Die Gentlemen-Gangster

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20

Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren. Mehrere Beamte waren mit den ausführlichen Vernehmungen befasst – nicht nur mit Seifritz und Tochter Marion, sondern auch mit Heinrich Lackner und dessen Kollegen Berthold Rilke sowie der Chefsekretärin Karin Rüger. Der Kreis weitete sich aus: auf die Geldboten, die zwischen Kreissparkasse und Landeszentralbank unterwegs gewesen waren, sowie auf den völlig ahnungslosen Kassierer, der zum Geschäftsbeginn 30.000 D-Mark geholt hatte, ohne zu wissen, dass in einem Nebenraum Gangster lauerten.

Immer stärker fühlte sich Heinrich Lackner in die Enge getrieben. Gebetsmühlenartig wiederholten sich Fragen, weshalb man ausgerechnet ihn zum Unterschreiben des Millionenschecks gezwungen haben könnte. Und warum sich die Gangster für ihn als die zweite Geisel entschieden hätten. Bisweilen befürchtete Lackner, die Ermittlungen richteten sich nur gegen ihn. Alles an ihm schien plötzlich verdächtig zu sein: dass er am Montagmorgen so früh zur Arbeit gekommen war und dass er scheinbar bereitwillig im Chefbüro den Scheck unterschrieben habe. Sogar die Art und Weise, wie er reagiert hatte, als sich die Aufzugstür nicht hatte öffnen lasse, schien den Argwohn der Ermittler zu wecken. »Was hätte ich denn anderes tun sollen? Ich hatte doch keine Wahl«, hatte er schon viele Male wiederholt und dabei fast seine gelassene Art verloren. Irgendwann kam auch er an die Grenze seiner nervlichen Kraft.

Doch so wie ihm erging es auch all den anderen, die als Zeugen in den Ermittlungsakten geführt wurden. Sogar jener Geldbote, ein 29-jähriger Mann, der als ausgebildeter Polizist voriges Jahr aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Beamtentum übernommen worden war und sich kurz mit dem uniformierten Gangster angelegt hatte, geriet ins Visier der Kriminalisten. Wolfgang Nolte war seit einigen Monaten als Geldbote beschäftigt. Ein spannender Job, aber keinesfalls so abwechslungsreich, wie es der Dienst bei der Polizei gewesen wäre. Eigentlich hätte ihm die Arbeit als Privatdetektiv viel mehr Spaß gemacht, zumal er damit das bei der Polizei Erlernte viel besser hätte anwenden können. Aber um sich selbstständig zu machen, fehlte ihm der unternehmerische Mut. Vielleicht würde es ja mal gelingen, bei einer entsprechenden Kanzlei eine Anstellung zu finden. Schließlich gab es mehr Detekteien, als man vermutete.

»Und Sie haben, genau wie Ihr Kollege, heute früh anfangs nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmte?«, wollte ein erfahrener älterer Beamter wissen, während Nolte ihm im Büro gegenübersaß.

»Nein. Erst als wir das zweite Mal zur LZB gerufen und wieder zurückgekommen sind und ich durch die Scheibe des Tresorraums diesen uniformierten Typen gesehen habe, hatte ich sofort ein komisches Gefühl«, wiederholte Nolte bereits zum dritten Mal. Seine Lippen bebten, der Oberlippenbart vibrierte. Er wich keinem Blick des Kriminalisten aus. »Außerdem«, fügte er an, »waren zwei Millionen eine ganze Menge Kohle für einen Montag.«

»Haben Sie denn noch eine Polizeiuniform daheim?«, blieb der Kriminalist hartnäckig.

»Oh, daher weht der Wind«, wurde Nolte jetzt ungehalten. »Sie meinen, ich hätte dem Täter meine Uniform ausgeliehen? Und nur vorgetäuscht, ihn angreifen zu wollen? Da muss ich Sie enttäuschen. Ich besitze gar keine Uniform mehr.«

»Aber Sie haben sie doch kaufen müssen, diese Dienstkleidung.«

»Ja, natürlich. Für einen Berufsanfänger eine teure Anschaffung. Insgesamt rund 1.000 Mark. Aber Sie wissen dann sicher auch, dass man beim Ausscheiden aus dem Dienst die Dienstgrad- und Hoheitsabzeichen entfernen muss.«

Der Kriminalist wollte dies nicht vertiefen, weil er sich nie mit den einschlägigen Bestimmungen befasst hatte. »Und wo ist die Uniform jetzt?«

Nolte holte tief Luft. »Verschenkt hab ich sie. Dem Kleiderfundus des Naturtheaters Heidenheim.«

»Auch den Anorak?«

»Ich hatte nie einen Anorak. Nur die Uniformjacke. Tut mir leid.«

21

Die Staatsanwaltschaft schwieg, und auch Kripochef Karl Geiger hatte einen Maulkorb verpasst bekommen. Außerdem gab’s von der Stuttgarter Pressestelle weiterhin nur spärliche Informationen. Zum Leidwesen von Sander und Grüninger. Denn für die Journalisten war es völlig unbefriedigend, beim größten Bankraub weit und breit nicht auf dem Laufenden gehalten zu werden. Gab es tatsächlich etwas zu vertuschen, wie Volkes Meinung befürchten ließ? »Ich versteh das nicht«, grummelte Grüninger nach einigen Tagen. »Die machen doch mit ihrer Geheimnistuerei alles viel schlimmer.«

Sander, der zu Grüninger ins Büro gekommen war und am lilafarbenen Verpackungspapier sah, dass der Vize-Redaktionschef heute schon wieder eine ganze Tafel Vollmilchschokolade verschlungen hatte, stimmte ihm zu: »Entweder, die tappen wirklich total im Dunkeln, oder da haben ein paar Herrschaften Dreck am Stecken, die man nicht anschwärzen möchte.« Ihn plagten ohnehin einige kritische Anrufe, in denen behauptet worden war, die Berichte über den Ablauf des Überfalls seien falsch. »Wenn man nicht offen und wahrheitsgetreu ist, kommen halt viele Spekulationen auf«, meinte er mit einem Seitenhieb auf die Pressearbeit von Polizei und Justiz.

»Umso unverständlicher ist es, dass die Staatsanwaltschaft nichts gegen die Gerüchte unternimmt. Mir tut der Seifritz richtig leid«, meinte Grüninger und umfasste den rechten Rahmen seiner dickglasigen Brille, wie er dies immer tat, wenn er scharf nachdachte.

»Und wenn der …«, wagte Sander einzuwerfen, aber Grüninger wehrte ab: »Fangen nicht auch Sie noch damit an, Herr Sander. Oder glauben Sie im Ernst, ein Bankdirektor würde so eine Story erfinden, dazu noch die eigene Tochter kidnappen lassen? Ich bitte Sie, vergessen Sie das ganz schnell.«

Sander nickte. Der Fall hatte seine ohnehin lebhafte Fantasie zum Blühen gebracht. Aber schließlich durfte man doch alles denken. Nur halt nicht schreiben.

»Ich hab da was erfahren«, fuhr Grüninger fort, dessen Drähte zu jeglicher Art von Institutionen schon legendär waren, was daran lag, dass er vertrauliche Informanten niemals preisgab. Nicht einmal innerhalb der Redaktion. Wenn Grüninger jemandem etwas versprach, dann hatte dies Gültigkeit. Ein Mann, ein Wort.

Sander trat näher an den sitzenden Grüninger heran, der seine antiquierte Schreibmaschine beiseiteschob, auf der er mit unvorstellbarem Tempo im Zweifinger-System seine Artikel in die Tasten hauen konnte. Von der neuen Computertechnologie hielt er nicht viel.

Er sortierte einige Schmierblätter, die aus den Rückseiten alter Pressemitteilungen bestanden, und war sichtlich bemüht, durch seine dicken Brillengläser die eigene ziemlich verschnörkelte Handschrift zu entziffern. »Es ist wohl so gewesen, dass das Geld tatsächlich in zwei Chargen von der Landeszentralbank geholt wurde. Die erste mit 700.000 D-Mark war die routinemäßige. Jeden Vormittag wird Geld geholt, wobei sich die Höhe des Betrags am zu erwarteten Geschäftsbetrieb orientiert«, dozierte Grüninger, was ihm ein Informant vertraulich geflüstert hatte. »Die Täter wollten ursprünglich fünf Millionen, was aber, wie wir wissen, Seifritz heruntergehandelt hat. Dazu mussten die Geldboten allerdings ein zweites Mal zur LZB geschickt werden.« Grüninger nahm ein weiteres Blatt zur Hand. »Zur Frage, ob auch Geld aus dem Sparkassentresor genommen wurde, hat es wohl einige Irritationen gegeben. Warum man das so geheimnisvoll behandelt hat, ist mir inzwischen klar. Während der Kassierer – es ist dieser Rilke – die ersten 700.000 Mark für die Täter in eine Tasche verpackt hat, ist ein Kassenangestellter aufgetaucht, der 30.000 Mark wollte. Um den schnell wieder loszuwerden, hat Lackner diese Summe kurzerhand aus der Tasche genommen, die für die Täter bereitstand. Und damit es letztlich wieder 700.000 waren, hat er anschließend 30.000 aus dem Tresorbestand herausgenommen und in die Transporttasche gesteckt.«

»Und warum hat man daraus ein Geheimnis gemacht?«, wunderte sich Sander.

»Ganz einfach«, sah ihn Grüninger triumphierend an. »Die 30.000 aus dem Tresor waren sogenanntes Fanggeld, das Lackner den Tätern geistesgegenwärtig unterjubeln konnte.«

»Fanggeld?«

»Ja. Scheine, deren Nummern registriert sind. Hat jeder Kassierer unauffällig bei sich liegen«, wusste Grüninger zu berichten.

»Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Geld irgendwo auftaucht und man Rückschlüsse auf den Besitzer ziehen kann«, meinte Sander.

»Ganz so einfach wird das nicht sein. Wenn die Scheine irgendwo im Ausland eingetauscht werden, wird das nicht sofort auffallen. Vielleicht bleibt die Beute auch eine Zeit lang in einem Versteck.«

Sander grinste: »Was macht das für einen Sinn, wenn man Millionär geworden ist und das Geld unters Kopfkissen legen muss?«

Grüninger blieb ernst. »Es macht zumindest den Sinn, nicht plötzlich als reich in Erscheinung zu treten und aufzufallen. Sie würden sich doch auch wundern, wenn ich mir in den nächsten Tagen einen teuren Porsche zulegen würde.«

Sander grinste in sich hinein. Das würde ihn tatsächlich wundern. Aber gleich aus zweierlei Gründen: weil Grüninger, der als äußerst sparsam und genügsam galt, wohl ausgeflippt sein müsste, wenn er mit einer solchen Nobelkarosse daherkäme. Und weil er außerdem ein eingefleischter Nutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs war.

22

Hinweise gab es genügend. Aber viele beruhten auf Spekulationen und Vermutungen, wie die Soko Fils – benannt nach dem Fluss, der Göppingen durchfließt – meist sehr schnell feststellen konnte. Hartmut Zeller, Chef einer starken Ermittlermannschaft, informierte täglich den Direktionsleiter Josef Walser, der die goldenen Sterne auf der Schulterklappe seiner Uniform zu schätzen wusste. Er nahm mit sorgenvoller Miene zur Kenntnis, dass die Geiselnehmer wie vom Erdboden verschwunden zu sein schienen. Auch in der Wohnung Seifritz’, wo sich die Täter eine Nacht lang aufgehalten hatten, war nicht das Geringste von ihnen zu entdecken. »Da sie Handschuhe getragen hatten, gab es keinerlei verwertbare Fingerabdrücke. Wir wissen bis heute nicht, ob es noch einen vierten Täter gegeben hat«, erklärte Zeller. »Ob da einer vom Bahnhof aus tatsächlich das Bankgebäude observiert hat oder sich sogar in der Sparkasse aufgehalten hat, ist weiterhin unklar.«

 

Der Direktionsleiter hörte konzentriert zu und entschied, mit einer hochgezogenen Augenbraue eine Frage loszuwerden, die ihn immer wieder beschäftige: »Die Familie ist aber okay?«

»Absolut. So, wie es jetzt aussieht«, winkte Zeller ab.

»Gab es in letzter Zeit Personen, die sich für die Räumlichkeiten in der Bank interessiert haben?«

»Nichts Außergewöhnliches. Natürlich sind in so einem Gebäude immer mal wieder Handwerker unterwegs. Elektriker, Installateure, Fernmeldeamt und so weiter.«

»Auch in jüngster Zeit?«

»Wir haben uns zuerst mal die Firmen nennen lassen, die seit Anfang des Jahres tätig waren.«

»Der Coup scheint mir aber langfristig vorbereitet worden zu sein«, wagte der Direktionsleiter einzuwenden.

»Wir müssen einen Zeitabschnitt nach dem anderen angehen. Auch natürlich einige Personen aus der Bank, keine Frage.«

»Mir scheint«, fuhr der Göppinger Polizeichef Walser fort, »dass die Täter zwar mit bankinternen Abläufen bestens vertraut waren, nicht aber mit dem persönlichen Umfeld von Seifritz. Sonst wären sie ja wohl nicht davon ausgegangen, in der Wohnung eine Ehefrau anzutreffen, die es gar nicht gibt. Und als stattdessen die 18-jährige Marion aufgetaucht ist, haben sie sich seltsamerweise nicht nach einer weiteren Tochter oder einem Sohn erkundigt. Ihr ursprünglicher Plan müsste also gewesen sein, die Ehefrau zu kidnappen.«

Zeller zuckte mit den Schultern. »Seifritz kann uns keine Personen aus seinem persönlichen Umfeld benennen, denen er die Tat zutrauen würde. Außerdem fällt ihm niemand ein, der vom Aussehen oder der Stimme her den Tätern ähneln könnte.«

»Dann hatten die Täter eben einen oder mehrere Informanten«, gab der Polizeidirektor zu bedenken.

Zeller sah auf die Uhr. Ähnliche Gespräche hatte er in den vergangenen Tagen schon viele geführt. Sowohl mit dem örtlichen Polizeichef als auch mit seinen Vorgesetzten in Stuttgart. Langsam nervte ihn dies, zumal es immer wieder dieselben Fragen waren, die sich sein Team und er ohnehin ständig stellten. »Ihre Leute aus Göppingen nehmen sich schwerpunktmäßig Personen vor, die hier wohnen und mit den Örtlichkeiten vertraut sind«, versuchte Zeller, die Diskussion abzuschließen, und fügte an: »Ende Januar gab’s in der Tiefgarage ein geplatztes Wasserohr. Eine Riesensauerei. Das Wasser drang bis ins dritte Untergeschoss ein. Der Installateur, der deshalb auch im Bereich des Tresorraumes tätig war, wird gerade von dem Göppinger Ermittler Klaus Biegert vernommen.«

Der Direktionschef war zufrieden.

23

Helmut Reinicke, 27 Jahre alt und ein Zupacker wie aus dem Bilderbuch: breitschultrig, groß und kräftig, offenes Lachen auf dem Gesicht. Das füllige schwarze Haar viel zu lang und ungekämmt. Einer, dem man ohne Weiteres zutraute, jedes handwerkliche Problem lösen zu können. »Sie sind Meister für Heizungs- und Wasserinstallationen«, stellte Göppingens Ermittler Klaus Biegert fest und blätterte, hinterm Schreibtisch sitzend, in einigen Unterlagen.

»Ja, bin ich«, sagte Reinicke mit Stolz in der Stimme und lehnte sich auf dem unbequemen Besucherstuhl des Polizeibüros zurück. Er war in blauer Arbeitskleidung gekommen, weil er die Mittagspause nutzen wollte, um dem Ansinnen des Kommissars möglichst schnell gerecht zu werden. »Sie haben am Telefon gesagt, ich soll zu der Sache in der Kreissparkasse etwas sagen. Aber mehr, als dass ich Ende Januar dort einen Rohrbruch beheben musste, weiß ich nicht.« Er zog einen Zettel aus der Tasche. »Ich hab mir sogar rausgesucht, wann das war. Es war am Dienstag, dem 26. Januar.«

Biegert nickte. »Sie werden verstehen, dass wir alle, die in den letzten Wochen dort tätig waren, vernehmen müssen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir Sie womöglich verdächtigen. Überhaupt nicht.«

Reinicke war zwar mit gemischten Gefühlen hergekommen, aber allein schon, dass der Kriminalist nun gleich das Wort »verdächtigen« in den Mund nahm, ließ ihn aufhorchen. Er wollte etwas sagen, aber Biegert kam ihm zuvor: »Machen wir es kurz: Haben Sie in den Tagen danach mit jemandem über die Örtlichkeiten in der Bank, insbesondere in den Untergeschossen, gesprochen?«

Reinicke war auf diese Frage gefasst, gab sich aber ratlos. »Gesprochen? Sie meinen …«

»… ob sich jemand für die Örtlichkeiten interessiert hat«, unterbrach Biegert ergänzend.

»Wer soll sich dafür interessiert haben?«

»Na ja, vielleicht haben Sie im Freundes- oder Bekanntenkreis von Ihrer Arbeit in der Sparkasse erzählt, und jemand hat auffällige Fragen gestellt.«

»Sie meinen, man hat mich aushorchen wollen?«

»Könnte doch sein. Vielleicht haben Sie stolz erzählt, den Tresorraum gesehen zu haben. Da wäre es doch möglich, dass jemand genau wissen wollte, wie es da aussieht, wo die Türen und der Aufzug sind und so weiter.«

Reinicke erbleichte. »Sie wollen damit aber nicht sagen, dass ich mit den Tätern unter einer Decke stecke?«

»Überhaupt nicht. Sie müssen mir schon richtig zuhören, Herr Reinicke«, wurde Biegert leicht ungehalten. »Die Frage war, ob jemand – wer auch immer – von Ihnen Details zu den Örtlichkeiten erfahren wollte.«

»Nein, ganz sicher nicht.«

Die beiden Männer sahen sich für einen Moment schweigend an. Biegert überlegte, ob er es riskieren konnte, eine weitere Frage zu stellen, und entschied sich dann dafür: »Nur eines noch: Hatten Sie jemals einen Privatauftrag im Haus des Bankdirektors?«

Reinicke schluckte. Er spürte einen Kloß im Hals. »Ich weiß nicht einmal, wo der wohnt«, presste er hervor.

Biegert bohrte nach: »Aber die Adresse stand im Bericht über den Überfall in der Zeitung – und das Haus war auch einmal abgebildet.«

»Tut mir leid«, gab sich Reinicke gefestigt. »Ich lese keine Zeitung.«

24

300 Hinweise, 14 davon anonym. Drei Wochen nach dem Überfall füllten die Ermittlungsakten unzählige Ordner. Ein konkreter Verdacht gegen Personen hatte sich jedoch nicht ergeben. Die beiden Journalisten Sander und Grüninger waren über die zurückhaltende Informationspolitik der Staatsanwaltschaft und der Polizei verärgert. Sogar Jürgen Holder, der Pressesprecher der örtlichen Direktion, musste auf Fragen der Lokalredakteure meist passen, obwohl er seit geraumer Zeit wenigstens an den Besprechungen der Soko teilnehmen durfte. Aber was er dabei zu hören bekam, waren keine tiefschürfenden Erkenntnisse.

Und seine Kollegen in Stuttgart verbreiteten allenfalls Meldungen, deren Formulierungen Sander und Grüninger zur Genüge kannten. Immer dieselben Worthülsen: es werde in alle Richtungen ermittelt und es gebe keine heiße Spur. Grüninger, der mittlerweile argwöhnisch geworden war, wollte nicht so recht glauben, dass es bei einem Verbrechen, das rund 14 Stunden angedauert hatte, nicht den geringsten Hinweis auf etwas gab, das merkwürdig erschien. Darauf angesprochen, konterte Soko-Leiter Zeller: »Merkwürdiges gibt es genug, Herr Grüninger. Mehr als genug. Aber es ist wie oft im Leben: wenn Sie beim Recherchieren in die Tiefe gehen, werden Sie hinterher immer etwas finden, das Ihnen rückblickend mit der Erkenntnis des Geschehenen merkwürdig erscheint.«

Zellers Stimme hatte am Telefon leicht verärgert geklungen. Natürlich ahnte er, was Grüningers tieferer Sinn des Anrufes war: Vermutlich hatte der Journalist erfahren, dass die Sonderkommission in ihrer jetzigen Zusammensetzung in Göppingen aufgelöst wurde. Alles, was es aktuell und in den Tagen nach dem Verbrechen zu ermitteln gab, war inzwischen weitgehend aufgearbeitet. Nun konnte in kleineren Teams sowohl in Göppingen als auch bei der Landespolizeidirektion Stuttgart 1 weiterrecherchiert werden. Nachdem Zeller dies von sich aus angesprochen hatte, resümierte Grüninger süffisant: »Sie packen also hier Ihre Akten zusammen.«

Zeller ließ sich mit dieser bissigen Bemerkung nicht provozieren, sondern gab sich optimistisch: »Ich bin überzeugt, dass der Fall geklärt wird.« Und er fügte an: »Federführend bleibt das Dezernat Sonderfälle der Landespolizeidirektion Stuttgart 1, wo mich mein Stellvertreter, Hauptkommissar August Häberle – der wohnt ja irgendwo bei Ihnen im Raum Göppingen – unterstützen wird.«

Grüninger wollte diesen Optimismus nicht teilen. Bestimmt würde man noch in 30, 40 Jahren von diesem dreisten Verbrechen reden. Und selbst wenn es eines Tages geklärt sein würde, blieben sicher noch sehr viele Fragen offen, dachte er. Denn mit Sicherheit gab es Hintermänner. Ob eine ganze Organisation, wie von den Geiselnehmern behauptet, oder nur eine einzelne Person, – das wollte Grüninger in seinen Gedanken mal dahingestellt lassen.

25

Die Zeit heilt Wunden und lässt vieles in Vergessenheit geraten. Insbesondere dann, wenn ständig Neues auf einen hereinstürzt. Daran musste Sander nach dem ausführlichen Bericht denken, den Grüninger über das Gespräch mit dem Soko-Leiter verfasst hatte. Die Zeit war schnelllebig geworden. Und Journalisten waren dazu da, stets neue Themen aufzuspüren, die das Aktuelle von gestern Makulatur werden ließen. Die Gerüchte zum Bankraub hielten sich hartnäckig, doch machte sich in der Bevölkerung bereits eine gewisse Resignation breit – nach dem Motto: Das wird nie geklärt.

Mehr als ein Vierteljahr nach der Geiselnahme gab es Ende Juni 1982 eine Meldung, die in der Redaktion wie eine Bombe einschlug: Das Fluchtfahrzeug der Räuber war entdeckt worden: in einem Parkhaus der rund 20 Kilometer entfernten Stadt Schwäbisch Gmünd im Remstal. Sander hatte den Tipp überraschenderweise von Jürgen Holder, dem örtlichen Pressesprecher der Polizei, erhalten, der sich damit offenbar für die restriktive Informationspolitik in den Tagen nach dem Verbrechen revanchieren wollte. Dass es sich bei dem aufgefundenen Auto um das Fluchtfahrzeug handeln musste, daran bestand kein Zweifel. Denn im Fahrzeug, einem silberfarbenen Audi 100, lagen Utensilien, die eindeutig den Tätern zuzuordnen waren: neben der Geldtasche der Göppinger Kreissparkasse auch jener grüne Anorak, mit dem einer der Gangster den Anschein erweckt hatte, ein Polizist zu sein. Außerdem datierte der Einfahrtschein ins Parkhaus vom Montag, 9. März 1982, Uhrzeit: 9.30 Uhr.

»Volltreffer«, hatte Hartmut Zeller im fernen Stuttgart gejubelt und die Nachricht sofort seinem Dezernats-Stellvertreter Häberle mitgeteilt, einem 33-jährigen Kriminalisten, dem man hausintern nachsagte, dies mit Leib und Seele zu sein. »Die erste konkrete Spur«, meinte Zeller.

Doch der etwa gleichaltrige Häberle, der als scharfer Denker galt und in sich zu ruhen schien, dämpfte die Euphorie seines Kollegen: »Wenn sich in dem Fahrzeug keine weiteren Spuren finden, sind wir so weit wie vorher.«

»Aber wir wissen nun, dass die Täter gleich nach Schwäbisch Gmünd gefahren sind«, blieb Zeller hartnäckig. »Genauso, wie es Walser von Anfang an vermutet hatte.«

»Okay – und dann? Hast du schon gecheckt, auf wen das Auto zugelassen ist?«

»Ja, klar doch. Der Audi wurde wenige Tage vor der Tat in Kornwestheim geklaut. Auf das jetzt angebrachte Ludwigsburger Kennzeichen ist ein Motorrad angemeldet. Die richtigen Schilder lagen im Kofferraum.« Rätselhaft blieb, wie das Auto hatte gestohlen werden können. »Das sieht nach Profis aus«, meinte Zeller.

»Und wem ist das Auto nach fast vier Monaten in dem Parkhaus aufgefallen?«, informierte sich Häberle.

»Dem Sohn der Betriebsleiterin, weil er die 320 Stellplätze hin und wieder kontrolliert. Beim Vergleich mit den Kennzeichen der Dauerparker hat er festgestellt, dass dieser Wagen nicht registriert ist. Weil grundsätzlich jeden Abend die Nachtparker in eine Liste eingetragen werden, kann man nachvollziehen, dass der Audi mindestens seit 11. März dort stand.«

»Was heißt mindestens?«

»Die Liste für die Tage zuvor ist nicht auffindbar, aber der Parkschein trägt das Datum 9. März.«

»Ach«, machte Häberle, als habe er Zweifel an dieser Darstellung.