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Eine unerwartete Entscheidung

Es hat begonnen! Die Frau stand am Fenster und blickte auf die Schiffe hinab. Seit sie ihre Kanzlei in diesem historischen Gebäude der Altstadt bezogen hatte, war die Aussicht hinunter zur Donau die beste Möglichkeit, ihre Gedanken von den Schrecken und Ungerechtigkeiten des Tages abzulenken. Sie waren versteckt in den Augen ihrer Klienten, ihrem Leid und ihren Geschichten. Es gab derer viele und sie konnte sich ihnen nicht entziehen. Ihr Beruf brachte diese mit sich. Mehr als Geld jedenfalls.

Vielleicht war es ja doch ein Fehler gewesen, sich gleich nach Abschluss des Studiums darauf zu konzentrieren, die Rechte ihrer Landsleute zu vertreten. Ohne Reputation, ohne Erfahrung und ohne Anfangskapital bedeutete dieses Klientel lange Tage und kurze Nächte bei geringem Verdienst. Als Fachanwältin für Asylrecht war sie weit entfernt vom Geldregen so manches Kollegen, doch nichts ersetzte das Gefühl, wieder einer Familie, einem Vater, einer Mutter mit ihren Kindern das Recht auf Asyl, das Recht auf ein Leben in Deutschland erkämpft zu haben. Deshalb war sie aus Österreich nach Deutschland gekommen, genauer nach Passau, dorthin, wo die Woge der Verzweifelten an das Ufer der Hoffnung brandete.

Deshalb und weil er es von ihr verlangt hatte. Obwohl sie näher bei ihm sein wollte, hatte er ihr nicht gestattet, mit ihm zu kommen. Die Trennung von ihm verursachte fast körperliche Schmerzen. Dennoch musste sie sich auf die unregelmäßigen Treffen mit ihm beschränken. Hatte sie den Sinn dahinter anfangs noch nicht verstanden, so respektierte sie seine Vorsicht, nachdem er ihr die gemeinsame Zukunft erklärt hatte. Seine Vision hatte auch sie ergriffen. Er musste sie nicht überzeugen. Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass er recht hatte. Sie wollte Bestandteil seines Werkes sein. Schließlich hatte sie den Ausschlag dafür gegeben.

Dabei hatte sie die Verzweiflung beinahe in den Wahnsinn getrieben, als sie die Akte gelesen hatte. Schlagartig hatte sie das Gefühl der Schuld, das all die Jahre in ihr begraben lag, überflutet. Es waren die Namen, die da zwischen zwei Aktendeckeln unter all den Bildern und nüchternen Zahlen des Schreckens standen. Die Namen der Opfer. Und die Namen der Mörder.

Konnte sie nun endlich ihre Schuld begleichen? Das sicher nicht. Niemals! Aber sie konnte versuchen, die quälenden Selbstzweifel, die sie zu zerfressen drohten, zu vertreiben. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die Gesichter vor sich.

Alim, Bassam und Khasib!

Tot, tot und tot!

Samira!

Tot? Am Leben?

Und Nadim! Schuldig wie sie selbst. Schuldig, am Leben zu sein, während ihre Geschwister tot waren. Schuldig, sie im Stich gelassen zu haben.

Die Mörder mussten büßen. Er war das Werkzeug der Rache. Auch Nadim kannte die Namen. Sie hatte sie ihm gesagt. Waren es die richtigen? Waren sie es gewesen?

Es hatte begonnen! Vor wenigen Minuten meldete das Radio den Unfall. Genüsslich malte der Moderator die grausigen Details aus. Auch der Name des Opfers war bekannt. Ihre Hand tastete über ihr Gesicht. Überrascht fühlte sie Tränen über ihre Wangen laufen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie weinte.

Es hatte begonnen!

Ich liebe dich, kleiner Bruder.

Ich

Die Fahrt nach Bad Kötzting dauert keine zehn Minuten. Die Kirchenburg der ehemaligen Kreisstadt beherbergt neben einigen Wohnungen das Pfarrbüro, Veranstaltungsräume und das Pfingstrittmuseum. Ich parke vor dem weltlichen Zentrum der Stadt und gehe die wenigen Meter, die das Rathaus von der Kirche trennen. Eine massive Steinbrücke überquert den Burggraben und bringt mich in den Innenhof der Anlage. Schilder an der Wand zu meiner Linken weisen auf das Pfarrbüro hin.

Ich komme nicht dazu, zu läuten. Das Handy hält mich davon ab. Die KTU! Kurt Ambergers Stimme verrät seinen Gemütszustand. »Woher wussten Sie von dem doppelten Boden?«

»Wusste ich nicht. Es gab nur einige Hinweise auf versteckte Ware.«

Ob das seine Laune bessert? Die Spurensicherung muss eine Niederlage eingestehen, die an ihrem Chef nagt.

»Unter der Ladefläche gibt es einen zweiten Boden. Mit Klemmen befestigt, damit er für den TÜV abmontiert werden kann. Ziemlich raffiniert gemacht. Der Hohlraum zwischen den beiden Ebenen beträgt 15 Zentimeter.«

»Reicht für ein paar Kilo Drogen«, rechne ich laut nach.

»Oder für ein paar tausend DVDs«, unterbricht er meine Gedanken an Crystal Meth, Kokain und Heroin.

»DVDs?«

»Filme.«

»Schon klar. Lässt sich denn damit Geld machen? Ich meine, so richtig Geld.«

»Mit diesen schon.«

»Was …?«

»Pornos! Kinderpornos, um genau zu sein. Und zwar von der übelsten Sorte!«

*

Ich verschiebe mein Gespräch mit Stadtpfarrer Roland Spitzenberger um eine Runde durch den Burghof. Ein paar Meter Fußmarsch sollen mir helfen, Ordnung in das Räderwerk meines Kopfes zu bringen.

Silvian Lazar hatte einen Nebenerwerb. Das Gehalt der GME allein war anscheinend nicht genug für seinen Lebensstil. Und dem seiner Frau. Ob sie davon wusste? Meine Antwort lautet Nein. Nach meiner Einschätzung gewährte ihr Silvian nur wenige Einblicke in sein Geschäftsgebaren. Und in die ehelichen Finanzverhältnisse auch nicht. Ob nun Verena besonders naiv ist oder nur zufrieden mit ihrer Situation war, lässt sich schwer sagen. Vielleicht war es einfach nur Liebe, gepaart mit blindem Vertrauen. Ihr Mann trennte Privatleben und Beruf fein säuberlich. Solange es privat lief, sah seine Frau wohl keinen Grund, ihr gemeinsames Glück infrage zu stellen.

Umso härter wird sie die Nachricht von Silvians zweitem Leben treffen.

Kinderpornografie!

Wie viel widerwärtiger kann es noch sein? Doch ich kann ihr die Wahrheit nicht ersparen. Auch nicht, da es noch viele offene Fragen zu beantworten gibt. Hat sich Silvian in Tschechien mit Kreisen angelegt, die eine Nummer zu groß für ihn waren?

Warum der Feuertod? Abschreckung? Rache?

In diesem Fall müssten noch mehr Personen in den Handel mit diesem Schmutz verwickelt sein. Die GME? Ich werde mir die Gebrüder Lazar mal vorknöpfen müssen.

Und dazu benötige ich die Hilfe von Wolfgang Niebel. Mein Kontakt zum Zollhauptkommissar erweist sich wieder einmal als unbezahlbar. Genauso wie seine Kontakte zu den tschechischen Kollegen. Ich lehne mich an die Burgmauer und wähle Wolfgangs Nummer.

Mein Freund aus früheren Jahren ist nicht in seinem Büro. Also versuche ich es unter seiner Handynummer.

»Servus, Moritz. Hab’s schon gehört. Du steckst wieder mittendrin.«

Wie schnell sich das doch in Polizeikreisen herumspricht.

»Diesmal habe ich vielleicht auch was für dich.« Meine nächsten Worte reißen ihn aus seinem Berufsalltag.

»Du denkst also, dein Toter hat das Werk der Green Mountain Electronics in Domažlice genutzt, um seine illegalen Geschäfte abzuwickeln? Klingt plausibel.«

»Zumindest hat er seinen Schweinekram in einem Firmenwagen geschmuggelt. Und soviel ich weiß, ist Tschechien in der Pornoproduktion ganz vorne dabei.«

»Kann man so sagen. Das Land ist sozusagen die Schnittstelle zwischen Angebot und Nachfrage. Mädchen aus dem Osten und Kunden aus dem Westen.«

»Und Kinder!« Ich kann meine Wut kaum unterdrücken. Ich weiß, Wolfgang Niebel teilt sie mit mir.

»Was ich nicht verstehe, ist, warum die GME so etwas machen sollte? Wenn die Geschäfte so gut laufen, wie du sagst, riskieren sie diese doch nicht. Bei Kinderpornografie hört auch bei den tschechischen Kollegen der Spaß auf.«

»Da hast du sicher recht. Gut möglich, dass es Silvians Privatparty war. Er führte einen ziemlich aufwendigen Lebensstil. Ich werde mir heute noch einen der Inhaber der Firma zur Brust nehmen. Grigore Lazar wohnt in Kirchbach. Mal sehen, was er so zu den Geschäften seines Neffen sagt. Ich hätte für dieses Gespräch nur gerne ein paar Pfeile im Köcher. Denkst du, du könntest eine Durchsuchung des Betriebsgeländes der GME in Domažlice erreichen?«

»Nicht durch uns. Wenn, dann werden das die Tschechen selbst machen. Aber ich werde ihnen auf die Finger sehen.«

»Glaubst du, sie lassen dich dabei sein?«

»Ich kenne da ein paar Leute, die mir noch den ein oder anderen Gefallen schuldig sind.«

»Es muss aber schnell gehen. Sonst räumen die das Zeug, falls noch etwas vorhanden ist, zur Seite.«

»Keine Sorge. Ich sagte doch, ich habe da so meine Verbindungen. Wir machen das. Ich kümmere mich um alles und gebe dir sofort Bescheid.«

»Danke, Wolfgang. Ich schulde dir was.« Die Untertreibung des Tages. Mein Schuldenkonto bei Zollhauptkommissar Niebel wächst seit unserem Wiedersehen vor zwei Jahren beständig an. Dank unserer Bekanntschaft aus den Zeiten der gemeinsamen Ausbildung in der Polizeischule hat mir Wolfgang nicht nur im Fall Georg Koller wertvolle Informationen geliefert. Mein Aktionsradius wird nun mal von der Grenze zu Tschechien begrenzt und Wolfgang ist mein Schlüssel ins Nachbarland.

»Es ist jetzt 14 Uhr. Ich denke, bis 17 Uhr melde ich mich wieder bei dir.«

»Gut. Bis dann. Und viel Glück.«

»Wäre gut für uns beide. Sollten wir einen Pornoring auffliegen lassen, wäre das auch für die tschechischen Kollegen ein Erfolg.«

Mein Blick fällt hinab zur Regenpromenade, die hier auf dem Deich der Hochwasserfreilegung verläuft. Zwei Kindergärtnerinnen geleiten ihre Gruppe Vorschulkinder auf deren Spaziergang entlang des Flusses. Ihr Lachen und Schreien dringt bis zu mir herauf.

 

Kinderpornos! Pädophile Scheißkerle! Perverse Schweine!

Ich hole tief Luft. Mein Magen krampft sich zusammen und mir wird schlecht. Auf was steuere ich da wieder mit vollen Segeln zu? Was, wenn ich versage? Es geht um Kinder!

Man kann es kaum glauben, aber es gibt noch weit Schlimmeres als Mord.

*

»Herr Buchmann! Grüß Gott! Kriminalpolizei? Treten Sie doch näher.« Roland Spitzenberger, Stadtpfarrer von Bad Kötzting, ist sichtlich überrascht über meinen Besuch. Kein Wunder, schließlich kennt er meinen Beruf – und vielleicht sogar mich – aus diversen Zeitungsartikeln. Einige Mordfälle in der Gegend haben mir einen beachtlichen Bekanntheitsgrad eingebracht. Sicher ist er auch über die jüngsten Ereignisse unterrichtet. Die Verbindung zwischen diesen und mir liegt auf der Hand. Nicht aber die zwischen dem Toten und Herrn Hochwürden.

Dennoch geleitet er mich durch hohe, weiß getünchte Flure in sein Büro, das in den historischen Räumen der Kirchenburg untergebracht ist. Genauso wie die Wohnräume des Geistlichen. Essensgeruch aus einer unsichtbaren Küche erinnert meinen Magen an sein Recht. Hoffentlich äußert er dieses nicht durch peinliches Knurren.

Pfarrer Spitzenberger bietet mir einen bequemen Ledersessel an.

»Vielen Dank, dass Sie sich ein paar Minuten für mich freischaufeln«, sage ich mit Blick auf den Stapel Papier und die zahlreichen Ordner auf seinem Schreibtisch. Sie verraten einen vollen Terminplan auch außerhalb Kirche und Liturgie.

»Das ist doch selbstverständlich. Ich habe natürlich auch von den nächtlichen Ereignissen in Wettzell gehört. Es heißt, es sei Mord gewesen. Ein besonders brutaler noch dazu. Deshalb sind Sie doch hier? Kein Wunder, dass Sie mit den Ermittlungen beauftragt wurden. Wo Sie doch inzwischen bei uns fast zu Hause sind. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie ich Ihnen behilflich sein kann.«

»Nun, Herr Pfarrer. Das Opfer war Geschäftsführer der Green Mountain Electronics in Kirchbach. Und auch der Unfallwagen gehört dieser Firma. Wir ermitteln deshalb zurzeit im Umfeld der GME und ihrer Mitarbeiter.« Ich bemühe mich, ihm das Gefühl zu vermitteln, ausreichend informiert zu werden, und doch nicht zu viel zu verraten.

»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen noch immer nicht folgen.« Pfarrer Spitzenberger sitzt aufrecht in seinem Sessel, die Hände vor sich gefaltet.

»Nadim Hemedi. Er arbeitet auch bei der GME. Mir wurde gesagt, ich würde ihn hier finden. Es heißt, Nadim mache sich gelegentlich für die Kirchengemeinde nützlich.«

»Ach so, Nadim!« Er lehnt sich entspannt zurück. »Richtig. Er wohnt sogar hier. Im Areal der Kirchenburg haben wir immer ein paar freie Zimmer. Für Gäste und Besucher. Stefan hat mich damals überredet, Nadim einige der Räume zur Verfügung zu stellen. Ich erinnere mich gut, als er vor etwa einem halben Jahr zu uns kam. Sein Anerkennungsverfahren stand damals kurz vor dem Abschluss.«

»Mir wurde gesagt, Sie hätten sich um ihn gekümmert. So, wie um andere Flüchtlinge auch. Es scheint, Herr Hemedi will sich dafür und für die Unterkunft revanchieren.«

»Das sicher auch. Aber Nadim ist ein guter Mensch. Und sehr hilfsbereit. Ich glaube, er würde uns auch so helfen.«

»Mir scheint, hier gibt es keine Grenzen zwischen den Religionen.«

»Weil die Flüchtlinge Muslime sind? In erster Linie sind es Menschen. Bedürftige Menschen. Es ist unsere Aufgabe, den Bedürftigen zu helfen, oder nicht?«

»Vor allem, wenn sie so nützlich wie Herr Hemedi sind?«

Pfarrer Spitzenberger sieht mich lange an. »Nadim Hemedi ist ein gläubiger Mensch. Und ich bin ein gläubiger Mensch. Wir beide glauben an Gott. Nadim wohnt hier, weil er ein Freund ist.«

Ich weiß nicht, ob ich Roland Spitzenberger so viel Toleranz zugetraut hätte. Ob ich einem Bewohner des Bayerischen Waldes so viel Toleranz zugetraut hätte.

»Ich will mich aber nicht mit fremden Federn schmücken«, fährt der Geistliche fort. »Obwohl ich das Engagement meines Kaplans voll und ganz unterstütze, lässt mir mein Amt nicht die Zeit, die ich gerne hätte. Nein, Herr Kommissar. Die Ehre gebührt meinem Kaplan, Stefan Wiesenreiter. Selten habe ich einen Menschen erlebt, der sich einer Sache so verschrieben hat. Stefan hat in den schlimmsten Tagen des letzten Sommers Wohnungen und Unterkünfte besorgt, Gelder aufgetrieben, Spenden und Helfer organisiert. Glauben Sie mir, er ist an seine Grenzen und darüber hinaus gegangen, um diesen Leuten zu helfen. Und einer von ihnen war nun mal Nadim Hemedi. Ob er allein kam oder in einer Gruppe, kann ich Ihnen nicht sagen. Auch um die bürokratischen Dinge hat sich Stefan gekümmert. Ich kann mich gut an seine Aufregung und Freude erinnern, als Nadim als Asylant anerkannt wurde. Ein paar Tage später hatte er schon einen Arbeitsplatz für ihn bei der GME organisiert. Er sagte, er kenne den dortigen Geschäftsführer.«

»Der jetzt tot ist«, unterbreche ich ihn.

»Ich sehe da beim besten Willen keinen Zusammenhang.«

Ich muss gestehen, ich auch nicht.

Pfarrer Spitzenberger richtet sich auf. Seine Hände wischen nicht vorhandenen Staub vom Schreibtisch.

»Im Augenblick noch nicht«, gebe ich zu. »Aber Sie verstehen sicher, dass ich jede Möglichkeit in Erwägung ziehen muss.«

Er nickt verständnisvoll, wie er es wohl schon tausende Male getan hat, wenn seine Schäflein ihre Sorgen vor ihn trugen.

»Ist Herr Hemedi im Augenblick da? Ich hätte da doch ein paar Fragen an ihn, und bei der GME sagte man mir, er wäre heute hier zu finden.«

»Das stimmt. Er war vorhin unten im Leseraum. Dort tropft ein Heizkörper. Ich bin leider handwerklich völlig ungeschickt und auch Stefan hat in dieser Hinsicht zwei linke Hände. Seine Talente liegen auf anderen Gebieten, wie ich Ihnen schon sagte. Nadim musste jedoch kurzfristig fort. Er hatte es sehr eilig. Ich denke, Sie finden ihn in der Maximilianklinik.«

»Ist er krank?«

»Nein, natürlich nicht. Krankenbesuch.«

»Ach so.«

In diesem Augenblick klopft es an der Tür. Eine Frau mittleren Alters unterbricht unser Gespräch. »Tut mir leid, Hochwürden, aber ich habe einen dringenden Anruf für Sie. Könnten Sie bitte mal kommen?«

Mit einer entschuldigenden Geste erhebt er sich und deutet an, gleich wiederzukommen.

So langsam reißt mein Geduldsfaden. Ich will jetzt endlich diesen fußballspielenden syrischen Handwerker verhören und ihm nicht den halben Tag nachlaufen.

Vielleicht kann Karl helfen? Ich erreiche meinen Freund von der Polizeiinspektion Bad Kötzting während einer Streifenfahrt durch sein beschauliches Revier. Natürlich zwingt ihn keine dienstliche Verpflichtung, mich zu unterstützen. Schon in Ermangelung der berühmten Zuständigkeit. Aber wie gesagt: Karl ist mein Freund.

»Na, keine Mittagspause?«

»Du auch nicht, wie es scheint!«

»Ich bin auf der Suche nach Nadim Hemedi.«

»Der Syrer, der bei unserem Pfarrer so hoch im Kurs steht?«

»Du kennst ihn?«

»Kennen wäre übertrieben. Aber in unserer kleinen Stadt bleibt nichts und niemand lange verborgen. Was willst du denn von ihm?«

Einige erklärende Worte später weiß Karl Bescheid.

»In der Maximilianklinik?«

»Anscheinend besucht er dort jemanden. Könntest du ihn zur PI bringen? Ich denke, ich bin in einer halben Stunde auch dort. Wenn ich einen eurer Räume benutzen darf, natürlich.«

»Ich denke, das lässt sich machen!«

Ich verabschiede mich von Karl, der seine eigentliche Arbeit unterbricht, um für mich Nadim zu suchen. Einen Kommissar aus Deggendorf zu unterstützen, stand sicher nicht auf seinem Tagesplan. Ein Mord jedoch auch nicht.

Der Pfarrer kommt zurück. Ich warte im Stehen auf ihn. Viele Fragen habe ich im Augenblick nicht mehr. Mir scheint, dieser Kirchenbesuch bringt mich nicht sonderlich weiter.

»Entschuldigen Sie bitte. Ein dringendes Gespräch. Ah, ich sehe, Sie wollen schon gehen?«

»Ja, ich muss jetzt mit Herrn Hemedi sprechen. Nur eines noch: Wo ist eigentlich Ihr Kaplan? Herr Wiesenreiter?«

»Droben in der Wallfahrtskirche zu Weißenregen. Ich werde dort am Samstag ein junges Paar trauen. Stefan kümmert sich um die Vorbereitungen. Wenn er zurückkommt, veranlasse ich, dass er sich sofort bei Ihnen meldet.«

Ich bedanke mich und reiche ihm meine Visitenkarte, die er aufmerksam studiert. »Wie lange ist Herr Wiesenreiter schon Kaplan in Ihrer Pfarrei?«

»Wie lange? Ein Jahr, denke ich. Ja, ein Jahr. Ich bin wirklich froh, dass ihn der Herr zu uns geführt hat. Er ist bei den Gläubigen sehr beliebt und sein Engagement ist mustergültig. Unser Kaplan ist ein Beispiel gelebter Nächstenliebe.«

Ich verlasse das Pfarrbüro nur wenig klüger, als ich es betreten habe. Mir bleibt eine halbe Stunde, bis ich hoffentlich meinen bisher einzigen Anhaltspunkt vernehmen kann. Und in der Zwischenzeit?

Soll ich meinen leeren Magen besänftigen oder …?

Nein! Zuerst werde ich mich mal mit dem Beispiel gelebter Nächstenliebe unterhalten.

*

Die Wallfahrtskirche Weißenregen liegt in Sichtweite der Kliniken auf dem Ludwigsberg. Was läge da näher, als ihr einen Besuch abzustatten? Zumal dort Kaplan Stefan Wiesenreiter Vorbereitungen für eine Trauung trifft. Vielleicht kann er ja meinem noch etwas bleichen Bild von Nadim Hemedi Farbe verleihen.

Die Kirche von Weißenregen genießt in der Gegend einen bemerkenswerten Bekanntheitsgrad. Sei es wegen der jahrhundertealten Wallfahrt, wegen des Kirchweihfestes mit größtem Standmarkt weit und breit oder aufgrund der weithin sichtbaren Lage hoch über dem Regental. Der Rokokobau und der Biergarten nebenan ziehen Menschen von nah und fern an. Heute aber steht nur ein Auto vor der Friedhofsmauer, die das Areal umgibt.

Ich parke gleich daneben. Der Blick von hier oben streift weit über das Land. Bad Kötzting unten im Regental, der Kaitersberg gegenüber und der Hohe Bogen im Osten. Wahrlich ein schöner Flecken Erde. Deswegen bin ich aber nicht hier. Die Kirchentür steht weit offen und lädt zum Hineingehen ein. Auch der Innenraum des Gebäudes ist im typisch verschwenderischen Rokokostil ausgeschmückt. Bilder und Fresken wie in nahezu jeder Kirche des Bayerischen Waldes.

Zwei ältere Frauen sitzen ins Gebet vertieft in der ersten Reihe. Im Hauptgang dazwischen ist ein Mann damit beschäftigt, die Bänke mit Blumen zu schmücken. Kaplan Wiesenreiter muss sich hierzu leicht bücken. Die schwarze Priesterkleidung betont die imposante Gestalt des Geistlichen zusätzlich. Schwarzes gelocktes Haar, ein markantes Gesicht und ausdrucksstarke Augen vervollständigen den Eindruck.

»Herr Wiesenreiter?«

»Ja, bitte?« Der Kaplan erfreut sich einer vollen, weichen Stimme. Ein weiteres Plus, wenn es darum geht, die Schäflein an den Hirten zu binden.

»Mein Name ist Moritz Buchmann. Kripo Deggendorf. Es geht um Silvian Lazar. Und um Nadim Hemedi. Ich hörte, Sie kennen ihn gut. Ich hätte deshalb ein paar Fragen an Sie.«

»Selbstverständlich. Ich bin hier ohnehin fertig. Normalerweise machen das ja die Frauen, aber heute hatte niemand Zeit. Und bei so einer besonderen Hochzeit kann ja auch mal der Kaplan Hand anlegen.« Sein Lächeln ist durch und durch sympathisch.

»Eine besondere Hochzeit? Wer denn?«

»Amira Ciobanu und Dr. Carsten Wanninger. Sie aus begütertem Haus, er Mitglied einer Arztfamilie. Da spielt das Monetäre keine Rolle, Sie verstehen? Deshalb auch die Trauung hier in der Wallfahrtskirche. Und die weltliche Feier in einem der Tophotels der Gegend.«

»Aha. Ich denke, wir sollten nach draußen gehen«, sage ich mit Blick auf die beiden Frauen.

»Ja, wir sollten ihr Gebet nicht stören.«

Auf dem Weg hinaus bemerke ich, dass die rechte Seitentür offen steht. An ihrer Stelle versperrt ein Gitter den Ausgang. Dahinter scheint ein Bienenschwarm seiner Arbeit nachzugehen. Herr Wiesenreiter bemerkt meinen Blick.

»Der Stuck der Kirche wurde vor Kurzem restauriert. Außerdem hat man die Wände neu gestrichen. Das sorgt für eine zu hohe Luftfeuchtigkeit hier drinnen. Auf die Dauer ist das schädlich für die anderen Kunstgegenstände und die Orgel. Das Brummen gehört zu einem Ventilator. Und der wiederum zu einem Baustellenentlüfter, der die feuchte Luft absaugt. So hat man mir das zumindest erklärt. Ich muss gestehen, ich verstehe nicht viel von solchen Dingen. Jedenfalls trocknet das Gebäude auf natürliche Weise nicht schnell genug aus und es wäre doch schade um dieses Kleinod, denken Sie nicht?«

 

Ich nicke, dann sind wir draußen im Schatten der beiden riesigen Linden, die den Eingang der Kirche seit Urzeiten bewachen.

»Herr Kaplan, Sie haben sicher vom Tod Silvian Lazars gehört. Und auch davon, dass es kein gewöhnlicher Unfall war.«

»Die Leute sprechen von Mord. Aber die Menschen reden viel. Doch jetzt, da Sie hier sind, ist es wohl wahr.«

»Ja, das ist es. Sie kennen Nadim Hemedi. Sie haben sich sehr für ihn eingesetzt und können mir vielleicht einiges zu ihm sagen.«

»Nadim? Ja, ich kenne ihn wahrscheinlich besser als die meisten hier. Aber sagen Sie, was hat er mit Silvians Tod zu tun?«

Silvian, nicht Herr Lazar. Man kennt sich eben.

»Vermutlich nichts. Aber wir ermitteln im Umfeld der GME. Herr Hemedi ist dort für die Wartung der Fahrzeuge zuständig. Und damit auch für den Lkw, mit dem Herr Lazar verunglückt ist.«

»Ich verstehe.« Er lässt seinen Blick über das gelb leuchtende Rapsfeld nebenan schweifen. »Da drängt sich ein Zusammenhang wahrlich auf. Nun, Herr Buchmann. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Nadim Hemedi gehört in meinen Augen zu den Menschen, die wir gerne als gut bezeichnen. Er hat einiges in seinem Leben durchgemacht, aber ich habe ihn nie jammern hören.«

»Hat er von zu Hause erzählt? Von seiner Flucht oder seinen Erlebnissen im Krieg?«

»Das könnte man bei seiner Geschichte annehmen, aber nein. Er hätte wahrlich Grund genug, verbittert zu sein. Er hat jedoch nie dergleichen erwähnt. Jedenfalls nicht mir gegenüber.«

»Sie reden viel miteinander?«

»Nadim wohnt auf dem Kirchengelände in Bad Kötzting. Und er hilft uns, wenn Not am Mann ist. Da bleiben Gespräche nicht aus.«

»Ich hörte, Sie haben sich sehr um die Anerkennung seines Asylantrages gekümmert. Und um alles weitere auch.«

»Das stimmt nicht ganz. Auf das Asylverfahren hatte auch ich keinen Einfluss. Auf eine menschenwürdige Unterkunft schon. Für ihn und seine Schwester. Sie ist schwerstbehindert und liegt drunten in der Maximilianklinik. Nadim kümmert sich aufopferungsvoll um sie. Er liebt sie über alles.«

»Sie haben ihm auch den Arbeitsplatz bei der GME besorgt. Es scheint, Sie kannten Herrn Lazar persönlich?«

»Silvian stammte aus einer erzkatholischen Gegend Rumäniens. Tiefste Provinz. Als er und seine Familie nach Deutschland kamen, gab es Probleme mit den Papieren. Nicht den amtlichen, sondern den kirchlichen. Alles, was man so für Taufe und Ehe benötigt. Silvian kam zu mir und ich habe mich darum gekümmert. Das Netz der Kirche ist weltumspannend. Seither glaubt die Familie Lazar, sie stünde in meiner Schuld. Was sie natürlich nicht tut.«

»Aber von Nutzen ist es schon.«

»Wenn es darum geht, einem heimatlosen Flüchtling zu Lohn und Brot zu verhelfen? Ja!« Wieder lächelt er.

Er hat ja recht. Es gibt Situationen, in denen Beziehungen wirklich Gutes bewirken können.

»Können Sie sich vorstellen, wer Herrn Lazars Leben beenden wollte? Hat er Ihnen gegenüber je etwas in der Richtung erwähnt? Fühlte er sich bedroht? Wenn er so katholisch war, wie Sie sagen, könnte es doch sein, dass er Ihnen etwas gebeichtet hat.«

Den Handel von Kinderpornos zum Beispiel, fügt mein Gedächtnis lautlos hinzu.

Das Lächeln des Kaplans drückt mildes Mitleid ob meiner Unwissenheit aus. »Silvian wohnte in Moosbach. Wenn er gebeichtet hat, dann bestimmt beim dortigen Pfarrer. Und vergessen Sie nicht: Das Beichtgeheimnis ist unantastbar.«

»Nun gut! Haben Sie Herrn Hemedi gestern Abend gesehen?«

»Wir haben miteinander die Hochzeitsvorbereitungen besprochen. Bis etwa elf Uhr. Dann ist er in sein Zimmer gegangen. Ich habe noch gesehen, wie dort das Licht an- und wieder ausging. Ich denke, er ist dann zu Bett gegangen. Wie ich auch.«

»Vielen Dank, Herr Wiesenreiter. Ach übrigens: Ihr Dialekt klingt nicht, als kämen Sie aus Bayern.«

»Nein, wirklich nicht«, bestätigt er lachend. »Sachsen-Anhalt. Und dort vom Lande. Ein kleines Dorf, dessen Namen Ihnen sicher nichts sagt.«

»Dafür haben Sie sich schon recht gut angepasst. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wie wird man in Sachsen-Anhalt zum Katholizismus berufen?«

Wieder sein gewinnendes Lachen. »Keine Sorge. Sie sind nicht der Erste, der sich das fragt. Der Weg von einer ausnahmslos atheistisch geprägten Umgebung zum katholischen Glauben erscheint doch ziemlich weit. Manchmal aber begegnet man an ungewöhnlichen Punkten seines Lebens ungewöhnlichen Menschen. Gottes Wege sind unergründlich.«

Eine typische Antwort, denke ich. Lässt alle Antworten offen. Da meine Frage jedoch eher persönlicher Neugier entsprang und wenig mit meinem Fall zu tun hat, lasse ich es dabei bewenden.

Weiter komme ich auch nicht. Mein Handy läutet. Karl hat Nadim Hemedi gefunden.

»Servus, Moritz. Du hattest recht. Nadim Hemedi ist in der Maximilianklinik.«

Sehr gut. Moment mal. Sagte Karl »ist«? Ich habe ihn doch gebeten, Nadim zur Polizeiinspektion zu bringen.

»Ihr seid noch nicht in der PI?«

»Nein!« Einige Sekunden Schweigen. »Herr Hemedi ist hier im Augenblick unabkömmlich.«

Unabkömmlich? Was soll das denn schon wieder?

»Was soll das? Ich laufe ihm jetzt schon seit Stunden hinterher. Er soll jetzt gefälligst mit dir kommen!«

»Das … das ist nicht so einfach. Am besten, du kommst einfach hierher. Ich warte am Eingang auf dich.«

Fünf Minuten später betrete ich die Klinik. Karl sitzt im Eingangsbereich. Als er mich sieht, springt er auf und winkt mich zu sich. Mein Freund wirkt ungewohnt nervös. Verlegen knetet er seine Hände. »Tut mir leid, aber du wirst das gleich verstehen.«

Da bin ich mal gespannt. Wir folgen einem langen Flur bis zu einem abgelegenen Zimmer ganz am Ende. Ohne anzuklopfen, öffnet Karl vorsichtig die Tür. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die Szenerie erfasse. Dann aber brennt sie sich unauslöschlich in mein Gedächtnis.

Ein helles und freundliches Zimmer. Bunte Bilder an den Wänden, Blumen auf dem Tisch und am Fenster. Mehr ein Kinder- als ein Krankenzimmer. Die Decke des einzigen Bettes im Raum zieren gelbe Schmetterlinge. Doch es ist leer. Die Patientin dieses Zimmers sitzt in einem Stuhl vor dem Fenster. Der krasse Widerspruch des Geschehens dort zu der Geborgenheit des Zimmers lässt mein Herz stillstehen.

Ich schätze das Mädchen auf fünf bis sechs Jahre, doch ist das in diesem Augenblick der nebensächlichste Gedanke, den man sich nur vorstellen kann.

Mund und Augen der Kleinen sind weit aufgerissen, Schweiß und Tränen glänzen auf ihrem Gesicht. Ihr Atem geht stoßweise, begleitet von einem entsetzlichen Röcheln.

Vor ihr kniet ein junger Mann. Kräftige Schultern, schwarzes Haar, dunkle Augen. Er hält die Hände des Mädchens. Oder hält sie seine? Er lässt sie los, streichelt mit einer Hand ihren Arm, dann mit der anderen. Stumm wandern seine Hände zu ihrem Kopf. Er nimmt ein weißes Tuch, das ich bisher nicht bemerkt habe, und wischt über ihr Gesicht, über ihre Stirn. Mit der anderen Hand streicht er das verschwitzte Haar zurück. Seine Lippen nähern sich ihren Wangen, drücken ihr einen zärtlichen Kuss auf.

Dann beginnt das Ganze von vorn. Wieder hält er ihre Hände, wieder streichelt er ihren Arm, wieder …

Minuten vergehen. Oder sind es Stunden? Ich weiß es nicht. Zeit spielt keine Rolle, ist ausgeschaltet.

Der Raum spielt keine Rolle, existiert nicht mehr.

Es gibt nur noch den jungen Mann und das Mädchen. Ihr körperlicher Schmerz ist im ganzen Zimmer spürbar. Der seelische des Mannes auch.

Er beugt sich vor und legt seine Stirn an ihre. Und dann erfüllt sein leises Summen den Raum. Es ist eine Melodie, die ich noch nie gehört habe. Wieder und wieder.

Endlich verstummt das Röcheln. Ihr Atem beruhigt sich. Die Krämpfe, die den zierlichen Körper noch eben schüttelten, weichen und sie sackt nach vorne in die Arme des Mannes. Der fängt sie auf, als hätte er das bereits tausendmal getan. Er trägt sie zum Bett, zieht vorsichtig die Decke über den ausgemergelten Körper. Dann streicht er ein letztes Mal die schweißnassen Haare aus dem bleichen Gesicht. Eine einzige Geste von mehr Zärtlichkeit und Liebe, als ich es je in Worten ausdrücken könnte. Das Mädchen lächelt. Ihr Mund formt leise Worte, bevor sie sich zur Seite dreht und einschläft.