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Z serii: Orbis Romanicus #14
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Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt1
Die Erklärung des Menschen

1940 erscheint Arnold Gehlens Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Es wurde vom Autor selbst 1950 grundlegend umgearbeitet. Die Ausgabe, mit welcher hier gearbeitet wurde, erschien zuerst 1986 und war eine Wiederaufnahme des Buches, welches der Aula-Verlag 1976 im Rahmen einer dreibändigen Studienausgabe mit Moral und Hypermoral sowie Urmensch und Spätkultur aus Anlass des zehnten Todesjahres des Autors herausgegeben hat.

Im Unterschied zu Plessners Versuch einer Ontologie des Lebendigen, handelt Gehlens Der Mensch von der „Sonderstellung des Menschen im Bereiche des Lebens“1. Gehlen vermeint dem Menschen ob dieser Sonderstellung eine gewisse ontologische Dignität zusprechen zu können2, doch gewinnt er grundsätzlich sein Programm ausgehend von Herders Schrift der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772)3. Er schreibt:

Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit.4

Gehlen bezieht sich dabei auf folgende Stelle der Herderschen Schrift: „Der Unterschied ist nicht in Stufen, oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswicklung aller Kräfte“5, worin das Menschliche zu finden sei.

Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennden und wollenden Natur; oder vielmehr – es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird, die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird.6

Die ganze Haushaltung des Menschen wird in Anschlag gebracht und die Entwicklung des Menschen im Vergleich mit dem Tier nicht aufbauend in der Metapher der Stufen gedacht. Denn bei Herder heißt es, dass „die Menschengattung über den Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art.“7 Ziel also seiner Untersuchung wird sein, das Herdersche Programm auszuarbeiten und unter Zuhilfenahme modernster Forschungen zu fundieren. Die in der Schrift Der Mensch vorausgesetzte Hypothese heißt demnach: „im Menschen liegt ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur vor.“8

Gehlen wird nach den „Existenzbedingungen“9 eben dieses Menschenbildes fragen und einen in der Physis des Menschen angelegten Plan systematisch entwickeln, welcher allumfassend von den biologischen Grundtatsachen bis hin zu Kunst und Kultur alle Gegebenheiten der Menschenwelt umfasst und erklärbar werden lässt.

Wir wollen also ein System einleuchtender, wechselseitiger Bedingungen aller wesentlichen Merkmale des Menschen herstellen, vom aufrechten Gang bis zur Moral, sozusagen, denn alle diese Merkmale bilden ein System, in dem sie sich gegenseitig voraussetzen: ein Fehler, eine Abweichung an einer Stelle würde das Ganze lebensunfähig machen.10

Für die Erklärung des Phänomens Mensch gibt es bei Gehlen also kein ideales Geschehen wie in der Applikation des homo-faber-Gedankens bei Paul Alsberg noch eine metaphysische Bewandtnis wie bei Scheler oder gar ein geistig-ontologisches Prinzip wie das der gegensinnigen Grenzdynamik bei Plessner. Gehlens Untersuchungsrichtung besitzt eine antimetaphysische Stoßrichtung, und er bedient sich grundsätzlich beobachtbarer Sachverhalte und pragmatischer Wissenschaftsprinzipien. Er entschlägt sich ebenfalls des Begriffs der „Ursache“11, welcher zur experimentellen Wissenschaft gehöre, und beruft sich auf eine aristotelische Wissenschaftsanalyse aus der Nikomachischen Ethik12. Er erklärt, dass das Ursachendenken dem Sachverhalt der „‚Ganzheit‘ des Menschen“13 nicht adäquat sei. Hinsichtlich der von ihm aufgeworfenen biologischen Fragestellung sei es jedoch richtig zu sagen:

daß man auf den Zusammenhang von Bedingungen abhebt. Man formuliert also: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw. Läuft diese Reihe in sich zurück – ohne N kein A -, so ist ein totales Verständnis des betrachteten Systems gelungen, ohne dass irgendwo die Metaphysik einer einzelnen Ursache Platz hätte.14

Zur Aufklärung der zu betrachtenden Sachverhalte schlägt Gehlen also ein systemisches Denken vor, welches die Plausibilität der Phänomene in einer Art Dialektik sich gegenseitig ableitender Bedingungen innerhalb eines begrenzten Ganzen beschreibt. Das systemische Denken, welches gegenseitig sich beeinflussende Bedingungen zur Erklärung von Veränderung, sei es Wachstum oder anderer Art, heranzieht, bedient sich einer Dialektik, welche den Bedingungen selbst Rollen zuweisen muss. Dies vollzieht Gehlen zum Beispiel bei dem Begriffspaar von Mittel und Zweck. Sie können ihre Rollen im Geschehen tauschen, um auf diese Weise komplexe Mittel-Zweck-Reihen hervorzubringen15. Damit erläutert Gehlen den systemischen Aufbau wie auch zum Beispiel einen Begriff wie den der „sekundären objektiven Zweckmäßigkeit“16. Der Erfolg der Erklärung wird rückwirkend für die Wahrheit des Gedankens in Anspruch genommen – wie auch bei den entsprechenden Gedankengängen Plessners.

Als Grundlage für die These der morphologischen Sonderstellung des Menschen beruft sich Gehlen auf den zur Zeit der ersten Veröffentlichung des Werkes aktuellen Stand der Forschung und konstatiert dem Menschen einen „durchgehenden Mangel an hochspezialisierten, d.h. umweltspezifisch angepaßten Organen, und dieses wären die von außen sichtbaren Bedingungen eines handelnden und weltoffenen, also auf sich selbst gestellten Wesens.“17

Gehlen schließt sich den Forschungen des holländischen Anatomen Louis Bolk an, welcher die ganz „untierische Unspezialisiertheit des Menschen“18, sein „Organprimitivismus“19 in seiner These der „Entwicklungshemmung der Spezies Mensch geliefert“20 habe. Die Eigenschaften des menschlichen Organprimitivismus seien demnach:

Alle diese Eigenschaften sind Primitivismen in einem sehr besonderen Sinn: permanent gewordene fötale Zustände oder Verhältnisse, […] „Formeigenschaften oder Formverhältnisse, welche beim Fötus der übrigen Primaten vorübergehend sind, sind beim Menschen stabilisiert“.21

Die Retardationstheorie Bolks findet auch in der Ontogenese des Menschen ihr Gegenüber, z.B. gebe es kein Tier, welches mit den Verlangsamungsschüben bei seiner Entwicklung rechnen könne, wie etwa mit einem extrauterinen Frühjahr nach Adolf Portmann22, einer lang ausgedehnten Kindheit bis zum Wachstumsschub der Pubertät, dem Nachlassen der Retardation etc. Diese Charakteristik des menschlichen Wachstums verlange auf der anderen Seite eine soziale Reaktion, welche in der Stabilisierung der Familie und der ausgesprochen langen Pflege der Kinder sowie deren verzögerter Auseinandersetzung mit der Welt sozial und kulturell beantwortet werde. Aus der Bolkschen Analyse leitet sich denn auch die Aufrichtung des Menschen folgerichtig aus den Formverhältnissen ab: „‚Nicht weil der Körper sich aufrichtete, wurde die Menschwerdung vorbereitet, sondern weil die Form sich vermenschlichte, richtete der Körper sich auf.‘“23

Dann schließlich münden diese Betrachtungen für Gehlen in die Begründung der Sonderstellung des Menschen, wenn er sagt:

Einmal wäre die enorme Gehirnentwicklung des Menschen und die vielleicht damit zusammenhängende Umkonstruktion der gesamten Physis in der Richtung auf ‚Embryonalisierung‘ und ‚Primitivität‘ keineswegs eine Folge des ‚Kampfes ums Dasein‘, nicht das Resultat eines Auslesevorgangs, sondern durch direkte innere Ursachen provoziert. Diese Umstimmung wäre beim Menschen im Gegenteil so radikal, dass sie ihn aus allen ‚natürlichen‘ Lebensbedingungen hinauswarf und auf die sonst nicht vorhandene und neuartige Lebensführung hinwies.24

Der Mensch, das natürliche Kulturwesen

Wenn die Morphologie des Menschen diesen in einer Art „konstitutionellen Fötalisation“1 halte, ihn somit organisch in der Unreife verharren lässt, ihn zudem noch aufrichte – eine höchst gefährliche Position –, dann müsse der Mensch, um sich im Leben zu halten, tätig auf diese Herausforderungen antworten. Er tut dies nach Gehlen als ein handelndes Wesen, das sich und seine Welt tätig umarbeitet und deshalb als natürliches Kulturwesen zu bestimmen sei.

Wenn der Mensch, wie hier vertreten wird, ‚von Natur ein Kulturwesen‘ ist, so mag das bedeuten: der Naturkonstruktion eines unspezialisierten, auf die Handlung bezogenen und nicht festgestellten Wesens kann irgendeine besondere Entwicklungsgesetzlichkeit zugrunde liegen, wie Retardation, Proterogenese o.ä. Jedoch so, dass die gesamte innere Organisation auf das Verhalten bezogen wurde, von welchem ja die Existenz desselben abhing, auf die Tätigkeit der Weltveränderung.2

Letztlich also wäre die organische Unspezialisiertheit des Menschen verantwortlich dafür, dass er nicht wie ein Tier in einer bestimmten Umwelt reaktiv befangen ist, sondern Welt hat. Zudem bedeutet diese Unspezialisiertheit auch, dass seine Bewegungsabläufe höchst variabel, ihm das Handeln wie die Selbstvermerklichkeit des Handelns und des Behandelt-Werdens ermöglichen. Auf der anderen Seite nötigt die Unspezialisiertheit den Menschen zur Tat, damit er sich überhaupt in der Welt halten kann.

Die Tatsache der organischen Unspezialisiertheit ziehe also entsprechend eine Reduktion der Instinktanlagen beim Menschen nach sich und löse ihn somit aus der unmittelbaren Reaktivität auf Signale aus der Umwelt aus. Andererseits bestehe nun die Aufgabe, den nicht mehr instinktiv zu beantwortenden, jetzt zu Reizen bzw. zu Wahrnehmungen mutierten Signalen zu entsprechen. Nach Gehlen erlebt ein solches unspezialisiertes Lebewesen eine Reizüberflutung aus der Außenwelt und muss versuchen, diese in eine gewisse Ordnung zu bringen. Die ihres Auslösecharakters verlustig gegangenen, zu Reiz und Wahrnehmung mutierten Signale verlangten notwendig nach Ordnung, nach Auslegung dieser nun zu Dingen gewordenen Inhalte der Außenwelt. Sie hervorzubringen sei einem solchen Lebewesen auch prinzipiell möglich, da auch seine Triebstruktur aus dem Automatismus: Reiz-Reaktion herausgelöst worden sei. Gehlen bezeichnet diesen Bruch mit dem Begriff des Hiatus:

 

Es ist nun dieselbe Instinktreduktion, die auf der einen Seite den direkten Automatismus abbaut, der bei genügendem inneren Reizspiegel, wenn der zugeordnete Auslöser aufscheint, die angeborene Reaktion enthemmt, und auf der anderen Seite ein neues, vom Instinktdruck entlastetes System von Verhaltensweisen in Freiheit setzt. Dies ist jenes eben erwähnte System, in dem Wahrnehmungen, Sprache, Denken und variable, nicht angeborene, sondern erlernbare Handlungsfiguren auf die Variationen der Außendinge, auf die Variationen des Verhaltens anderer Menschen und, besonders bedeutungsvoll, sogar aufeinander reagieren können. Anders ausgedrückt: es besteht eine weitgehende Unabhängigkeit der Handlungen sowie des wahrnehmenden und denkenden Bewußtseins von den eigenen elementaren Bedürfnissen und Antrieben oder die Fähigkeit, beide Seiten sozusagen ‚auszuhängen‘ oder einen ‚Hiatus‘ freizulegen.3

Die Mechanik des Hiatus sei die Basis für das Erscheinen eines Innenlebens und einer Außenwelt. Eine Differenz, welche bei Lebewesen, die nicht über ein Aushängen des Reiz- Reaktionsmechanismus verfügen, nicht entstehen könne. Zudem erlaube nun diese Differenz die Suspension der Antriebe, die Variation des Verhaltens und sei zudem die vitale Basis des Phänomens Seele:

Diese Fähigkeit, die Antriebe ‚bei sich zu behalten‘, das einsichtige Verhalten unabhängig von ihnen zu variieren, legt überhaupt ein ‚Inneres‘ erst bloß, und dieser Hiatus ist, genau gesehen, die vitale Basis des Phänomens Seele.4

Schon beim kleinsten, hilflosen Kinde bedinge die Bewegungs- und Handlungsunfähigkeit die Totalhemmungen beim Ausleben der Bedürfnisse, staue diese, und mache sie so selbstvermerklich fühlbar. In weiterer Folge sei es notwendig, diese noch unbestimmten Erlebnisse zu ordnen, zu orientieren und zu gestalten. Dies geschehe mit Hilfe der Prägung jener in Bildern:

Wenn so die elementaren Bedürfnisse nicht an feste Auslöser angepaßt sind, […] so versteht sich eben daraus die Notwendigkeit, sie an der Erfahrung zu orientieren, sie in ihrer zunächst gestaltlosen Offenheit zu ‚prägen‘ oder mit Bildern zu besetzen. Die Hemmbarkeit des Antriebslebens, seine Besetzbarkeit mit Bildern und die ‚Verschiebbarkeit‘ oder Plastizität sind also Seiten desselben Tatbestandes, und in gewöhnlicher Rede nennen wir ‚Seele‘ zunächst die Schicht der in Bildern und Vorstellungen sich meldenden Antriebe, bewußten Bedürfnisse und orientierten Interessen.5

Der Mensch, das stellungnehmende Wesen

Eine derartige Konstitution und Ausstattung, die das Lebewesen Mensch der Welt und sich selbst nun in Stellung ihm selbst gegenüber bringe, zwinge ihn geradezu zur Stellungnahme, seinem Zweck entsprechend, sich in der Welt zu halten. Der Mensch ist für Gehlen das „stellungnehmende Wesen“1. Ordnung und Orientierung in der Welt seien ihm ob seiner Konstitution auferlegt, zugleich aber auch – will er sich denn in der Welt behaupten – Ordnung, Orientierung sich selbst gegenüber. Die so beschriebene Umorientierung des Organismus des Lebewesens Mensch verändere jedoch nicht grundsätzlich seine organische Struktur als organische, weshalb Gehlen von Antriebsüberschuss und der Notwendigkeit von Führung sprechen muss:

Der konstitutionelle Antriebsüberschuss dagegen kann wohl nur als die Innenseite eines nicht spezialisierten Wesens von organischer Mittellosigkeit begriffen werden, das einem chronischen Druck innerer und äußerer Aufgaben ausgesetzt ist.2

Dieser Antriebsüberschuss leite sich jedoch nicht allein aus der physischen Konstitution des Menschen ab, sondern werde darüber hinaus untermauert durch seine „abnorm verlängerte Entwicklungszeit“3, der langen unfertigen Motorik sowie der erst spät fertigen Sexualität. Es ist nun, nach Gehlen, genau dieser aufgebaute Antriebsüberschuss, welcher für den Aufbau des Menschen verantwortlich zeichne:

Es ist eine großartige Teleologie, wie dieser Antriebsüberschuß so lange in ‚unbelasteten‘, spielerischen und unstabilen Betätigungen untergebracht wird, und dies sind genau die, in denen der Mensch die ganze Aufbauleistung des kommunikativen, begierdelosen, aber unspezifisch ‚getriebenen‘ Umgangs mit der Welt und seinem eigenen Können in der tätigen Bewältigung der Reizoffenheit erwirbt […] Der Antriebsüberschuss ist daher ein ‚apriori‘, und er stellt den Menschen von vornherein vor einen Verarbeitungszwang.4

Die Institutionen

Als instinktreduziertes Wesen sei der Mensch weltoffen und als ein nicht festgestelltes besitze er ein plastisches aber auch instabiles Innenleben, welches der Orientierung bedürfe. Das stelle ihn vor die Aufgabe, langfristige Strategien zu entwerfen, um sich in der Welt zu halten, und zwar nicht als Einzelwesen, sondern als Gruppe. Nach Gehlen beantwortet der Mensch diese Aufgabe mit der Erschaffung der Institutionen:

So fragen, heißt das Problem der Institutionen stellen. Man kann geradezu sagen, wie die tierischen Gruppen und Symbiosen durch Auslöser und durch Instinktbewegungen zusammengehalten werden, so die menschlichen durch Institutionen und die darin erst ‚sich feststellenden‘ quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns, die allein als institutionell gefaßt sich vereinseitigen, habitualisieren und stabilisieren.1

Sensomotorische Variabilität, welche sich bis in die Sprache hinein fortschreibe, plastisches Innenleben und Aushängen des Instinktverhaltens, aber auch der Druck auf die andrängende Welt und auf die Vorsorge zum Dasein zu reagieren, erzeugten im Menschen die Situation zur Selbstkontrolle. Zucht und Askese ermöglichten es dem Menschen, langfristig auf die Herausforderungen des Daseins zu antworten. Er tue dies, indem er aktiv auf seine natürlichen Lebensbedingungen Einfluss nehme, und zwar nicht nur auf die äußeren, sondern auch diejenigen, die sich in seinem Innenleben ergäben. Mit der Kultur erschaffe sich der Mensch seine eigene Form des Daseins:

Der Mensch kann das alles, weil er durch planende und voraussehende Veränderung sich aus ganz beliebigen vorgefundenen Umständen seine Kultursphäre schafft, die bei ihm also an Stelle der Umwelt steht, und die nun allerdings zu den natürlichen Lebensbedingungen dieses unspezialisierten und organisch mittellosen Wesens gehört. ‚Kultur‘ ist daher ein anthropo-biologischer Begriff, der Mensch von Natur ein Kulturwesen. […] Kultur ist also in erster Annäherung der Inbegriff der Sachmittel und Vorstellungsmittel, der Sach- und Denktechniken, einschließlich der Institutionen, mittels deren eine bestimmte Gesellschaft ‚sich hält‘, in zweiter Annäherung der Inbegriff aller darauf fundierten Folgeinstitutionen.2

Kultur als des Menschen eigene Daseinsform

Wir kennen den Menschen nur als Kulturwesen1. Als ein solches Wesen interpretiere er die Welt. Er könne nicht anders. Kultur als Antwort auf die Aufgabe der Daseinsbewältigung nehme Wahrnehmbares und Nichtwahrnehmbares auf, und das menschliche Verhalten beziehe sich immer auf beides. Der Mensch sei mitunter das einzige Lebewesen, welches somit eine Vorstellung vom Nichts, zumindest als eines seine Gegenwart Überschreitendes oder in Gestalt des negativen Horizontes besitze. Er sei das einzige Lebewesen, in dessen Welt man notwendig und entbunden mit dem Nichts zu rechnen habe. Alle seine Leistungen, seien es sensomotorische oder intellektuelle, dienen nach Gehlen dem alleinigen Zweck der Selbsterhaltung des Menschen im Dasein. Sie seien grundsätzlich Vollzüge der Entlastung vom existenziellen Druck – dem inneren Druck der Antriebe oder dem äußeren Druck der auf ihn eindringenden Welt. Seine Bemühungen mündeten in der Erschaffung einer ihm mehr oder weniger adäquaten Welt in Gestalt von Institutionen aller Art und als Kultur.

Wahrnehmung, Bewegung, Sprache

„Wahrnehmung, Bewegung, Sprache“1, die Begriffsreihe des Teil II von Der Mensch bezeichnet die Folge eines Aufstiegs, an deren Spitze die Sprache steht. Gehlen entwirft einen systemischen Zusammenhang, der die Sprache bruchlos in die sensomotorischen Leistungen des Lebewesen Mensch einbaut und mit ihr die Geburt des Gedankens, des menschlichen Bewusstseins wie zudem die Entstehung des Geistes darlegt.

Wahrnehmung erwächst nach Gehlen aus dem tätigen Umgang des Lebewesens mit seiner Umwelt. Auf dieser Behauptung fußt dann ebenfalls der Primat des Tuns, des Pragmas über das Theoretizein. Tätigkeit setze Bewegung voraus und folgerichtig zeichnet für Gehlen den Menschen eine „ganz untierische Fülle von Bewegungsmöglichkeiten [aus]. Die uns möglichen willkürlichen Bewegungskombinationen sind buchstäblich nicht erschöpfbar, die Feinfühligkeit der Zuordnungen unbegrenzt.“2

Dem unspezialisierten Tier Mensch, der sich einer überraschenden Flut von vielfältigen Sinneseindrücken ausgesetzt sehe, sei das Privileg einer außerordentlich reichen Bewegungsvielfalt gegeben. Diese korrespondiere der gegen ihn andringenden Vielfalt der Welt und erlaube es ihm, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Gehlen nennt die Bewegungen, mit welchen der Mensch der Welt entgegentritt, „kommunikativ“3, denn sie mündeten in ein Resultat und „dies besteht im eigentätigen Aufbau der gedeuteten und beherrschten Sehwelt, die wir Erwachsene unmittelbar zu haben glauben.“4

Seh- und Tastsinn wirkten bei diesem Aufbau gemeinsam und zwar sowohl nach der Außenwelt wie auch nach der Innenwelt des Menschen. Nach außen werde mit den antwortenden Bewegungen Ordnung und Übersicht geschaffen, nach innen werde Beherrschung geübt. Denn der Organismus schaffe sich die Außenwelt in seiner Auseinandersetzung mit dieser ins Innere hinein. Der Bewegung geselle sich eine Bewegungsphantasie hinzu. Die Bewegungen würden selbst wieder empfunden und provozierten begierdelose neue Bewegungen und Bewegungsphantasien. Diese könnten kombiniert und verschoben und an jedem Glied der Kette ein- oder ausgesetzt werden.

Die zur Plastizität und zur Selbstführung bestimmte menschliche Motorik müsse sich zunächst einmal in sich selbst ergreifen. Das Selbstgefühl der eigenen Tätigkeit sei dann die Lustquelle dieser Bewegungen. Ihm würden die dabei auftretenden Empfindungen als ein entfremdetes Selbstgefühl der eigenen Bewegungen vermittelt, und diese Entdeckung sei eine neue, belebende und sofort wiederholte Möglichkeit: „Es ist dieses entfremdete Selbstgefühl der eigenen Tätigkeit, das den weiteren Ausbau derselben steuert.“5