortschwall hätte uns wieder aus der Tür geblasen. So aber folgen wir ihr und ihrer Stimme in die gemütliche Stube. Ein wenig vermisse ich den Duft ihres traumhaften Kaffees, aber es ist eben nicht die Zeit dafür.

Auf der Eckbank, im Herrgottswinkel, direkt unter dem Kreuz, sitzt eine fast 80-jährige Frau. Resi Bielmeier ist einer der bemerkenswertesten Menschen, die ich kenne, und ein weiterer Name auf meiner kurzen Freundesliste. Sie unterbricht ihre Unterhaltung mit Karl, der neben ihr sitzt, um uns zuzunicken. Auch er beschränkt seinen Gruß auf dieses Minimum einer Geste. Was woanders als unhöflich gelten mag, ist hier im Bayerischen Wald ein Zeichen respektvoller Ehrerbietung. Jana dagegen steht auf und reicht mir die Hand. Ich halte sie länger, als dies unter Bekannten üblich ist. Karl sieht zur Seite, doch Claudias Blick sticht wie eine Nadel.

Der Moment zieht vorbei. Es folgen Stunden belangloser Geselligkeit, gefüllt mit Informationen über Kirchbachs High Society, Weltpolitik, Sport und Klatsch. Alles serviert von Rosi und Resi, garniert von meiner Lebensgefährtin.

Irgendwann kommt das Gespräch auf Karl und Jana. Es freut mich zu hören, dass es zwischen den beiden gut läuft. Nichts deutet auf Janas Vergangenheit hin. Nichts verrät unser Geheimnis.

Rosi stellt einige Schnapsgläser und eine Flasche Blutwurz auf den Tisch. Will sie mich auf die Probe stellen? Oder gefällt es ihr, mich zu quälen? Unsinn, denke ich, sie weiß ja nichts von meinem beginnenden Rückfall in schlechtere Zeiten. Ich starre einige Sekunden zu lange auf die Märchenmotive auf den Gläsern. Hänsel und Gretel warten direkt vor mir darauf, mit Hochprozentigem gefüllt zu werden.

»Nein danke«, sage ich und halte die Hand über das Glas. Ein kurzer Blick Rosis in meine Augen, dann wandert die Schnapsflasche weiter.

Zu spät! Claudia hat mein Zögern bemerkt.

Ich muss das Gespräch wieder in Gang bringen. Resi hat noch nichts über den Kollerhof gesagt. Also frage ich sie direkt: »Ich habe heute Grigore Lazar aufgesucht. Ich war etwas überrascht, ihn auf dem Kollerhof zu finden.«

Resi nippt am Wein. Ist ihr die Sache peinlich? Braucht sie doch nicht. Der Hof gehörte ihr und sie konnte damit machen, was sie wollte. Ich bin einfach nur neugierig. »Der zweite Hof war einfach zu viel für mich. Ich komme ja mit meinem kleinen Anwesen schon an meine Grenzen. Der Hof vom Alois ist in den letzten beiden Jahren richtig heruntergekommen. Da kam mir das Angebot von Herrn Lazar ehrlich gesagt ganz gelegen.«

»Stimmt«, bestätigt Rosi. »Zum Koller Alois seinem Hof hat doch eine Menge Feld und Wald gehört. Zu viel für eine Frau. Da ist das Geld schon besser als die Arbeit.«

»Schon erstaunlich«, meint Karl, »dass so ein Unternehmer in diesem alten Haus wohnt. Da würde man doch eher ein modernes Gebäude in der Stadt vermuten.«

»Der Herr Lazar ist ein ganz ein netter Mensch«, erklärt Resi. »Er hat gesagt, er lässt das Haus von Grund auf modernisieren. Er kommt ja aus Rumänien. Da haben die auch in der Provinz gewohnt. Auf einem ganz kleinen Hof in einem ganz kleinen Dorf, hat er gesagt. Und deshalb will er wieder auf einem Bauernhof leben.«

»Was wolltest du eigentlich von ihm?« Rosis Ohren sind auf Empfang geschaltet. Und damit sind wir dort, wohin ich eigentlich nicht wollte.

»Er ist der Eigentümer der Firma, deren Geschäftsführer mein Mordopfer war«, versuche ich, so kurz angebunden wie möglich zu bleiben.

»Und sein Onkel.«

Oh Mann!

»Hat mir die Gisela Meier erzählt. Die arbeitet drüben bei der GME.«

Rosi weiß wirklich alles. Ihre Drähte glühen in alle Richtungen. Bevor mir die beiden Damen noch mehr aus der Nase ziehen können, sollte ich mich vom Acker machen. Claudia erkennt mein Dilemma. »Wir müssen jetzt leider gehen. Ich muss morgen früh raus. Muss mal wieder weg. Drei Tage Finnland.«

Nach einigem »Schade« und »Warum schon so früh?« schaffen wir es, die Pension Sonnenschein zu verlassen. Selbstverständlich nicht, ohne zu versprechen, bald wieder vorbeizukommen.

*

Eine halbe Stunde später liegen wir im Bett. Claudias früher Termin beschränkt unsere Zärtlichkeiten auf einen etwas längeren Kuss. Sie macht das Licht aus, doch wir beide finden keinen Schlaf. Eine seltsame Spannung lässt die Luft zwischen uns flimmern. Es ist, als hätten wir beide Angst vor dieser Nacht. Angst vor meinen Träumen. Ich habe mir das nicht nur eingebildet. Claudia hat mich den ganzen Abend beobachtet. Warum sprechen wir nicht darüber? Weil ich es nicht kann. Und sie weiß, dass ich es nicht kann.

Irgendwann verrät ihr ruhiger Atem, dass sie doch eingeschlafen ist.

Ich schließe die Augen und die Finger sind wieder da. Nicht einer, alle fünf. Die Hand schiebt sich aus dem Grabhügel und packt zu, um mich in die Tiefe zu ziehen. Vorsichtig stehe ich auf. Ohne Licht zu machen, gehe ich nach unten. Die Stube ihrer Eltern ziert ein alter, sehr gut erhaltener Bauernschrank. Claudias Vater brachte diese Erinnerung an seine Kindheit aus dem elterlichen Bauernhof mit in sein neues Heim. Vielleicht dachte er schon damals daran, die paar Flaschen Schnaps, die jeder Haushalt auf Vorrat hat, in diesem Meisterstück eines längst vergessenen Schreiners zu deponieren. Einschließlich der Flasche Blutwurz, die noch halb voll ist.

Maschiach

Er kannte den anderen Mann. Nur diesem Umstand war die späte Stunde ihres Treffens zu verdanken. Niemand war um diese Zeit außer ihnen hier. Flackernde Schemen an den Wänden und eine nahezu vollkommene Stille sorgten für einen Hauch von Erhabenheit.

Der Ort ihres Gespräches war ebenso sorgfältig gewählt wie ungewöhnlich. War er es, der dem anderen ermöglichte, tief in die eigene Seele zu tauchen, und es ihm selbst erlaubte, ebenso tief in diese zu blicken? War er es, der die schlimmsten Ängste und Geheimnisse des anderen Mannes offenbarte?

Oder war es die Hoffnung auf Vergebung? Konnte der andere Vergebung erwarten? Hatte er Vergebung verdient, oder musste er sie sich erkämpfen?

Er wusste, es war diese Schuld, die den Mann zerfraß, die einen Funken Verzweiflung in eine Flamme des Hasses verwandelt hatte. Eine Flamme, die nicht erlöschen durfte.

Auch Silvian war schuldig gewesen. Schuldig an unsäglichem Leid.

Auch die anderen waren schuldig. Aber durfte man sich erheben und die Taten dieser Männer bestrafen? Durfte man für Gerechtigkeit sorgen?

Es waren diese Fragen, die den Mann zu dieser nächtlichen Stunde zu ihm getrieben hatten. Fragen, auf die der Mann Antworten erhoffte. So war es gewesen, seit er ihm die Qualen seiner Seele zum ersten Mal anvertraut hatte.

Und so sollte es auch in dieser Nacht sein.

Er sprach mit dem Mann, und seine Worte wischten die Schleier des Zweifels hinfort. Zurück ließen sie die Klarheit der großen Zusammenhänge und kleinen Notwendigkeiten. Tief in ihm pflanzten sie den Keim der Erkenntnis für die Notwendigkeit seiner Taten.

Gerechtigkeit war das Wort, das alles rechtfertigte.

Er musste Gerechtigkeit üben!

Er erinnerte sich an seine alte Heimat. Auch dort hatte er mit Zweifeln und Ängsten gekämpft. Es war die Begegnung mit einem Priester gewesen, die Rettung versprochen hatte.

Als alles gesagt war, saßen sie sich Minuten still gegenüber. Dann sah er, dass der Mann weinte.

»Ja«, stammelte er, »ja, ich werde es tun!«

Zweites Kapitel

- Fleisch -
Mittwoch, 05.10.2016
Ich

Das Summen des Weckers dröhnt in meinem Kopf. Vorsichtig öffne ich die Augen, nur um sie sofort mit der Hand abzudecken. Das Bett neben mir ist leer. Für Claudia war die Nacht noch kürzer als für mich. Hoffentlich hat sie ihren Flug nach Helsinki erreicht. Meine Hand tastet über den Nachttisch und findet einen Zettel.

»Ich liebe dich! Pass auf dich auf!«

Ich wälze mich aus dem Bett. Mein Kopf brummt, mein Mund ist trocken, meine Kehle schmerzt. Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an Tage wie diesen. Ich stütze meinen Kopf auf die Hände und lasse meine Finger durch meine Haare gleiten. Was habe ich getan?

Warum?

Petre

Die Maschine war ein Werk des Teufels. Aber sie erzeugte Strom und damit Geld.

Schon damals, als er noch ein Junge gewesen war, hatte er die Landwirtschaft geliebt. Die Tiere, das Wachsen des Getreides, das er zusammen mit seinem Vater und seinen Geschwistern auf den Feldern rund um Muntele Rece gesät hatte. Die Ernte wurde stets von einem großen Fest begleitet. Er liebte den Tanz, den Wein, das Lachen und die Mädchen. Hier hatte er Tatjana kennengelernt, die Frau, die bis heute an seiner Seite stand.

Wehmütig dachte er an diese Zeit. Hier gab es kein Fest, keinen Gesang und keinen Tanz. Dafür war die Arbeit leichter. Maschinen ersetzten Muskeln. Die Tage endeten nicht mit schmerzenden Gliedern wie auf dem elterlichen Hof.

Er dankte dem Schicksal und seiner Frau. Würde nicht das Blut der Familie Lazar in ihren Adern fließen, er hätte für sein Versagen bezahlt. So aber hatte die Abstammung Tatjanas gereicht, um sein Leben zu retten. Als Ehemann der Cousine der drei Brüder Lazar hatte er eine zweite Chance erhalten und er gedachte, diese zu nutzen.

Und noch einmal stand das Glück an seiner Seite. Grigore hatte ihn nicht in der Firma untergebracht. Zu auffällig sei das, hatte er gesagt. Stattdessen kaufte er ihm diesen Bauernhof weitab von Kirchbach, dessen alternder Besitzer keinen Nachfolger für den Betrieb gefunden hatte. Hier sollte Petre unauffällig seinen Lebenserwerb verdienen. Er hatte die Zeichen der Zeit schnell erkannt. Keine Milch und keine Tiere sollten es sein, welche die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllten. »Biogas« und »Ökostrom« lauteten die Zauberworte.

Die Anlage war seit drei Monaten in Betrieb, und sollte sie weiter so gut laufen, würde er sie in wenigen Jahren erweitern. Petre Dumitrescu war mit sich und seinem Leben im Reinen.

Nur ungern dachte er an die Zeit der großen Geschäfte zurück. Wie viel Geld sie ihm auch gebracht hatten, am Ende hätten sie ihn in den Abgrund gezogen. Auch heute noch, ein Jahr nach dem Schrecken, ein Jahr nach seinem Versagen, glaubte er die Schreie und das Röcheln der Menschen zu hören.

In Wahrheit hatte er sie nie gehört. Er war davongelaufen. Von seiner Tat hatte er erst in den Zeitungen gelesen und in den Nachrichten gehört. Ja, er war entkommen. Nicht nur dem Streifenwagen, der ihm und den beiden anderen diesen Schrecken eingejagt und der sie erst dazu bewogen hatte, den Kühlwagen und seine ehemals lebende Fracht am Rande der Autobahn abzustellen und zu verschwinden. Nein, er war auch Ludovics Rache entkommen. Ohne Frage hätte der jüngere der Lazar-Brüder die drei Versager bestraft. Nur Grigore hatte er es zu verdanken, dass er noch am Leben und bei Gesundheit war. Er würde es ihm durch vollkommene Unauffälligkeit vergelten. Keine Polizei und kein Steuerbeamter sollten auf ihn aufmerksam werden. Er war dabei, seine Vergangenheit zu löschen.

Er war Bauer und Tatjana war bei ihm. Was wollte er mehr? Wenn jetzt bloß noch die verdammte Förderschnecke funktionieren würde. Sie war der einzige Teil der gesamten Anlage, der ihm Probleme bereitete. Dabei hatte die Zufuhr der Biomasse in den Fermenter bisher tadellos gearbeitet. Heute Morgen aber hatte ihm die vollautomatische Überwachung eine Störung in der Schneckenführung mitgeteilt.

Ausgerechnet die Schneckenführung. Eine Teufelsmaschine. Der einzig wirklich gefährliche Teil der gesamten Apparatur. Natürlich könnte er einen Mechaniker der Servicefirma rufen. Das aber bedeutete einige Tage Betriebsausfall, keinen Strom und damit auch kein Geld. Er entschied sich, selbst nach dem Rechten zu sehen. Wahrscheinlich hatten die Spiralen einer der beiden Schnecken einen größeren Gegenstand in die Zuführung gezogen. Einen Stein oder ein Metallteil, das auf unergründlichen Wegen ins Substrat gelangt war. Er hatte schon des Öfteren von solchen Störfällen gehört. Auch von den Unfällen, die immer wieder passierten. Er gedachte nicht, Teil dieser Statistik zu werden. Zwar hatte die Automatik den Antrieb abgeschaltet, aber er ging auf Nummer sicher. Der Hauptschalter der Steuerung befand sich in einem kleinen Gebäude, in welchem der Betrieb der Biogasanlage Dumitrescu überwacht wurde.

 

Petre war ein vorsichtiger Mensch. Er drückte nicht nur den Knopf, der die Fermenterzufuhr abschaltete, sondern öffnete auch noch den Sicherungskasten. Hier unterbrach er die Stromzufuhr, indem er den entsprechend beschrifteten Schalter umlegte.

Auf dem Weg zum Substratkanal winkte er Tatjana. Seine Frau bereitete das Frühstück und lächelte ihm durch das geöffnete Küchenfenster zu.

»Komme gleich!«, rief er in ihrer beider Muttersprache, dann stieg er auf die kurze Leiter hinab zu den messerscharfen Spiralen der Schnecken. Vorsichtig beugte er sich vor, konnte den Grund für die Panne aber nicht erkennen. Er musste besser sehen, also stellte er ein Bein auf eine der beiden Schnecken.

»Na bitte! Da haben wir ja das Problem«, sagte er zu sich. Eine Eisenkralle hatte sich im Durchlass verfangen und verklemmt. Daraufhin hatte der Widerstand die Notabschaltung der Anlage aktiviert.

Seltsam, dachte er. So ein Eisenteil hatte er noch nie gesehen. Da er die Kralle mit der Hand nicht erreichen konnte, drehte er sich um und hielt sich am Schutzgitter über dem Einlass fest. Ein paar Tritte mit dem Fuß sollten reichen. Er würde dann die Anlage wieder hochfahren und die Schnecke den Störenfried in den Fermenter befördern. Er fixierte die Stelle an, dann trat er zu. Einmal, zweimal. Beim dritten Mal spürte er, dass sich das Teil löste.

»Na also«, meinte er zufrieden.

In diesem Augenblick begann der Motor zu surren. Ruckelnd begannen die Schnecken, sich zu drehen. Der Schrecken lähmte ihn für einen Atemzug. Seine Hände packten fester zu. Das Weiß seiner Knöchel trat hervor, als er mit aller Kraft versuchte, seine Beine aus dem Durchlass zu ziehen.

Fast wäre es ihm gelungen, doch als er bereits aufatmen wollte, packte die Schnecke sein linkes Bein. Dann sein rechtes. Langsam, aber unaufhaltsam wurde er hinabgezogen. Als seine Knöchel und Unterschenkel brachen, spürte er noch keinen Schmerz.

In dem Augenblick, da Tatjana in der Küche den Kaffee in die Tassen schüttete, verwandelten sich seine Knie zu Brei. Er wusste, dass er sterben würde.

Tatjana, dachte er noch. Dann, endlich, löste sich ein Schrei von seinen Lippen.

*

Im Haus fiel klirrend die Kaffeekanne zu Boden. Erfüllt von panischer Angst rannte Tatjana Dumitrescu hinüber zur Beschickungsanlage. Petre wollte hier vor dem Frühstück noch eine kleine Störung beheben. Seit jeher begannen sie den Tag gemeinsam. Schon damals in Muntele Rece, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war, als sie Petre kennengelernt hatte und mit ihm zusammengezogen war; dann während ihrer Zeit in Österreich und jetzt hier in ihrer neuen Heimat. Das gemeinsame Frühstück war für sie und ihren Mann zum Ritual geworden.

Tatjana erreichte die Anlage und starrte in die Grube der Zuführung. Mein Gott, die Schnecken drehen sich ja, dachte sie. Sie lehnte sich über das Schutzgeländer, um besser sehen zu können.

Von ihrem Mann fehlte jede Spur.

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