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Nadim Hemedi dreht sich um und sieht mich an. Ein Blick, so voll Schmerz und Trauer, dass ich kurz vergesse, warum ich hier bin.

»Wir sollten hinausgehen.«

Karls Worte erinnern mich wieder daran. Ich nicke, doch Nadim hält uns zurück. »Ich würde gerne noch ein paar Minuten hierbleiben. Zur Sicherheit. Wir können auch hier reden. Samira kann uns nicht hören und auch nicht sehen.«

»Was ist passiert?« Ich muss es einfach wissen.

»Sauerstoffmangel. Hat wichtige Teile ihres Gehirns zerstört. Samira ist taub und blind. Und sie hat diese Anfälle. Krampfattacken der Muskeln. Das zentrale Nervensystem ist geschädigt, sagen die Ärzte. Wenn es passiert, braucht sie mich.«

»Das, was Sie da getan haben? Was …?« Karl ist sichtlich erschüttert. Wie auch nicht?

»Ich weiß nicht. Da sie mich nicht hören kann, habe ich eines Tages versucht, sie über Berührungen zu erreichen. Sie sind das einzige Tor zu ihr.«

»Sie ist Ihre Schwester, oder?«

»Samira, ja.«

Ich muss ihn trotzdem befragen. »Herr Hemedi. Mein Name ist Moritz Buchmann von der Kripo Deggendorf. Und das ist Karl Loibl von der PI Bad Kötzting.«

»Ja! Sie sind sicher wegen Silvians Unfall hier.«

»Sie wissen davon?«

»Nur das, was die Leute in der Firma erzählt haben. Der Rolf hat sogar behauptet, es wäre Mord gewesen. Rolf Bauer ist bei der Feuerwehr und war am Unfallort.«

Sein Deutsch ist wirklich gut, der Akzent schwer einer Sprache zuzuordnen. Karl sieht mich an. Das spricht sich schneller herum, als uns recht sein kann, denke ich.

»Nun, sagen mir mal, es war kein gewöhnlicher Unfall. Um es genau zu sagen, die Bremsleitung des Lkws war defekt. Und das führt uns zu Ihnen. Sie sind doch für die Fahrzeuge der GME verantwortlich?«

»Ja, das stimmt. Ich kümmere mich um diese Dinge, soweit es keine … wie heißt das Wort? … Kompli…?, keine größeren Mängel sind. Dann fahre ich sie in die Werkstatt.«

»Reparieren Sie auch Bremsleitungen? Oder überlassen Sie so etwas einem Profi?«, hakt Karl nach.

»So was mach ich nicht selbst«, sagt Nadim Hemedi. »Alles, was mit Sicherheit zu tun hat, geht in die Werkstatt.«

»Dann wussten Sie nichts von der kaputten Bremsleitung?«

»Ich habe vorgestern den GM-7 gecheckt. Alle Kennzeichen unserer Autos beinhalten diese Buchstaben«, kommt er einer Frage zuvor. »Dabei ist mir die Leitung aufgefallen. Eine der Verbindungen war locker. Ich habe den Wagen deshalb aus dem Betrieb genommen.«

»Aus dem Betrieb genommen?«

»Wenn eines der Fahrzeuge zum TÜV muss oder ich einen Fehler finde, vermerke ich das in der Fahrzeugliste. Außerdem erhält das Auto einen roten Aufkleber. Dann wissen alle, dass dieser Wagen nicht benutzt werden darf.«

»Ihr Chef hat sich nicht an dieses Verbot gehalten. Warum?«

»Dann war es der GM-7? Und Silvian ist mit ihm gefahren? Warum dieser Wagen? Er sollte doch in die Werkstatt. Ich habe dort schon einen Termin vereinbart. Die Firma hat doch genügend andere Kleinlaster.«

Aber vielleicht keinen zweiten mit einem doppelten Boden, denke ich.

»Herr Hemedi, Sie sind jetzt seit etwa sechs Monaten bei der GME. Ich weiß, dass Sie Kaplan Wiesenreiter dort vorgestellt hat. Warum?«

»Meine Schwester und ich sind mit einer größeren Gruppe Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Samira wurde in eine Klinik bei Rosenheim gebracht und mich schickte man von einer Unterkunft in die nächste. Das ging so lange, bis Herr Wiesenreiter den Behörden anbot, mich in den Kirchenräumen von Bad Kötzting unterzubringen. Auch für Samira hat er einen Platz hier in der Klinik besorgt. Herr Kaplan Wiesenreiter ist sehr gene… hm … sehr großzügig. Als ich dann meinen Anerkennungsbescheid erhielt, hat er mich Herrn Lazar vorgestellt. Die beiden kannten sich wohl. Erst wollte man mich bei der GME nur zur Probe. Und wegen des Fußballs wohl auch. Aber dann … Ich kann gut mit Werkzeugen umgehen, müssen Sie wissen.«

»Können Sie mir sagen, wo Sie gestern Abend waren?«

Er kontert die Standardfrage nach dem Alibi, ohne mit der Wimper zu zucken: »Ich war bei Kaplan Wiesenreiter. Am Samstag findet droben in Weißenregen eine Trauung statt. Das Paar möchte eine besondere Dekoration. Wir haben besprochen, wie diese aussehen soll. Ich muss das bis da hinbekommen.«

»Gut! Das wär’s fürs Erste. Halten Sie sich in den nächsten Tagen zur Verfügung. Es ist gut möglich, dass ich noch Fragen an Sie habe.«

Er nickt und öffnet die Tür. Mit einem letzten Blick auf das schlafende Mädchen verlassen wir das Zimmer und die Klinik. Auf dem Weg zum Parkplatz wende ich mich noch einmal an ihn.

»Herr Hemedi!«

»Herr Buchmann?«

»Was hat Ihre Schwester vorhin zu Ihnen gesagt?«

»Sie sagte meinen Namen!«

»Ja, das habe ich auch verstanden. Aber was noch?« Es ist, als hätte ich einen Schalter betätigt. Ich habe das Licht aus- und die Dunkelheit eingeschaltet. Wut, Verzweiflung und Hass springen mir aus Nadims Augen entgegen.

»Sie sagte: Bitte hilf mir!«

*

Der Zeitpunkt für das Mittagessen ist schon lange überschritten. Mein Magen und meine Uhr verraten, dass das Abendessen bald auf dem Plan steht. So lange kann ich jedoch nicht warten. Der Hunger soll mich nicht von der konzentrierten Tätersuche ablenken. Was liegt da näher, als die Fahrt nach Kirchbach auf halber Strecke zu unterbrechen, um dem Kiosk am Stausee einen Besuch abzustatten. Das Angebot dort ist ungleich besser, als es die winzige Küche erwarten lässt. Die heute erstaunlich warme Sonne treibt mich an einen Platz unter einem schattenspendenden Schirm. Eine nette Bedienung bringt die Speisekarte, doch dann die Enttäuschung. Mein Appetit ist weg. Verloren gegangen zwischen dem Gedanken an das brennende Auto Silvians und dem Krankenzimmer Samiras. Na, wenigstens eine Kleinigkeit sollte es doch sein. Also bestelle ich ein Paar Würstchen mit Brot. Während ich warte, streift mein Blick über den See. Die Sonne ringt dem Spätsommertag noch einmal seine schönsten Seiten ab. Das Laub der Bäume an beiden Seiten des Ufers zeigt erste Anzeichen von Gelb und Gold. Ein Versprechen herbstlichen Farbenrausches, der da noch kommen wird.

Am Nebentisch beenden zwei Paare ihr Mahl mit einem Hochprozentigen. Ich rücke aus dem Schatten in die Sonne und genieße diesen kurzen Augenblick. Der Versuch, meinen Kopf zu leeren, wird von Wolfgangs Worten vereitelt: »Du steckst wieder mittendrin!«

Sie verursachen ein kleines, schmales Rinnsal Unbehagen in mir. Der Versuch, es auszutrocknen, scheitert. Die Bilder der letzten Nacht tauchen wieder auf.

Sven und Jochen: blass und hinter Nebelschwaden.

Silvian: klar und deutlich. Verbrannt, verkohlt.

Und heute? Samira und Nadim.

Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in seinen Augen. Aber auch dieses kurze Aufflackern des Hasses. Ich darf ihn nicht aus den Augen verlieren.

Wie geht es weiter? Noch mehr Tote?

Der Gedanke an einen Serienmörder lässt das Rinnsal anschwellen.

Ein Kinderpornoring? Ein Psychopath? Was würde noch alles kommen?

Kann ich es verhindern? Bin ich der Richtige für diese Aufgabe? Oder hinterlasse ich wieder eine Spur des Leids?

Du steckst mittendrin!

Das Rinnsal hat die Größe eines breiten, stetigen Flusses angenommen.

Er weckt ein lange gespürtes Verlangen. Begraben geglaubt unter der Erde von Jahren.

Erneut streckt es seine Hand nach mir aus. Noch ist es nur ein Finger, der bleich aus dem lockeren Boden ragt, den man Willensstärke nennt. Der Zeigefinger! Drohend und warnend.

Warum? Warum jetzt?

Verwirrt sehe ich mich um. Mein Blick bleibt an den leeren Schnapsgläsern auf dem Nebentisch hängen. Ich muss hier weg! Mit zitternden Händen bezahle ich und gehe zum Auto. Als ich endlich hinter dem Steuer sitze, beruhigt sich mein Herz wieder. Ich wische den dünnen Schweißfilm, der sich auf meiner Stirn gebildet hat, ab und atme ein paarmal tief durch.

Auf geht’s, Moritz! Du hast noch viel zu tun. Einige von Nadim Hemedis Aussagen wollen noch überprüft werden. Und Grigore Lazar steht auch noch auf meinem heutigen Terminplan.

*

Als ich zum zweiten Mal an diesem Tag an Jenny Schneiders Tür klopfe, ist der Rückfall in die Vergangenheit vergessen.

»Herr Kommissar Buchmann, Sie noch einmal hier?«

Frau Schneider hat offensichtlich einen schweren Tag hinter sich. Sie wirkt müde und ausgelaugt. Obwohl ich sie davon abhalte, in den verdienten Feierabend zu gehen, bemüht sie sich um professionelle Freundlichkeit.

»Sind Sie schon ein Stück weiter mit Ihren Ermittlungen?«

Ich beantworte ihre Frage mit einem Lächeln. »Bei Ihnen war wohl auch einiges los?«

»Da können Sie darauf wetten!« Sie fährt sich theatralisch mit dem Handrücken über die Stirn. »Das Telefon stand den ganzen Tag nicht still. Alle wollen wissen, was mit dem Chef passiert ist. Bekannte, Freunde und Geschäftspartner. Mehr, als dass Silvian tot ist, konnte ich ihnen natürlich auch nicht sagen.«

Zwischen ihren einzelnen Worten steht unübersehbar die Bitte geschrieben, ich möge sie doch aus diesem Dilemma befreien. Ich denke natürlich nicht daran, den Fortgang der Ermittlungen via Jenny Schneider der ganzen Gemeinde mitzuteilen. »Frau Schneider, ich bin hier, weil ich noch ein paar Informationen von Ihnen brauche.«

»Sofern ich Ihnen helfen kann, gern«, sagt sie. Das ist doch schon mal was zum Weitererzählen, denkt sie.

»Nadim Hemedi sagte, hier in der Firma werde über alle Fahrzeuge und deren Bewegungen genau Buch geführt.«

 

»Ja, das stimmt. Jeder hier muss seine Fahrten sowohl in den Fahrtenbüchern als auch im Firmencomputer eintragen. Mit Zeit, Kilometer und Ziel. Außerdem können die Fahrer hier vermerken, wenn ihnen etwas aufgefallen ist. Mängel und Fehler an den Fahrzeugen. Nadim sieht sich dann die Sache an und repariert sie, sofern er das kann. Ansonsten kommt der Wagen in die Werkstatt.«

»Und wenn etwas Größeres fehlt. Bremsen und so?«

»Bei gravierenden Sicherheitsmängeln vermerkt Nadim das im Fahrtenbuch und bringt einen Aufkleber an der Scheibe des Wagens an. So weiß jeder, dass er gesperrt ist.«

»Hm. Könnte ich mal das Fahrtenbuch des CHA-GM-7 sehen?«

Sie sieht mich fragend an. »Das aus dem Büro, meinen Sie?«

»Natürlich das aus dem Büro. Das im Wagen ist ja verbrannt.«

Kaum merklich schüttelt sie ihren Kopf. Dann drückt sie ein paar Tasten an ihrem Computer. »Hier, bitte! Sehen Sie selbst.« Sie dreht den Bildschirm zu mir.

»Hier, sehen Sie. Nadim hat den GM-7 durchgecheckt. Hier hat er eingetragen, dass eine Verbindung an der Bremsleitung locker ist. Und hier, in dieser Spalte hat er vermerkt, dass er für Donnerstag einen Termin in der Werkstatt vereinbart hat. Um 8.30 Uhr. Den kann man ja jetzt streichen.«

»Und das Hinweisschild am Wagen?«

»Wird auch mit diesem Programm erstellt. Einen Moment bitte.« Wieder drückt sie einige Tasten. »Hier, bitte! Das Dokument ist noch gespeichert. Nadim hat es ausgedruckt.« Ja, ich sehe es selbst. Wagen gesperrt! Gelbe Buchstaben auf rotem Grund. Nicht zu übersehen. Aber klebte der Zettel auch am Unglücksfahrzeug?

»Könnte jemand diese Daten hier ändern? Ich meine, nachträglich?«

»Nur der Systemadministrator. Und das waren der Chef und ich. Seit gestern nur noch ich«, fügt sie leise hinzu.

»Außer Ihnen kennt niemand den Zugangscode?«

»Im Augenblick nicht.«

»Nun gut. Könnten Sie mir diese Seite ausdrucken?«

»Aber gern. Also hat der Nadim Ihnen die Wahrheit gesagt, oder? Er hat doch keinen Fehler gemacht?«

Ihre Besorgnis ist so echt wie ihre Gefühle für den schwarz gelockten Syrer. Diese zu verbergen, gehört nicht zu den hervorstechenden Talenten von Jenny Schneider. Warum sollte ich sie im Ungewissen lassen? »Seine Angaben decken sich mit Ihren und den Eintragungen hier.«

Sie atmet erleichtert auf. »Dachte ich mir doch. Warum auch sollte Nadim etwas mit der Sache zu tun haben? Der Chef war immer mehr als zufrieden mit ihm. Und auch Nadim fühlt sich hier wohl.« Sie denkt kurz nach, dann hat sie einen Einfall: »Warum hat der Chef den GM-7 genommen, wenn dieser nicht verkehrssicher war?«

Weil er genau diesen Wagen brauchte. Weil nur dieser einen doppelten Boden hatte. Weil er ein Schmuggler und Dealer war. All das erzähle ich ihr jedoch nicht.

»Frau Schneider, ich müsste auch noch mit Herrn Grigore Lazar sprechen. Immerhin ist er der Eigentümer der Firma. Sie können ihn doch sicher informieren, dass ich gleich bei ihm vorbeikomme?«

»Herr Lazar?« Sie zögert kurz. »Ich frage mal bei ihm nach.« Sie wählt eine Nummer, die in ihrem Telefon eingespeichert ist. Nach einigen Freizeichen hebt der Angerufene ab. Frau Schneider drückt den Rücken durch und setzt sich aufrecht hin. Ihre ganze Haltung verrät Respekt. In kurzen Worten erläutert sie mein Anliegen. Dann nickt sie erleichtert und legt auf. »Herr Lazar steht Ihnen zur Verfügung.«

*

Die Adresse Grigore Lazars erreicht die richtige Stelle in meinem Kopf erst, als ich sie in mein Navi tippe. In diesem Fall benötige ich diese technische Unterstützung nicht. Mein Ziel liegt keine fünf Minuten vom Firmengelände der GME entfernt. Vielleicht auch deshalb hat sich ihr Eigentümer den Kollerhof als neues Zuhause erkoren. Ich wusste nicht, dass Resi Bielmeier das von Georg Koller geerbte Anwesen verkauft hat.

Zwei Jahre sind vergangen, seit ich den Schotterweg hinauf zu dem einst stattlichen Anwesen fuhr. Auf den ersten Blick ist hier die Zeit stehen geblieben. Lediglich die Reste der abgebrannten Scheune sind verschwunden und einer Garage gewichen. Hinter dem Haus verraten Baumaschinen und entsprechende Fahrzeuge, dass der neue Eigentümer dabei ist, das Bauernhaus und die Nebengebäude zu sanieren.

Ich parke meinen Wagen so, dass er nicht im Wege steht, und gehe über die glatt gewaschenen Pflastersteine zum Haus. Noch bevor ich klingle, öffnet mir der neue Herr des Hauses die Tür.

Ich gebe zu, ich habe mir Grigore Lazar anders vorgestellt. Stattlicher, beeindruckender, irgendwie ehrfurchtgebietender. Es sind jedoch nur das markante Gesicht und die wachen Augen darin, die den kleinen schlanken Mann als Firmenchef und Familienpatron verraten. Na gut, aufrechte Haltung und teure Markenkleidung lassen ebenfalls auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein schließen.

»Herr Buchmann, ich habe Sie schon erwartet.« Seine Stimme ist leise, etwas heiser und doch eindringlich; sein Deutsch fast akzentfrei.

»Guten Tag, Herr Lazar. Kein Wunder, bei den Ereignissen dieses Tages. Sie werden ja sicher schon wissen, worum es geht?«

»Natürlich! Silvians Tod. Oder sollte ich besser sagen, seine Ermordung? Aber bitte, treten Sie doch näher.« Er geleitet mich in die Stube des Bauernhofes. Hier hat sich nichts verändert, seit mir Resi Bielmeier am Ecktisch vor dem Herrgottswinkel die Geschichte von Georg Koller und den Fliegern erzählte. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen und sehe nun doch einige Unterschiede. Ein neuer Kühlschrank, eine Mikrowelle und sonstiges, der Zeit entsprechendes Gerät. Und doch verlangt es einiges an Anstrengung, meine Aufmerksamkeit der Gegenwart zu widmen.

»Wie Sie sehen, sind wir noch dabei, das Haus auf den neuesten Stand zu bringen. Die Elektronik und die Wasserversorgung sind doch mehr als antiquiert. Ich möchte dennoch den Charme des alten Bauernhauses erhalten. Mal sehen, was die Architekten für Vorschläge machen. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Vielen Dank, aber nein. Im Augenblick nicht.«

»Nun gut! Also zu Silvian! Sie werden sicher wissen wollen, ob er Feinde hatte. Ich kann Ihnen hierauf keine abschließende Antwort geben. Soweit ich weiß, hatte er keine.«

Aha, so läuft das Spiel. Grigore Lazar versucht, dem Gespräch seinen Stempel aufzudrücken und es an sich zu reißen. Kein »Herr Kommissar« als Begrüßung. Keine Frage abwarten, sondern diese selbst stellen und die Antwort gleich dazu liefern. Lasse ich mich darauf ein? Soll ich in der Defensive bleiben? Mal sehen, wie sich die Sache entwickelt. Auf jeden Fall heißt es, gegen diesen Mann auf der Hut zu sein.

»Nun, ganz offensichtlich aber doch mindestens einen. Und noch dazu einen sehr verärgerten. Oder warum, denken Sie, sollte jemand Ihren Neffen auf diese Weise töten? Es gehört schon ein gehöriges Maß an Entschlossenheit dazu, jemanden bei lebendigem Leib zu verbrennen. Und ein außergewöhnliches Motiv.«

»Dann stimmt es also, was Verena erzählte. Silvian wurde tatsächlich verbrannt.« Er geht zur Küchenkommode, greift sich eine Flasche Cognac und das passende Glas. Während die goldgelbe Flüssigkeit gluckernd das Glas zu einem Viertel füllt, sieht er mich kurz an. »Auch einen? Ach ja, Sie sind ja im Dienst.«

Meine Augen bleiben kurz an der Flasche hängen, dann bin ich wieder bei der Sache. »Ich würde mich gerne über Ihre Firma unterhalten.«

»Die Green Mountain Electronics?«

»Und ihren Standort. Warum Kirchbach? Es ist ja nicht so, dass Sie schon immer hier gewohnt hätten. Sie stammen aus Rumänien und landeten zuerst in Straubing. Wäre dort nicht ein passenderer Platz für eine international agierende Firma? Schon allein wegen der Anbindung an Schiene, Straße und Wasser?«

Er geht zum Fenster und setzt sich dort in einen Bequemlichkeit versprechenden Stuhl. »Sie müssen wissen, dass meine Brüder und ich in einem kleinen, abgelegenen Dorf in den Karpaten aufgewachsen sind. Vater und Mutter verdienten ihren kargen Lebensunterhalt auf einem ebenso kargen Bauernhof. Es reichte gerade so, um uns über die Runden zu bringen. Aber wir haben uns mit diesem Leben nicht abgefunden. Ghenadie war der Älteste von uns und er war der Erste, der das Dorf verließ. Er ging in die Stadt und machte dort Geschäfte. Er handelte mit allem und mit jedem. Es zeigte sich bald, dass er ein Händchen dafür hatte. Nach zwei Jahren holte er Ludovic und mich nach. Und auch wir stellten uns nicht ganz dumm an, wenn es darum ging, Geld zu verdienen. Unser Vater starb, unsere Mutter lebt nun bei Ludovic in Muntele Rece. Auch Ghenadie starb: Krebs! Er hat die Gründung der GME nicht mehr erlebt. Ludovic kann sich nicht von unserer Heimat trennen. Er leitet unsere Zweigstelle dort. Also blieb es an mir, die Expansion der Firma nach Deutschland voranzutreiben.«

»Warum Deutschland?«, unterbreche ich seine Erzählung.

»Ihr Land ist die Nummer eins der Wirtschaftsmächte in Europa. Außerdem erwies sich nach einiger Zeit von all unseren Unternehmungen die Elektrosparte als am aussichtsreichsten. Sie haben sicher recht, was Straubing betrifft. Als Wirtschaftsstandort nicht schlecht. Aber hier im Landkreis Cham gibt es doch einige Zulieferer der Automobilindustrie und auch andere Firmen, die zu unserem Geschäftsfeld passen. Außerdem motivierte Mitarbeiter und die Nähe zur Grenze ist auch kein Nachteil, wenn man auch auf der anderen Seite davon produziert. Außerdem, und das mag jetzt für Sie etwas nostalgisch klingen, wollte ich aufs Land. Ich kann nun mal meine Wurzeln nicht leugnen. Also habe ich mich umgesehen. Kirchbachs Gewerbegebiet bot sich an. Als dann auch noch der Hof hier zum Verkauf ausgeschrieben wurde, war die Entscheidung gefallen.«

»Warum leiten Sie die Firma nicht selbst? Warum Ihr Neffe als Geschäftsführer?«

»Warum Silvian? Ich gebe zu, er wurde nicht gerade als Führungsperson geboren. Aber er ist … er war Ghenadies Sohn. Es stand für uns außer Frage, ihm eine Chance zu geben. Er hat seine Sache ganz ordentlich gemacht, wenngleich, auch das muss ich gestehen, es sicher bessere Kandidaten für den Posten gab.«

Ich beobachte Grigore Lazar genau. Seine Augen, seine Gesichtszüge, seine Haltung. Nichts deutet auf ein Anzeichen von Unsicherheit hin. Kein Zögern in seinen Erklärungen, kein Zittern der Stimme. Alles, was er sagt, klingt glaubwürdig. Doch muss das nichts beweisen. Ich hatte schon des Öfteren mit Menschen zu tun, die die Darstellung der Lüge als Wahrheit zur Kunst erheben. Ich kann noch nicht einschätzen, ob auch der Rumäne zu dieser Gattung gehört.

Es wird Zeit, ihn aus der Reserve zu locken. »Silvian verunglückte mit einem Wagen Ihrer Firma, der nachweislich als nicht fahrtüchtig gekennzeichnet war. Können Sie sich vorstellen, warum er den Kleinlaster trotzdem benutzt hat?«

»Ich kenne natürlich die Regeln für die Fahrzeugnutzung bei uns. Ich habe heute Morgen mit Frau Schneider telefoniert. Sie sagte mir, Herr Hemedi hätte den GM-7 ordnungsgemäß als gesperrt markiert. Ich überlege schon den ganzen Tag, wie Silvian das übersehen konnte.«

»Sie glauben, er hat die Einträge in den Fahrtenbüchern übersehen?«

»Mein Neffe war in solchen Dingen etwas leichtfertig. Ich würde es ihm zutrauen, ja.«

»Das erklärt zwar den Unfall, aber noch lange nicht, warum der Mörder genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Wer auch immer Ihren Neffen ermordet hat, wusste, dass der Unfall passieren würde.«

»Sie haben sicher recht.« Er steht auf und geht zur Kommode. Dort stellt er das inzwischen leere Glas ab und dreht sich zu mir um. »Und es ist Ihre Aufgabe, herauszufinden, wer es war. Ich hoffe, Sie schaffen das. Silvian war nicht irgendwer. Er war ein Lazar! Ein Mitglied unserer Familie. Ich will wissen, wer ihn getötet hat.« Seine Stimme hat einen gefährlichen, einen fordernden Ton angenommen. Grigore Lazar ist es gewohnt, zu fordern. Und er ist es gewohnt, zu bekommen, was er will.

Ich lehne mich an den Tisch. Feine Staubflocken tanzen im Licht der tief stehenden Sonne, die ihre Strahlen in die Stube wirft. Der Herbst kündigt sein Kommen mehr und mehr an. Ich beobachte sein Gesicht, während ich zum großen Schlag aushole: »Silvian hat einen sehr aufwendigen Lebensstil genossen. Haben Sie ihn dabei finanziell unterstützt?«

»Unterstützt? Er hatte ein gutes Einkommen als Geschäftsführer. Das war wohl Unterstützung genug.«

Ich nicke zufrieden, so, dass er es auch mitbekommt. Die Frage lässt nicht auf sich warten.

 

»Warum wollen Sie das wissen? Hat er Geld gestohlen?«

»Nein, das denke ich nicht. Wobei, es könnte schon sein, dass er seinen Geschäftspartnern etwas schuldig geblieben ist und deshalb von ihnen ermordet wurde.«

Ein leises Zucken fährt über sein Gesicht. »Geschäftspartnern etwas schuldig? Das wüsste ich! Das können Sie gleich vergessen!«

»Nicht Ihren Geschäftspartnern. Seinen. Silvian hatte seine eigene Geschäftsidee.«

Grigore geht wieder zum Stuhl. Seine Arme, eben noch vor dem Körper verschränkt, fallen nach unten. Seine Hände packen die Stuhllehne. »Seine eigene Geschäftsidee? Was meinen Sie damit?«

»Ihr Neffe hat geschmuggelt und gedealt. Mit Ihrem Firmenwagen. Genauer gesagt, mit dem GM-7. Der hat einen doppelten Boden. Deshalb musste es gestern Nacht auch dieser Wagen sein.«

»Sind Sie da ganz sicher? Gedealt? Silvian? Drogen?« Er schwankt im Augenblick zwischen Selbstbeherrschung und Wut. Sein Neffe hat die Firma in Verruf gebracht. Das Lebenswerk der Lazar-Brüder. Noch kann er nicht ahnen wie sehr.

»Nein, keine Drogen. Pornografische Filme.« Sehe ich einen Anflug von Erleichterung bei ihm? Mein nächstes Wort wischt ihn von seinem Gesicht. »Kinderpornografie.«

*

Ich verlasse den Kollerhof wieder. Bin ich mit meinem Fall weitergekommen? Wie soll ich Grigore Lazar einschätzen? Er hatte sichtlich Mühe, seine Fassung zu wahren, und dennoch hat er es geschafft. Selbst, als ich ihm erklärte, dass die Zweigstelle der GME in Domažlice just in diesem Augenblick von Spezialisten der tschechischen Polizei durchsucht wird, beeindruckte ihn das nur kurz. Warf es ihn aus der Bahn? Nein. Vielmehr hatte ich den Eindruck, in seinem Kopf liefen bereits Überlegungen mögliche Maßnahmen betreffend. Noch während er mit mir redete, schmiedete er Pläne zum Schutz seiner Firma und seiner Familie. Für beide würde dieser Mann alles tun.

*

»Sorry, dass ich mich so spät melde.« Wolfgangs Anruf kommt später als vereinbart. Kein Grund, sich zu entschuldigen. In unserem Geschäft sind minutengenaue Termine die Ausnahme.

»Kein Problem. Habt ihr was gefunden?«

Wolfgang atmet tief durch, und ich weiß, was kommt: »Leider nein. Das Firmengebäude der GME liegt am Stadtrand von Domažlice. Ein Gewerbegebiet mit überwiegend neuen Gebäuden. Die GME hat dort eine Halle angemietet, in der sie etwa 20 Leute beschäftigt. Die tschechischen Kollegen haben alles auf den Kopf gestellt. Sie haben wirklich nichts ausgelassen, aber keine DVDs gefunden. Nicht einmal passendes Verpackungsmaterial.«

»Hätte mich ehrlich gesagt auch verwundert. So dumm war Silvian nun auch wieder nicht.«

»Nein, offensichtlich nicht. Was gibt’s bei dir Neues?«

»Ich habe heute einen der Eigentümer der Firma kennengelernt. Grigore Lazar, der Onkel Silvians. Eine, sagen wir mal, sehr dominante Persönlichkeit. Wenn ich die Aussagen von Silvians Frau und seiner Sekretärin zusammennehme, gehe ich davon aus, dass er als Geschäftsführer nur eine Art Strohmann war. Die Fäden im Hintergrund ziehen Grigore und Ludovic, der die Zweigstelle in Rumänien leitet.«

»Aber warum haben sie Silvian eingestellt? Das sind doch nur unnötige Kosten?«

»Familienbande. Hinter der GME stehen die Lazars. Eine rumänische Großfamilie, bei der Blut dicker ist als Wasser. Silvian war der Sohn von Ghenadie Lazar, des ältesten der drei Brüder. Ghenadie starb an Krebs. Sein Sohn bekam den Job als Geschäftsführer, obwohl seine beiden Onkel anscheinend nicht allzu viel von ihm hielten.«

»Du denkst, er war das schwarze Schaf der Familie?«

»So weit würde ich nicht gehen. Wenn doch, dann muss ich noch herausfinden, warum.«

»Könnte er einer Sippenfehde zum Opfer gefallen sein?«

»Ich hatte mehr den Eindruck, er stand unter dem Schutz Grigores. Die Lazar-Brüder haben die GME erst vor Kurzem gegründet. Es war ein Start von null auf hundert. Sven hat recht, wenn er sagt, da muss von Anfang an eine Menge Geld im Spiel gewesen sein. Woher kommt es?«

»Geldwäsche? Über die GME?« Wolfgang atmet tief durch.

»Eine Firma ohne Fehl und Tadel. Absolut sauber. Mit Silvian als Geschäftsführer. Der hat keine Ahnung und ist froh, dass ihm seine Onkel einen Job geben. Dann steigt er ins Schmuggelgeschäft ein. Er wickelt seine Deals über den Fuhrpark der Firma ab und gefährdet so das Saubermann-Image der GME. Seine Onkel wollen ihre kriminelle Vergangenheit hinter sich lassen, wobei wir noch nicht wissen, ob es diese gab und worin sie bestand. Sie kommen Silvian noch vor uns auf die Schliche und beseitigen ihn. Stellst du dir das so vor?«

»Hm, so in etwa. Ich weiß, eine Theorie mit einigen Schwächen.«

»Erheblichen Schwächen. Warum ein so spektakuläres Ende? Es wäre sinnvoller gewesen, den Unfall auch Unfall sein zu lassen. Die Handschellen und das Feuer sorgen doch nur für unnötige Aufregung. Damit holen sie sich die Kripo selbst ins Haus.«

»Ja, ich weiß. So wie es passiert ist, sieht es nach Rache oder Abschreckung aus. Außerdem schien Grigore Lazar ehrlich überrascht, als ich ihm von den Pornoaufnahmen erzählt habe. Das muss nichts heißen, aber er müsste schon ein hervorragender Schauspieler sein, wenn das nicht echt war. Ich bleibe in jedem Fall an dieser Spur dran.«