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Z serii: Orbis Romanicus #14
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Das Führungsfeld, elementar schöpferisch

Das sensorisch zurückempfundene Tun provoziere selbsttätig neue Empfindungen und daraufhin neues Tun etc. Dies gelte im Nahbereich des Lebewesens für Tast- und Sehempfindung, im Fernbereich für Seh- und Hörempfindungen. Ein wichtiger Fall beim aufsteigenden Bau der rückbezüglichen Empfindungssystematik beim Menschen ist für Gehlen das „Sprech-Hör-System“1, da der Laut sowohl als produzierter als auch gehörter Gegenstand ein für den Menschen frei verfügbarer und erweiterbarer einen Sonderfall von Gegenstand darstelle:

Die Grundtatsache dieses Sprech-Hör-Systems ist die doppelte Gegebenheit des Lautes, der ebenso motorischer Vollzug des Sprechwerkzeuges wie selbstgehörter, zurückgegebener Klang ist. […] Hier ist die Fähigkeit ‚entfremdeter Eigentätigkeit‘ so auffallend wie sonst nur noch im Tastsystem der Hand.2

Gemeinsam bilden Hand, Auge und Sprache dann auch das, was Gehlen „Führungsfeld“3 nennt. Es trage die Aufgabe, die herausragenden menschlichen Fertigkeiten zu entwickeln.

Die besondere Ähnlichkeit von Sprache und Hand liegt nicht nur darin, dass beide Systeme in hohem Grade unabhängig vom Gesamtbewegungszustand leben können: dies hängt mit ihrer Eigenschaft als führende Organe zusammen. Sie liegt vor allem auch darin, dass nur auf diesen beiden Gebieten unsere Eigentätigkeit ganz elementar schöpferisch ist, in dem Sinne einer Vermehrung des sinnlichen Reichtums der Welt. Zu der stummen Welt fügt unsere Sprache die tönende hinzu, und unsere Hand, mit den Dingen umgehend, sie zerbrechend oder bearbeitend, entlockt ihnen immer neue tastbare und auch sichtbare Eigenschaften.4

Die sensomotorischen Seh- und Tastempfindungen, die rückbezügliche Vorgänge darstellen und auf diese Weise auch wieder weiter hervorrufen – was Gehlen entfremdetes Selbstgefühl oder entfremdete Selbstempfindung nennt –, sowie jene Bewegungsvorgänge, die ob der organischen Unspezialisiertheit des Menschen begierdelos aktiv in Beziehung zu einer noch zu entdeckenden Welt treten, und den darin zu findenden Gegenständen im sensomotorischen Geschehen eine Gestalt geben und noch dazu Bewegungsphantasien entstehen lassen, wie auch die so entstandenen Bewegungsfiguren und Bewegungsreihen und die sie wiederum begleitenden Bewegungsphantasien, welche kombinatorisch in und zu sich vermittelt werden können, immer wieder neue und unerwartete Aspekte der Gegenstandswelt lustvoll offenlegen, auf neue Bewegungen zurückwirken, und so nach und nach zu identifizierbaren Einheiten ausfallen, dies alles noch ganz ohne Sprache, drücken aus, was Gehlen die „Intellektualität der Bewegungsstruktur“5 nennt. Dieses System der sich selbst verstärkenden und aufbauenden Einheiten ist in seiner Gesamtstruktur einzig menschlich. Kein Tier kann sich begierdelos auf Gegenstände beziehen, obwohl es sich auf diese in Abwehr oder Angriff etwa sehr wohl beziehen kann. Wir sehen im Funktionieren dieses Systems die gegenseitige Bezugnahme der einzelnen Einheiten zueinander beschrieben, und es ist uns damit zugleich ein weiteres Prinzip einer urmenschlichen Fähigkeit mitgenannt: der Rollentausch oder das sich in ein anderes versetzen nach Mead6.

Die strukturelle Vorgabe ist demnach die doppelte Erlebnisweise sensomotorischer Empfindungen als eines äußeren objektiven Datums oder/und eines inneren subjektiven. Dem Laut, der als ein Äußerer in unser Ohr dringt, oder/und von uns selbst erzeugt, auch selbst innerlich, wie auch wieder zugleich als ein Äußerer vernommen, ist die doppelte Struktur selbstredend eingeschrieben, und sie gelte so für jeden Gegenstand der Welt, der auf den Menschen einwirkt und auf den dieser in kommunikativer Bewegung reagiert oder auf diesen hin agiert. Alles dies seien Gegenstände, die in subjektiv-objektiver Gestalt vermittelst Handlung in den Kreis der Menschenwelt hineingenommen wurden und innerhalb der er nun mit ihnen lebe. Sie seien ihm also plastisch geworden7.

Die fünf Sprachwurzeln

Schon beim Vorsprachlichen, allein auf Empfindung und Phantasie aufbauend, beschreibt Gehlen die Tendenz des Systems zur Verkürzung der andrängenden Vielfalt der Welt. Er schreibt, dass zum Beispiel das Sehen hochsymbolisch sei, da es sich auf Erfahrungsdaten aus dem Bewegungsapparat wie dem Tasten (Oberfläche, Dichte, Härte, Schwere, Kälte etc. eines Gegenstandes) unmittelbar beziehe und alle diese Erfahrungs- und Umgangsdaten zugleich sehe. Dies gelte genau so auch für das Sprech-Hörsystem und dessen akustische Gegenstände. Mit dieser Feststellung sind wir bei der ersten Sprachwurzel angelangt. Sprachwurzel deshalb, da es sich dabei um „das rein kommunikative, noch gedankenlose offene Leben des Lautes“1 handele.

Der Laut sei eine sensomotorische Bewegungsleistung, welche mit Inhalten geladen, kommunikativ geworden sei2. Als ein solcher sei er ausgewählt oder „spezialisiert“3 und erlaube die Präzisierung seelischer Erlebnisse. Da innere Erlebniseinheiten – Phantasien4 – kombinativ, erinnernd und nach Gehlen auch schon auf der vorsprachlichen Ebene vorausgreifend sein könnten – in Art einer nicht zu Ende geführten wohl aber innerlich zu Ende erlebten Handlung –, könne der Laut zum Ruf werden. Gehlen erläutert dies am Beispiel des Kleinkindes, welches an einem seiner Laute ein Echo der Anderen im Zusammenhang mit einer bestimmten Gegenwart eines Gegenstandes oder eine Aktion erfahre und diese dann als ein übersehenes Ganzes erkenne und von ihm auch wieder abgerufen werden könne. Zugleich sei dies der Moment für die Entstehung des Gedankens selbst, dann nämlich, wenn sich die Erwartung des Kindes nicht erfülle und aus dem Ausbleiben der Erfüllung in der tatsächlichen Leere allein der Gedanke daran erhalte5. Damit dieser Prozess zur Sprache führe, bedarf es nach Gehlen dreier Bedingungen:

Denn zur Sprache gehören drei schlechthin wesentliche weitere Eigenschaften: die im Laut gerichtete Erwartung auf Erfüllung in anderen Lauten, die feste Zuordnung prägnanter Lautgestalten zu ebenso prägnanten Dingen, und die Unabhängigkeit der Verfügbarkeit einer echten Sprache vom Jetztgehalt der Situation.6

Der selbstverfertigte Lautgegenstand werde nun in den Kreisprozess des „sensomotorischen, kommunikativen Selbstausbau“7 hineingezogen und ausgestaltet. Am Tanz wird laut Gehlen sichtbar, wie sich der Laut als Musik in „die innere Musik der Bewegung“8 der Tänzer hinein fortsetze und die Bewegung, die „raumlose Musik in sich hineinzuziehen und an einem sichtbaren Ort zu verdichten“9 vermag.

Der Kreisprozess, das Leben des Lautes und der Rhythmus, Energeia des Handelns

An dieser Stelle beschreibt Gehlen einen Sachverhalt, welcher mir als fundamental im Aufbau seiner Systematik erscheint, weit wichtiger noch als das, was er selbst zur Grundlage seines Bildes des Menschen ausweist: die Handlung1. Gehlen schreibt:

Alle hier gemeinten Kreisprozesse des sinnlich-bewegten Umgangs sind rhythmisch oder rhythmisierbar. Es scheint der Rhythmus die ursprüngliche Verlaufsgestalt zu sein, in der solche Bewegungen sich aufbauen. Immer wird das Lebensgefühl durch die sinnlich zurückgegebene und rhythmisch sich fortsetzende Bewegung wie in tiefen Atemzügen sich immer neu wiedergegeben – im Erlebnis entfremdeter und doch intimer Selbsttätigkeit im Umgang.2

Das Schauspiel der Kreisprozesse des sinnlich-bewegten Umgangs setzt dort an, wo Bewegung stattfindet. Bewegung ist ein in sich selbst gegliedertes Tun und nicht notwendig gerichtet. Bewegung kann als Energeia des Handelns, seiner Dynamis, verstanden werden. Wird ihr ein Telos beigegeben, so wird Bewegung zur Handlung. Handlung ist an Zwecken orientiert, was aber bei einer bewegenden Erkundung der Welt nicht sogleich immer der Fall zu sein braucht, ja sogar nicht immer sogleich erwünscht ist. Deshalb liegt der Erkenntnis nicht die Handlung, sondern die Bewegung selbst zugrunde – auch wenn sie dann in einem Gegenstand zu ihrem Ende kommen sollte. Diese Tatsache würde Gehlen der Behauptung entheben, die Kausalität sei eine heimliche Finalität3. Denn nicht gerichtete Bewegungsketten entbehren des Telos. Rhythmisch gegliederte Kreisprozesse des sinnlich-bewegten Umgangs könnten somit – von Zwecken entlastet – im Erlebnis entfremdeter und doch intimer Selbsttätigkeit an der Plastizität der so in das Innere des Organismus hineinwachsenden Welt mitwirken.

Um die Anfänge der Sprache im systemischen Entwurf des Menschen einzubetten, bestimmt Gehlen die Sprache grundlegend als Bewegung:

Ein tieferes Verständnis der Sprachanfänge ergibt sich nur, wenn man die Sprache genau im Zusammenhang der hier abgehandelten Leistungen betrachtet, also kurz gesagt, innerhalb des Systems Auge-Hand. […] aber man pflegt doch noch die motorische Seite zu übersehen, die die Sprache nun einmal hat. Von daher gesehen, sind Sprachäußerungen in erster Linie Bewegungen wie alle anderen, und sie sind durchaus in andere Bewegungsarten transformierbar, wovon die Taubstummenerziehung Gebrauch macht.4

Die Artikulation des Lautes ist ein Vorgang der körpereigenen Motorik, und das Leben des Lautes ist für Gehlen die erste Sprachwurzel. Ob der Körpermotorik kann der ausgestoßene Laut vom Sprecher selbst gefühlt werden. Er wird – ans Ohr des Sprechers zurückgekehrt – empfunden und kann zudem noch von Anderen beantwortet werden.

Die zweite Sprachwurzel nennt Gehlen „Offenheit“5. Es handelt sich dabei um eine Bewegungsmotivation, ein „Anplappern“6 beim Kleinkinde, eine kommunikative Bewegung bei der „Weltbegegnung“7. Da dieses Geschehen beim unspezialisierten Lebewesen Mensch geschehe, wirkten die auf ihn einströmenden Reize ebenfalls auf sein Inneres und eröffneten ihm damit auch dieses: „[…] die Selbsterschließung oder Öffnung nach außen ist Grundlage aller seelischen Regungen.“8

 

Ausdruck, eine rein menschliche Tatsache

Das Grundphänomen allen Ausdrucks ist daher die Offenheit, die Selbsterlebtheit des Inneren, das sich nur dann selbst fasst, wenn es sich zugleich als Bewegung fasst. „Ausdruck“ ist eine rein menschliche Tatsache, und man muss darin vor allem zwei wesentliche Seiten unterscheiden: eine weltoffene, bedürfnisentlastete Antriebsstruktur überschüssiger, kommunikativer Lebendigkeit; und daraus fließende Bewegungen ohne Erfolgswert, Bewegungen zurückempfundener und sich darin potenzierender Art, die selbst wieder kommunikativ sind.1

Da das Antriebsleben des Menschen durch den Hiatus dem Handlungsdruck enthoben sei, sei es weltoffen und an Inhalten orientierbar. Damit könne das Handeln in den Händen des Menschen verbleiben und ihm selbst verfügbar werden.

Deshalb kann die Wiedererkennung Gehlens dritte Sprachwurzel darstellen: „denn es ist dies ein Grundsatz des Phantasielebens, dass Erinnerungen den motorischen Ansätzen nachströmen, sich in ihren Bahnen öffnen und als Erwartung der Handlung vorgreifen.“2

Gehlen lässt Erinnerung und Erwartung auf der Bewegung fußen. Wobei ihn auch hier die Beobachtung des Kleinkindes – getreu seinem antimetaphysischen Vorsatz, nur beobachtbare Sachverhalte bei seiner Untersuchung zuzulassen – leitet. Schnell erreicht diese Idee der Bewegung nach Gehlen beim Menschen wieder den Grad der Bewegungsverfeinerung auf einem sprachlichen Niveau namens Lautbewegung:

Auch beim Menschen bleibt das Wiedererkennen grundsätzlich in solchen motorischen Bahnen. Aber man bemerkt sehr bald: die Reaktion ist nicht mehr eine solche des ganzen Leibes, sondern sie tritt unter Führung der Lautbewegungen. Das ist ein sehr folgenreiches und rein menschliches, wieder typisches Entlastungserlebnis, das genau zu betrachten ist.3

Systemisch ist bei Gehlen ein für den Menschen typisches Erlebnis das Entlastungserlebnis. Lautbewegungen sind dabei die erfolgreichsten einer ganzen Reihe von Leistungen, welche das Lebewesen Mensch vom Jetzt entlasten. Zudem stecke im bloßen Bennen auch schon ein Erledigen, worin die Grundlage zur Theorie verborgen liege: „In der Sprache ist eine Aktivität möglich, die in der faktischen Dingwelt nichts verändert. Das ist die Bedingung aller Theorie.“ 4

Motorische Reaktionen entlastender Reaktion spitzten sich in der Sprache zu, und die dort via Assoziation von Eindruck und Laut, dem Zusammenspiel von Auge und Ohr, entstandenen Worte erlaubten es dem Lebewesen Mensch, sich mit Hilfe dieser auf Gegenstände zu richten, erlaubten ihm die Intention5. Verläuft dieses Sich-Richten nun in der Sprachbewegung, so erkennt Gehlen darin, die „vitale Basis des Gedankens“6.

Im Spiel erlerne das Kind „die Mannigfaltigkeit und Plastizität des eigenen Bewegungskönnens“7. Das besondere Telos des Spiels besteht für Gehlen in der Entwicklung und Bewusstwerdung sowie dem lustvollen Erleben der Phantasieinteressen, die mit Können gepaart der Weltbewältigung dienen. Das Kind übe sich dabei außerdem noch in das Spiel der Rollen und den Rollenwechsel ein. Von hier aus sei es dann nur noch ein kleiner Schritt, um in den Ernst des Lebens einzutreten, dann nämlich, wenn aus der regelgeleiteten Selbstverpflichtung im Spiel die gegenseitige Verpflichtung im Ernste werde. Damit erreichen wir den Charakterzug des Rufes, der vierten Sprachwurzel8. Im Ruf beobachteten wir den elementaren Fall einer „Ausgliederung und Präzisierung eines Bedürfniszuges in seiner Orientierung an einer äußeren Erfüllung unter Führung des Rufes, in dem das Bedürfnis sich als Aktion durchsetzt und somit selbst erfasst.“9

Im Ruf geschehe eine grundsätzliche Orientierung von Bedürfnissen. Dabei beziehe sich der Ruf auf ein Außen, sei es eine Situation oder ein Gegenstand. Es sei eine „allein menschliche Aufgabe“10, seine Bedürfnisse zu orientieren, zu ordnen, zurückzuhalten, mit ihnen umzugehen. Dem Tier sei diese Stellungnahme sich selbst gegenüber verwehrt, da es dem Mechanismus seiner Instinkte und seiner Motorik ausgeliefert sei. Die Sprache biete dem Menschen eine Art Zwischenwelt11, zwischen der Welt und ihm selbst, in dem sein Handeln keine unmittelbaren Konsequenzen zeitige, und er seine Auseinandersetzung mit der Welt erproben könne.

Es ist nicht mehr so, dass die Unruhe des Bedürfnisses den Laut bloß hervortreibt, sondern dass sie im Laut die Erfüllung erwartet, also sich selbst gefasst hat.12

Gehlen nimmt an, dass der Ruf anderen sprachlichen Formen, wie zum Beispiel der Mitteilung, vorausgeht und in ihr als eine Art von Behauptung, trotzigem Aushalten und Entgegenhalten noch immer spürbar bleibe. Selbst also im Sprachlaut als Ruf erlebt der Autor die Anstrengung, die Not des Menschen, sich in der Welt erhalten zu müssen, wenn er schreibt:

Von dieser vierten Wurzel der Sprache her bleibt in ihr für immer etwas von ‚Durchsetzung‘ erhalten, von Ansteckung oder Befehl, selbst in späteren reinen Mitteilungen. Die rein theoretische, in Form des Urteils sich befestigende Sprachverwendung ist eine sehr späte und Ausnahmeerscheinung.13

Andere lautliche und strukturelle Sprachelemente wie Tonfall, Rhythmus, Melodie etc. scheinen demnach nötig, um bei den Abschattungen der sprachlichen Äußerung die notwendigen Unterschiede bzw. unterstützende expressive Hilfestellungen geben zu können, damit Ansteckungs-, Anrede-, Aufforderungs-, Befehls-, Versprechens- oder Mitteilungsabsicht unterscheidbar werden. Verlängert man diesen Gedanken bis zur Funktion der Kopula, so wäre bei ihr, etwa bei einer Mitteilung, man befinde sich in der Gegenwart eines Dinges, noch immer jener Anteil einer Durchsetzung mitzudenken, von der Gehlen spricht. Die Aussage, dass etwas sei, ließe den Anteil an Behauptung und Willen erahnen, einen Gegenstand ins Sein zu rufen, ins Sein hinein durchsetzen zu wollen, ihn ins Sein zu befehlen oder ihm Sein anzubefehlen. In jedem Fall aber handelte es sich dabei um ein Ansinnen, um einen Versuch zur Durchsetzung einer Seins-Behauptung. Die Kopula läge auf halbem Wege zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Gegenstandsobjekt. Wohl handelte es sich dabei noch um keine Bewegung, um kein wirkliches Verbum, aber auch schon nicht mehr um einen reinen, im Inneren als Wort verborgenen Gedanken mehr. Die Bedeutung der Kopula wäre die einer (Willens-) Bewegung im Stillstand: Das In-die-Gegenwart-Rufen eines dauerhaften Seins, die Behauptung eines Dauerns eines Gegenstandes im Sein. Mit der Kopula hielten sich subjektives Tun – Expressivität im Ruf – und objektive Gegenwart eines Gegenstandes in der Aussage die Waage.

Wenn bestimmte Bewegungszusammenhänge eine expressiv-motorische ‚Begleitmusik‘ haben, so scheint es ein rein sinnesphysiologisches Gestaltgesetz zu sein, dass der Präzisierung von Handlungs- und Wahrnehmungsfolgen eine ebensolche Präzisierung der lautmotorischen ‚Begleitmusik‘ zugeordnet ist. Wenn man so annimmt, daß bestimmte Tätigkeiten eine zunächst affektive Lautbegleitung mitbestimmen, so haben wir einen Schlüssel für die selbsterfunden ‚Worte‘, mit denen Kinder ihre Aktionen begleiten. […] also einfache eine mitpräzisierte Lautbegleitung zu einer Aktionsgestalt. In diesem Sinne verwende ich hier das Wort ‚Lautgeste‘.14

Die Lautgeste ist nach Gehlen die fünfte und letzte Sprachwurzel, und er verweist dabei auf eine Schrift Ludwig Noirés von 1877: „Der Ursprung der Sprache“, in der die These vertreten wird, dass der Sprachlaut seinen Ursprung in der Gemeinschaft der Menschengruppe besitzt: „Der Sprachlaut ist also in seiner Entstehung der die gemeinsame Tätigkeit begleitende Ausdruck des erhöhten Gemeingefühls.“15 Hier findet man wiederum ein Hinweis auf eine Art von Ruf in Form eines Singsanges, welcher – sozusagen – das Gemeingefühl herbeiruft. Es handelt sich um einen weiteren Hinweis auf eine Art Urform des Satzes in Gestalt des Rufes, der ob der spezifischen sozialen Situation als Gesang sich kundgibt.

Das es einen Situationswert des Lautes gibt, ist ganz außerordentlich wichtig. Die Sprache würde nie zum Satz, als einem Kompositum von Einzelbeziehungen zur Gesamtheit einer Situationsbezeichnung kommen, wenn nicht an der Wurzel der Sprache schon Situations- und Aktionsbewältigung lägen.16

Mit dem Agens und der Actio verbinden sich zwei Worte zu einem Satz – ein erkenntnistheoretisch enorm wichtiger Schritt. Bleibe das Wort im „Sich-richten“17 auf einen Gegenstand noch im Inneren – dem Ursprungsort des Gedankens – des Sprechenden verschlossen, so werde das Verbum aus „der menschlichen Handlungswelt in Vollzugsphantasmen“18 entbunden. Deshalb auch sei es höchst subjektiv. Das Verbum sei kein rein sprachliches Phänomen, sondern Frucht der „kommunikativen Bewegungen“19. Trete der Mensch mit den Dingen in Beziehung, objektivierten sich die Bewegungen im entfremdeten Selbstgefühl. „Diese für unser gesamtes Verhalten entscheidende Tatsache fasst auf dem Gebiet der Sprache das Verbum oder der prädikative Satz nochmals in sich zusammen.“20

Die Dramatik des Satzgeschehens verlebendige das Geschehen in der Welt. Drama sei dementsprechend auch der richtige Begriff für die Bezeichnung der Zusammenhänge im Verbalsatz.

So ist es der im lautenden Worte liegende Rollenwechsel zwischen Zustand und Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt, der beim Wechsel der Hinsichten die Dinge ihre eigenen Zusammenhänge sich aussprechen lässt, […] dieser Wechsel läuft über die Sache und schlägt sich als deren eigene Dramatik und Lebendigkeit nieder.21

Das Schwungrad des Gedankens

Das Sein gehe mit dem „energischen Prädicate“1 in ein Handeln über – zitiert Gehlen Humboldt –, und es werde so „zum Zustande oder Vorgange in der Wirklichkeit“2. Zwischen Wort und Sache jedoch bestehe ein ontologisches Missverhältnis: ein schnell verklingender Gegenstand treffe auf ein dauerndes Sein. Das im Satz gefesselte Sein löse sich sogleich wieder auf und müsse von der Intention immer wieder erneut verknüpft werden. Dabei liege die Wortbedeutung, der Begriff, „allein in der Ebene der Sprache, nicht über oder hinter der Welt“3. Dennoch ergebe sich ein ähnliches Missverhältnis wie zwischen Sein und Wort auch zwischen Wort und Gedanke, welcher „von Ursprung chaotisch, […] gezwungen [ist], sich zu präzisieren, indem er sich auseinanderlegt“4. Dabei komme ihm die Materialität des Wortes als ein flüchtiger Hauch beim Streben nach Exaktheit und Vollständigkeit entgegen und bringe den Gedanken zum Schwingen:

So kommt dem Gedanken die Materialdünne und Flüchtigkeit des Lautes unvergleichlich entgegen, aber auch die Rhythmik der Laute, die Möglichkeit fortfließender Zusammenhänge, zerlegbarer Klangmassen sind, als ‚Schwungrad des Gedankens‘ von einzigartiger Zweckmäßigkeit.5

Doch nicht die Materialität des Wortes allein halte das Schwungrad des Gedankens in Bewegung, sondern auch die Tatsache, dass das Wort ein motorisches Geschehen, eine „wirkliche Aktion“6 sei, welche zurückempfunden werde und zu neuer Artikulation reize – ein Zusammenhang zwischen Hand und Sprache, zwischen „Lauten mit – stets kommunikativen – Bewegungen“7, der wohl auch in sehr alten Sprachschichten noch aufzufinden sei. Allerdings entfalle in der Sprache das Sich-Richten auf den Gegenstand selbst, denn in ihr endeten „Intention und Handlung“8 im Wort selbst „unmittelbar ‚ineinandergeschoben‘“9. Die Sprache entlaste den Organismus vom tatsächlichen Sich-Ausrichten auf einen gemeinten Gegenstand und mache diesen in ihr selbst verfügbar. Die Tatsache, dass sie in einem Symbol – dem Wort – den Gegenstand ersetze, und es somit erlaube, diesen in ihm selbst als gegenwärtig zu erleben, ermögliche es dem Menschen, die reine Gegenwart zu überschreiten.

Die immer schon angelegte Entlastung vom Druck der gerade so beschaffenen Gegenwart wird durch die Sprache zur Sprengung der Gegenwart überhaupt. Der Mensch wird vorstellendes Wesen in beliebig ‚vergegenwärtigten‘ Welten, und Zeit und Raum, Zukunft und Ferne tun sich um ihn auf.10

Zugleich mit der Sphäre der Vorstellung vermittele und präzisiere er mit Hilfe der Sprache seine vergegenwärtigten Welten, rückten Innen- und Außenwelt zueinander auf eine Ebene. Das meint der Begriff der Vermittlung: Verlautbarung der Welt und des Inneren im Wort, Verlautbarung der „äußeren Innenwelt“11 und der „inneren Außenwelt“12 sowie ihre Verfügbarmachung mittels der Sprache und der daran geketteten Vorstellungen.

 

Die in der Sprache vollendete Aufschließung des Inneren, die Herauswendung desselben nach außen, ist im Kern derselbe Vorgang, wie die Besetzung dieses Inneren mit äußeren Eindrücken – Erinnerung. […] Dieses Hineinwachsen der Welt in uns ist nun in erster Linie ein Werk der Sprache.13

Dies sei jedoch nicht nur allein ein Werk der Sprache. Die Tatsache, dass die Vermittlung dem Menschen als Lebewesen gelinge, sei „anthropologisch kategorial“14 und basiere auf der Idee, dass der Mensch die Außenwelt – belebte wie unbelebte – als grundsätzlich „‚ausdrucksvoll‘“15 auffasse. Erst die Stellungnahme seinerseits, das entfremdete Erlebnis, verändere die Natur dieser Art des spontanen Verstehens. Nur eine ausdrucksvolle Außenwelt könne, vermittelt durch kommunikative Bewegung, welche sich in der Sprache in hervorragender Weise manifestiere, in ihm einen Ausdruck hervorrufen.

Wir fassen das Lebendige als beseelt, als äußere Innenwelt auf, weil wir uns selbst nach außen, uns ausdrückend, öffnen, und so entäußern wir uns im Innenverhältnis selber, wir sozialisieren uns. In dieser Sphäre realisiert sich Geist.16

Gehlen referiert an dieser Stelle auf H. Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch und auf G. H. Meads Mind, Self and Society und unterstreicht damit die Zentralität dieses Punktes mit Beiträgen aus ganz verschiedenen Richtungen der anthropologischen Philosophie.

In den noch verbleibenden Kapiteln des zweiten Teils von Der Mensch baut Gehlen seine Sprachtheorie hinsichtlich des Sprachursprunges und der Sprachentwicklung aus. Getreu seiner Auffassung von der Verfasstheit des Menschen ist ihm die Sprache ein ursprünglicher Bestandteil von ihm, und er meint folgerichtig, dass Kinder auch ohne die Führung von Erwachsenen, „allerdings nur in Kommunikation miteinander, zur Sprache finden würden, also die Vermutung der Ursprünglichkeit der Sprache, die mit dem Wesen des Menschen mitgegeben ist“17 somit bestätigt würde.

„Höhere Sprachentwicklung“18 bedeutet für ihn, eine weitere Situationsentlastung der Sprache und ein Fortschreiten des Abstraktionsgrades der Aussage, mit der Folge, dass bei Abnahme der Situationsgebundenheit der Sprache eine Zunahme der inneren Bezüge – wie zum Beispiel der Ausbau der Wortformen und Syntax – zu beobachten sei: über den Ruf, der deiktischen Bezugnahme, der Aussage im Verbalsatz, hin zu den Erinnerungsform der Erzählung bis schließlich zum Urteil und dem abstrakten Denken mit der Gefahr des „Abstrakt“19-Werdens und dem damit einhergehenden Flexibilitätsverlust von ganzen Sprachen.

Das Kraftfeld der Sprache ist ursprünglich ohne Zweifel das Jetzt der vorliegenden Situation. Aber erst in der Entlastung davon lernt die Sprache, sich in sich selbst zu bewegen, und damit dringt der Mechanismus der Assoziationen, der äußerlichen Angleichungen und Analogiebildungen, des bloßen Verständnisses von Formeln in dem Grade in sie ein, wie sie an hinweisender Suggestion, an Affektwert und an Bild- und Gefühlsgehalt verliert.20

Laute und die Bewegung der Gedanken wie die damit verbundene Aufschließung der Welt vermehrten und konzentrierten den Gehalt der „Phantasmen“21, die in ihnen dargestellt seien. In verdichteter Form, den Symbolen, werde die Welt anschaulich und übersichtlich. Die Lautgestalten, Gehlen nennt sie „Lautphantasmen“22, und die dazugehörigen Bilder der Sache bergen für ihn eine metaphorische Gestalt:

In der Tat ist die Sprache durch und durch Metapher, einfach deswegen, weil sie eben nicht die Gegenstände selbst enthält, sondern sie ‚im Widerscheine ausdrückt‘ (Goethe). Die Metapher im engeren Sinne, der eigentlich phantasievolle Sprachgebrauch, entwickelt nur diese Möglichkeit, A für B zu nehmen.23

Deshalb scheint Gehlen auch die etymologische Forschung so ungemein aufschlussreich, denn mit ihr lasse sich die Arbeit der Metapher erschließen und auf die „Urphantasmen“24 einer Sprache zurückblicken. So nennt er mit dem Beispiel „hoffen“ die ältere Bedeutungsschicht von „Zuflucht nehmen“25 und vermutet dahinter wiederum eine ältere Urbedeutung von „sich zurückbewegen“26. Dann schließt er auf ein „ursprüngliches Gestaltphantasma sich krümmen, sich niederbücken“27. In dieser Grundgestalt zeige sich das prägnante Phantasma, jene Hinsicht, unter welcher das Wort seine Beziehung zum Gegenstand noch vor der Scheidung zwischen Bild- und Bewegungsphantasmen bzw. Nomen und Verbum ursprünglich aufgenommen habe.

Sie sind durchaus schöpferische Leistungen, denn offensichtlich ist der Akt der Benennung eines Vorgangs oder eines Dinges zugleich die Auswahl einer Hinsicht, welche von der Phantasie als wesentlich im Worte festgehalten wird, und eben diese ‚Abstraktheit‘ des Phantasmas gestattet nun, dasselbe an andere Vorgänge heranzutragen und diese unter der gleichen Hinsicht aufzufassen. Das ist der eigentlich metaphorische Vorgang engeren Sinnes.28

Unterschiedliche Sprachen besäßen unterschiedliche Formen der Hinsichten auf ihre Gegenstände, was Übersetzungen erleichtern oder auch enorm erschweren könne, und die Übersetzbarkeit grundsätzlich in enge Schranken verweisen würde.

Jede Sprache ist nur insofern in jede andere übersetzbar, als sie das ‚Was‘, von dem die Rede ist, übertragen kann, aber nicht in der ursprünglichen Weise, wie sich die Sprachphantasie dieses Sachverhalts bemächtigt.29

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