Salzburgsünde

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4

»Herr Merana?«

Er vernahm die Stimme hinter seinem Rücken. Sie kam ihm bekannt vor. Er wandte sich um.

»Frau Präsidentin!«

Nach dem ersten Akt hatte es nur eine kurze Unterbrechung gegeben. Viele Besucher, auch er, waren im Saal sitzen geblieben. Aber nun, nach dem zweiten Aufzug, sollte die Pause eine knappe halbe Stunde dauern. Zeit genug, um sich die Beine zu vertreten, ein Glas Sekt zu ordern, sich am Buffet mit einem kleinen Happen zu versorgen, einen Kaffee zu genießen. Er deutete eine Verbeugung an. Die Festspielpräsidentin reichte ihm die Hand.

»Ich habe Sie schon lange nicht mehr in unserem Haus angetroffen. Schön, dass Sie es einrichten konnten. Für den Parsifal muss man sich erheblich Zeit gönnen. Wie gefällt Ihnen die Aufführung bisher?«

Er zögerte kurz, überlegte, wie er es am besten ausdrücken konnte. »Von Gurnemanz und Kundry bin ich sehr angetan. Beeindruckende Bühnenpräsenz, tolle Stimmen, bei beiden. Für Parsifal gäbe es da meiner sehr laienhaften Einschätzung nach noch Reserven. Nicht so sehr stimmlich, da war durchaus schon Großartiges zu hören, aber in der Darstellung. Das kann ja im dritten Akt noch geschehen. Immerhin hat er gleich einen bedeutsamen Auftritt.«

In ihren klugen Augen blitzte es schelmisch auf. »Sehr diplomatisch ausgedrückt, Herr Kommissar. Ein dieser Aufführung wohlmeinender Feuilletonkritiker hätte es nicht besser beschreiben können.« Sie standen im Freien, mitten auf der Hofstallgasse, direkt an den weit geöffneten Eingangstüren des Großen Festspielhauses. Gegenüber lag das ehrwürdige Gebäude der Universitätsbibliothek, schräg dahinter der Furtwänglerpark. Wenn er den Kopf nach links drehte, konnte er den Karajan-Platz sehen und einen Teil der barocken Pferdeschwemme. Es war angenehm warm. Die Vorstellung hatte um 12 Uhr begonnen. Die Sonne war inzwischen ein gutes Stück nach Südwesten gerückt, aber auf dem Platz, an dem sie sich befanden, war sie noch gut spürbar. Die weiterhin freundlich lächelnden Augen der Präsidentin wurden plötzlich ernst. Offenbar hatte sie hinter seinem Rücken etwas entdeckt. »Ich würde mich gerne mit Ihnen länger über unseren Parsifal unterhalten, Herr Merana. Aber ich entdecke eben einen Vertreter eines unserer Sponsoren, zusammen mit seiner Gattin. Da muss Frau Präsidentin schnell ihre Aufwartung machen.«

Er nickte, zögerte. Wenn er schon der Präsidentin der Salzburger Festspiele gegenüberstand, sollte er nicht einfach die Gelegenheit beim Schopf packen?

»Frau Präsidentin …«

Sie war im Abdrehen, hielt jedoch inne.

»Darf ich Sie rasch mit einer Bitte behelligen? Es geht um etwas Dienstliches … äh … Halbdienstliches. Vielleicht hätten Sie in den nächsten Tagen Zeit für ein kurzes Gespräch …also, wenn es bei Ihren vielen Verpflichtungen sich eventuell einrichten …« Er wusste nicht recht, wie er es in der Eile ausdrücken sollte. Sie legte ihm die Hand an den Arm. Eine vertrauensvolle Geste.

»Für Sie immer. Rufen Sie bitte morgen meine Sekretärin an. Ich gebe Frau Hertel gleich in der Früh Bescheid. Sie wird für unseren geschätzten Kommissar Merana etwas freiräumen. Das wird sich machen lassen. Versprochen.« Sie ließ nochmals ein charmantes Lächeln um ihre Mundwinkel spielen, dann schritt sie davon. Er schaute ihr nach. Sie steuerte auf ein Paar zu, das ihm bekannt war. Einerseits aus den Medien, andererseits aus den Unterlagen der Polizei, betreffend die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz prominenter Persönlichkeiten rund um das Festspielgeschehen. Der Mann gehörte zum Aufsichtsrat eines bedeutenden Automobilherstellers. Jetzt verspürte er Lust, sich doch noch ein Glas Sekt zu genehmigen. Dazu ein Lachsbrötchen. Einen Espresso hatte er vorhin schon getrunken.

Zur Festspielpräsidentin hatte er seit längerer Zeit ein gutes, angenehmes Verhältnis. Er hatte im Lauf der letzten Jahre bei einigen Fällen im Umkreis der Salzburger Festspiele ermitteln müssen. Da war es zu mancher Begegnung mit der Festspielleitung gekommen. Dass er sie eben angetroffen hatte, verwunderte ihn allerdings. Wie ihm bekannt war, waren die Osterfestspiele ein völlig eigenständiges Unternehmen. 1961 gegründet von Herbert von Karajan. Sowohl organisatorisch als auch finanziell abgekoppelt von den eigentlichen Salzburger Festspielen. Mit einer völlig eigenen Leitung. Selbstverständlich gab es enge Verbindungen zwischen dem Osterfestival und den Sommerspielen. Und die Präsidentin des großen Sommerfestivals musste vermutlich auch zu Ostern präsent sein, schon alleine, um sich bei tatsächlichen oder möglichen Sponsoren zu zeigen, wie er eben erlebt hatte. Er würde also morgen im Direktionsbüro bei Frau Hertel anrufen.

»Ich hätte gerne ein Glas …« Er hielt kurz inne. Nur Sekt oder doch den um einiges teureren Champagner?

»Geben Sie mir bitte den Dom Pérignon und zwei von den Lachsbrötchen.«

Er griff nach der Brieftasche, entnahm ihr einen Geldschein.

»Danke, stimmt schon.«

Er kostete. Richtig entschieden! Das zahlt sich in jedem Fall aus, fand er. Der Champagner hatte zwar einen stattlichen Preis. Aber die Qualität überzeugte ihn vollends. Und er passte trefflich zur wunderbaren Atmosphäre, in der er sich ringsum eingebettet fühlte. Bei einer glanzvollen Festspielaufführung. Am Ostermontag. Umgeben von bestens gelaunten Menschen. Die zeigten sich nicht nur festlich gekleidet, manche prunkvoll übertrieben, wie er fand. Sie gaben sich auch sehr angetan von der bislang erlebten Opernaufführung. Das konnte er gut nachvollziehen. Vor allem die bisher dargebotene faszinierende musikalische Leistung hatte die meisten sehr berührt. Zumindest entnahm er das den Gesprächen rings um sich. Die besondere Stimmung und nicht zuletzt die Begegnung mit der Präsidentin machten es ihm auch einfacher, den leichten Groll hinunterzuschlucken, den er seinem Chef gegenüber verspürte. Hofrat Günther Kerner, dem Polizeipräsidenten.

»Du machst das schon, Martin. Die Kollegen werden angetan sein. Bei deinen Beziehungen ist das sicher leicht einzufädeln. Da verlasse ich mich ganz auf dich.« So hatte Günther Kerner es tönen lassen. Drei Wochen war das inzwischen her. Es ging um ein besonderes Meeting. Zwölf Polizeikollegen. Allesamt Führungskräfte, neun davon aus Deutschland und Italien. Dazu kamen drei Spitzenbeamte aus dem Innenministerium. Das erst vor Kurzem vereinbarte Treffen sollte in Salzburg stattfinden. Unter der Leitung des Salzburger Polizeipräsidenten, Hofrat Günther Kerner. Und der hatte laut Auftrag aus dem Innenministerium für ein präsentables Rahmenprogramm zu sorgen. Immerhin reisten einige der Teilnehmer nicht alleine nach Salzburg, sondern in Begleitung. Mit Ehepartnern, Lebensgefährten. Und das zu Pfingsten.

»Vielleicht bekommen wir sogar Karten für eine Veranstaltung der Festspiele. Das kriegst du sicher hin, Martin. Und dir wird auch sonst etwas Grandioses einfallen, damit für unsere Kollegen der Salzburg-Aufenthalt bleibenden Eindruck hinterlässt.«

Das kriegst du sicher hin, Martin … Ha! Er nahm einen Schluck vom Champagner, dann biss er in eines der Brötchen. Wie stellte sein Chef sich das immer vor? Es war ja nicht das erste Mal, dass Hofrat Kerner ihn zu so etwas drängte. Davon stand nichts in seinem dienstlichen Anforderungsprofil. Er war Leiter der Kriminalpolizei, Chef der Mordkommission und kein Salzburg-Tourismus-Fuzzi. Karten für die Festspiele! Für die Händel-Oper ganz sicher nicht. Wohl auch kein Ticket für die konzertanten Aufführungen der Mozart-Oper. Die waren seit Monaten ausverkauft. Vielleicht gab es noch etwas für eines der geistlichen Konzerte. Wie er wusste, hielt man in der Direktion immer ein paar Extra-Tickets bereit für unvorhergesehene Ereignisse. Im Gegensatz zu den Osterfestspielen waren die Pfingstfestspiele zu seinem Glück nicht eigenständig. Sie waren Teil der Salzburger Festspiele. Also so etwas wie die kleine Schwester der erheblich größeren Sommerfestspiele. Sie gehörten folglich in den Zuständigkeitsbereich der Festspielpräsidentin. Die hatte ihm vorhin ein baldiges Treffen in Aussicht gestellt. Und sie war ihm, Gott sei Dank, wohlgesonnen. Aber sollte er seine gute Beziehung einfach so ausnützen, nur um dem Herrn Polizeipräsidenten einen Gefallen zu erweisen, damit er vor der Chefetage des Innenministeriums glänzen konnte? Er nahm das zweite Lachsbrötchen. Er würde das spontan entscheiden, wenn er das Treffen mit der Präsidentin hatte. Vielleicht würde er sie darauf ansprechen, vielleicht auch nicht. Dann leerte er das Glas. Ein schneller Blick auf die Uhr. Das ging sich noch aus.

»Ich hätte gerne noch einen Dom Pérignon.«

Es war nur eine kleine Bewegung. Fast unscheinbar. Aber das Orchester folgte sofort dem Gestus des Dirigenten. Noam Isenberg hatte nur leicht mit der offenen Handfläche nach unten gewiesen. Merana konnte es von seinem Platz aus bestens verfolgen. Augenblicklich nahmen Holzbläser und tiefe Streicher ihre ohnehin sanft gesetzten Töne um eine deutliche Nuance zurück. Sie umhüllten dadurch fast auf magische Art das gedämpfte Pochen der Pauken. Im selben Moment wurde die Szenerie auf der Bühne heller. Eine Wiese war angedeutet, dazu ein Strauch mit dunklen Zweigen auf der linken Seite. Von rechts näherte sich in langsamen Schritten eine Gestalt. Die weiter anwachsende aufhellende Stimmung machte bald klar, wer mit leicht gehemmten Bewegungen in die Mitte der Bühne schritt. Gurnemanz.

»Von dorther kam das Stöhnen. So jammervoll klagt kein Wild …«

Dem aus Münster stammenden Sänger gelang es wunderbar, die unruhige Verwirrtheit der dargestellten Figur auch in der sorgfältig nuancierenden Bassstimme zu vermitteln.

»… und gewiss gar nicht am heiligsten Morgen heut.«

Der weiche, sanft-feierliche Klang des Hornes betonte die behutsam sich anbahnende besondere Situation. Karfreitagszauber. Erwachen der Kräfte. In der Natur genauso wie in den Herzen der Menschen. Es waren genau solche achtsamen Momente in der Musik, die Merana immer wieder berührten. Und davon gab es, bei aller Dramatik, bei allem Getöse des zur vollen Klangwucht fähigen Orchesters, eine ganze Reihe in dieser Oper. Die dem Spiel zugrunde liegende Geschichte war ihm seit Langem vertraut. Er hatte als Kind viel gelesen. Dazu hatte ihn die Großmutter immer wieder angehalten. Er hatte sich gerne in dicke Bücher versenkt, die mittelalterliche Geschichten erzählten. Zu denen gehörte auch die Sage von Parzival. Der Dichter und Minnesänger Wolfram von Eschenbach hatte diesen ritterlichen Helden sogar in einem eigenen Roman verewigt. Da wird von Parzivals Kindheit und Jugend erzählt, von seinen Abenteuern als Ritter der Tafelrunde in der Gefolgschaft von König Artus und auch von seinen Bemühungen um die Suche nach dem Heiligen Gral. Richard Wagner machte daraus ein »Bühnenweihefestspiel«, wie er es bezeichnete. Er reduzierte, verdichtete die an vielen Geschehnissen reiche Sammlung der verschiedenen Erzählungen. Im Zentrum von Wagners Oper lag nahezu ausschließlich die Gralsthematik, die Geschichte um den wundertätigen Kelch, der in Verbindung mit dem Letzten Abendmahl Christi steht. Dass Wagner eine eigene Version ansteuerte, verdeutlichte der Dichter und Komponist schon in der gewählten Schreibform des Titels. Mit s. Aus Parzifal oder Perceval wurde bei ihm Parsifal. Im ersten Akt trifft Parsifal auf Gurnemanz. Der fürsorgliche Gralsritter befragt den jungen Ankömmling.

 

»Wo bist du her?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wer sandte dich dieses Weges?«

»Das weiß ich nicht.«

Auch bei diesem schlichten Dialog war Merana von der in jeder Szene deutlich spürbaren Einfühlsamkeit des Basssängers begeistert gewesen. Julian Bremach machte das großartig. Hanno Flesch als Parsifal wirkte dagegen ein wenig steif. Stimmlich gut, aber etwas hölzern in der Bewegung. Das hatte sich im zweiten Akt besser angelassen. In Klingsors Zaubergarten schlug sich Flesch als zwar immer noch naiver, aber allmählich doch heranreifender und immer mehr an Einsicht gewinnender Jungritter ganz gut. Und eines hatte Merana deutlich mitbekommen. In der Szene mit der rätselhaften Kundry, die Parsifal verführen sollte, ließ der Tenor sich voll auf den Spielduktus seiner Bühnenpartnerin ein. Mati Tamm übernahm, gab Tempo und Intensität vor, und Flesch folgte passabel.

Auf der Bühne war ein Stöhnen zu hören. Es kam aus Richtung des angedeuteten dunklen Strauches auf der linken Seite. Gurnemanz, der in der Bühnenmitte stand, nahe am Orchestergraben, reagierte.

»Mich dünkt, ich kenne diesen Klageruf.«

Er eilte hinüber, entdeckte unter dem Strauch eine auf dem Boden liegende Gestalt.

»Ha! Sie! – wieder da?

Das winterlich raue Gedörn hielt sie verdeckt

Nochmals ein kurzes Stöhnen.

Auf! Kundry! Auf!

Der Winter floh, und Lenz ist da!

Erwache!«

Es würde eine Weile dauern, bis Kundry sich tatsächlich erhob. Das war Merana bekannt. Leider würde er die eindrucksvolle Gesangsstimme der großartigen Mezzosopranistin bis zum Schluss nicht mehr hören. Denn Kundry hatte im dritten Aufzug nicht mehr allzu viel zu tun. Sie hatte noch ein wenig Parsifal zu betreuen, ihn mit Quellwasser zu besprengen, ihm beim Ablegen der Rüstung behilflich zu sein. So stand es zumindest in den Regieanweisungen des Librettos. Merana war gespannt, ob man das alles in dieser Inszenierung so überhaupt zu sehen bekam.

Parsifal würde bald im dritten Aufzug erscheinen. Und wie immer der Regisseur die Szene angelegt hatte, Parsifal würde vielleicht gar keine Rüstung tragen, aber wohl den Speer mit sich führen. Den hatte er im zweiten Akt aus Klingsors Zaubergarten zurückgewonnen. Damit würde er die Wunde des Amfortas schließen und gleichzeitig die gesamte Gralsgesellschaft erlösen. Ja, dachte Merana, in dieser Geschichte ging es viel um Schuld und Sühne. Auch um Sünde.

»Von sündigen Welten mit tausend Schmerzen«, singen die Jünglinge bereits im ersten Akt. »Ich, einz’ger Sünder unter allen«, bedauert König Amfortas. Auch Parsifal selbst, der anfängliche reine Tor, der viele Fehler macht, klagt über Sünde und Schuld.

Auch bei diesem Spektakel erging es ihm so wie oft, wenn er ein Spiel auf der Bühne beobachtete, wenn er den Geschehnissen eines Stückes, manchmal auch eines Filmes, folgte. Er saß hier nicht nur als kunstinteressierter Zuschauer, sondern auch als Polizist. Das konnte er nicht abstreifen. Er verfolgte die Handlung. So wie jeder andere auch. Aber ihn interessierten besondere Details, die sich oft gar nicht offenkundig präsentierten. Versteckte Motive, mögliche Gelegenheiten zur Tat, Dialoge, die an Vernehmungen erinnerten, Handlungsstränge, die so konzipiert waren, dass sie von der eigentlichen Wahrheit im Hintergrund ablenkten. Er schrieb oft im Kopf sein völlig eigenes Libretto. Oder, besser ausgedrückt, viele Fußnoten, Anmerkungen, Ermittlerfragen zum Libretto. Er konnte einfach nicht anders. Er war und blieb Kriminalpolizist. Und zwar ein guter.

Ja, dieser junge Mann, der jetzt mit dem Speer auftauchte, hatte einen Fehler gemacht. So erzählte es die Geschichte. Einen entscheidenden Fehler. Er hatte im ersten Akt die falsche Entscheidung getroffen. Er hatte gezögert. Er hatte nicht die richtige Frage gestellt. Er hatte überhaupt keine Frage gestellt. Hätte er sich anders verhalten, hätte er dem siechen Amfortas helfen können. Aber war er deshalb schuldig zu sprechen? Merana versuchte immer, aus solchen literarischen Stücken viel mitzunehmen. Auch für seine Arbeit. Die Parsifal-Handlung bestärkte einen in der Auffassung, dass man niemals zögern durfte, die richtigen Fragen zu stellen. Schon gar nicht als Polizist. Und zwar rechtzeitig, bevor es zu spät ist.

Es zu versäumen, konnte schwerwiegende Auswirkungen haben. Das zeigte sich auch bei diesem Bühnenspiel. Gurnemanz war von Parsifals Verhalten enttäuscht. Er verjagte ihn. Für Gurnemanz war Parsifal schuldig. Eindeutig. Merana war immer froh, dass er nicht über Schuld zu entscheiden hatte. Er war Ermittler. Er war kein Richter. Er hatte kein Urteil zu fällen. Wollte er auch nicht. Weder hier bei diesem fiktiven Spiel noch draußen in der Wirklichkeit.

5

Nach der Aufführung war er im Da Sandro eingekehrt. Er hatte sich zuvor einen Tisch reserviert. Das Nudelgericht, das ihm der Küchenchef und zugleich Lokalbesitzer kredenzte, war wie immer hervorragend.

»Ottimo, amico mio. Wunderbar. Bestens.«

Der kleine Sizilianer grinste übers ganze Gesicht.

»É così che deve essere, amico commissario. Wenn so ist, dann gut. Du musst … äh stentare, tormentare … wie man sagt in Deutsch?«

»Quälen?«

»Giusto. Du musst quälen dich, molte ore, für Stunden so viele, bei musica von diese sehr eigenwillige compositore tedesco, diese Maestro Wagner. Dann du verdienst zu bekommen immerhin jetzt eine gute Eindruck von bella cultura italiana.«

Er deutete mit der Hand auf den Teller.

»Pasta alla Norma. Das ist wie musica. Ganz anderes als bei Ricardo Wagner.«

Merana war klar, worauf Sandro hier anspielte. Das Nudelgericht galt als Hit der sizilianischen Küche, fein abgeschmeckt mit Ricotta salata, einen für Sizilien typischen Schafsfrischkäse. Und es ist benannt nach einer Oper, nach Norma, von Vincenzo Bellini, der aus Sizilien stammte.

»Grazie, maestro della cucina. Ja, die musica des compositore tedesco Ricardo Wagner hat wirklich lange gedauert, da gebe ich dir recht. Aber ich habe sie dennoch sehr genossen.« Er wies zum Teller. »Noch eine Frage: Von wo hast du denn dieses Mal diese köstliche Melanzane hergezaubert?«

»Quello, signor commissario ammirato, rimane un segreto, diese bleibt mein Geheimnis. Rifornitore giusto. Man muss kennen die richtige Lieferant.« Das Lachen des Sizilianers erfüllte den Raum, erwärmte Merana. Zusammen mit dem hervorragenden Nero d’Avola, der ihm zum Essen angeboten wurde.

Merana war am frühen Vormittag im Pinzgau aufgebrochen. Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz der Polizeidirektion abgestellt und war dann zu Fuß in die Innenstadt geschlendert. Nachdem er im Da Sandro einen Espresso genossen hatte, machte er sich auf den Rückweg. Es war angenehm warm. In der Altstadt herrschte belebende Regsamkeit. Das gefiel Merana. In den Gassen, auf den Plätzen. Touristengruppen, Tagesausflügler, Gäste der Osterfestspiele, und dazwischen immer wieder viele Einheimische. Die im Freien stehenden Kaffeehaustische waren bestens gefüllt. Viele genossen die Ostermontag-Festtagsatmosphäre inmitten der barocken Pracht der Salzburger Altstadt. Auf dem Mozartplatz trat ihm eine junge Frau in den Weg, durchaus freundlich. Die Kappe, die sie schräg auf dem Kopf trug, wirkte pfiffig. Eine Art Baskenmütze in dunkler Farbe. Sie drückte ihm ein Flugblatt in die Hand. Sie war eine von mehreren jungen Leuten, die reihum Blätter verteilten.

»Bitte, mein Herr, wenn auch Ihnen unsere schützenswerte Umwelt ein Anliegen ist, dann können Sie gleich hier unterschreiben!« Sie wies zu einem hölzernen Stand am Rand des Platzes. Eine junge Frau mit auffallend roten Haaren winkte herüber. Auch sie verteilte Blätter. Mehrere Leute waren dort zu sehen. Zwei ältere Frauen beugten sich über einen Tisch. Sie waren dabei, ihre Unterschrift zu hinterlassen. »Stoppt Serena!« prangte auf einer großen Tafel über dem improvisierten kleinen Kiosk. Gemeint war dabei gewiss nicht die amerikanische Tennisspielerin Serena Williams, die ihre unnachahmliche Karriere noch nicht beendet hatte. Merana schmunzelte bei dem Gedanken. Es galt, ganz anderes zu stoppen. »Schluss mit Umweltsünden!« war einem weiteren Schild zu entnehmen. Merana vermutete zu wissen, worum es dabei ging. Wenn er sich recht erinnerte, plante eine Salzburger Firma, die Serena AG, eine Betriebserweiterung irgendwo im Norden der Stadt. Dagegen regte sich Widerstand.

»Danke, ich schaue es mir an.« Er steckte das Flugblatt ein.

»Sie können unsere Petition auch im Internet unterschreiben«, rief ihm die junge Frau nach, während er rasch seinen Weg fortsetzte.

Später erzählte er davon der Großmutter beim Telefonat am Abend. Er richtete ihr zudem schöne Grüße von Sandro aus. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch schilderte er ein paar seiner Eindrücke von der Parsifal-Aufführung. Gegen 21.30 Uhr setzte er sich an den Schreibtisch und klinkte sich in den Bürocomputer ein. Er wollte noch ein wenig arbeiten, zumindest einen Teil der eingegangenen Nachrichten und dienstlichen Infos überfliegen. Er ging früh zu Bett, jedenfalls für seine Verhältnisse. Die Uhr zeigte erst kurz vor Mitternacht.

Am nächsten Morgen griff er sich Joggingschuhe und Sportdress. Er lief fast eine Stunde. Danach duschte er, gönnte sich zwei große Tassen Espresso und war um 8.50 Uhr in seinem Büro. Er überflog den Mailposteingang und kramte in den Unterlagen, die man ihm seit seiner Abwesenheit auf den Schreibtisch gelegt hatte. Gegen 9.30 Uhr griff er zum Telefon. Er wählte die Nummer der Salzburger Festspiele und ließ sich verbinden.

»Guten Morgen, Herr Kommissar. Wie geht es Ihnen? Wie hat Ihnen denn gestern die Parsifal-Aufführung gefallen? Die Frau Präsidentin hat mir von der Begegnung erzählt.«

»Guten Morgen, Frau Hertel. Alles in allem war ich sehr beeindruckt. Vor allem musikalisch. Szenisch hätte ich ein paar Anmerkungen zu machen.«

»So erging es mir auch. Ich habe die Premiere gesehen. Die Frau Präsidentin hat mich darüber informiert, dass Sie anrufen werden. Es geht um einen Termin, wie sie andeutete. Wie lange werden Sie mit der Frau Präsidentin brauchen, Herr Kommissar? Reicht für das Gespräch etwa eine halbe Stunde?«

»Aber natürlich, Frau Hertel. Das wäre fein.«

»Dann kann ich Ihnen für übermorgen etwas anbieten. Ich habe das Interview mit der Journalistin von der Süddeutschen etwas nach hinten geschoben und die geplante Besprechung mit dem Kaufmännischen Direktor verkürzt, dann geht sich das gut aus. Sagen wir, um 11.20 Uhr bei uns im Büro?«

»Sehr gerne. Das passt bestens. Vielen Dank, Frau Hertel.«

»Nichts zu danken, Herr Kommissar. Für Sie immer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

»Gleichfalls, Frau Hertel.«

Er legte auf, widmete sich den Unterlagen und den Infos im PC.

Gegen Mittag klopfte es.

»Ja, bitte.«

In der geöffneten Tür erschien der Abteilungsinspektor.

»Hallo, Otmar.« Er deutete mit der Hand auf einen der freien Stühle.

 

Sein Freund und Kollege nahm Platz, legte eine dünne grüne Mappe auf Meranas ohnehin angefüllten Schreibtisch.

»Wie war es im Pinzgau bei der Großmutter?«

»Ich bin froh, dass sie immer noch in guter Verfassung ist. Das Miteinander hat uns beiden wohlgetan.«

»Warst du schon beim Chef, Martin?« Dem Kommissar entfuhr ein Schnauben. Nein, das stand ihm noch bevor. Aber das hatte Zeit.

»Ich schaue am Nachmittag zu ihm rüber. Aber den lieben Günther interessiert derzeit ohnehin nur eines: ob mir etwas Passendes eingefallen ist, damit er sich bei den Kollegen, die über Pfingsten zum Meeting kommen, glanzvoll präsentieren kann.«

Der Abteilungsinspektor grinste.

»Und ist dir etwas eingefallen, Herr Kommissar?«

Merana vollführte eine abschätzige Handbewegung. »Möglicherweise. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass du mit mir darüber reden willst. Also, was kann ich für dich tun, Herr Abteilungsinspektor?«

Otmar Braunberger beugte sich vor. Er öffnete die grüne Mappe.

»Ich habe dir dazu eine kurze Mailnachricht geschickt.«

Der Kommissar blickte auf den Schnellhefter.

»Ja, ich erinnere mich. Die Nachricht habe ich gestern Abend von zu Hause aus schnell überflogen. Es geht um diese Knochen, die man am Karfreitag auf dem Kapuzinerberg gefunden hat.«

Er zog die geöffnete Mappe näher heran, blickte auf die Bilder.

»Es gab am Abend einen Fernsehbericht. Den habe ich gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, ging es dabei nur um das tote Gamstier. Von menschlichen Knochen wurde nichts erwähnt.«

Der Abteilungsinspektor nickte. »Die zum Kapuzinerberg gerufenen Kollegen haben das mit den Journalisten gleich abgeklärt. Tote Gämse ja, menschliche Skelettteile nein.«

Der Kommissar nickte, studierte die Bilder, blätterte um.

»Ich erkenne keinen direkten Zusammenhang, ob das überhaupt etwas für uns ist. Wenn es sich um einen polizeilichen Fall handelt, dann liegt das Ganze sehr weit zurück. Vielleicht sogar an die 100 Jahre, wie ich deinen Notizen entnehme. Es wäre mir lieb, Otmar, wenn du dich darum kümmern kannst. Ich bin mit anderer Arbeit eingedeckt. Halt mich auf dem Laufenden, falls sich etwas Interessantes ergibt.« Er schloss die schmale Mappe, schob sie zurück.

Er stockte. Das Gesicht seines langjährigen Mitarbeiters und Freundes blickte ihn ernst an. Sehr ernst.

»Ist noch etwas, Otmar?«

»Ja, Martin.« Der Abteilungsinspektor räusperte sich. »Es hat sich etwas ergeben. Deshalb bin ich hier.«

Merana schaute auf die Uhr. Das geschah eher unwillkürlich. Die beiden kannten einander sehr lange. Er konnte seinem Freund und Mitarbeiter direkt sagen, dass er mit vielen Aufgaben eingedeckt war und wenig Zeit hatte. Da brauchte es keinen verstohlenen Hinweis durch einen Blick zur Uhr.

»Ich nehme an, es ist wichtig, Otmar. Sehr wichtig?«

Der andere nickte, griff in die Tasche seines Sakkos. Als er die Hand hervorzog, hielt er einen kleinen Gegenstand in den Fingern. Er legte ihn auf den Schreibtisch.

»Dieser Ring wurde zusammen mit den Skelettteilen gefunden.«

Der Kommissar schaute den Kollegen leicht verwundert an.

»Davon habe ich gestern nichts in deiner Mailnachricht gelesen.«

»Nein. Davon stand nichts in der Notiz. Ich hielt es zu dem Zeitpunkt nicht für so wichtig.«

»Aber jetzt schon. Was ist mit diesem Ring?«

»Ich habe ihn gestern unseren Technikern weitergegeben zur genaueren Untersuchung.«

»Und?«

»Die Jungs von Thomas Brunner waren erfolgreich.«

Mit dem Chef der Tatortgruppe hatte er heute einen Termin, fiel ihm ein. Wegen einer anderen Angelegenheit. Er streckte die Hand aus, nahm das kleine Schmuckstück. Es machte keinen besonderen Eindruck, schien alt und abgegriffen. Doch an der Innenseite war der Ring offenbar kürzlich behandelt worden. Von den Technikern, wie Merana annahm. Die behandelte Stelle war hell poliert. Er hielt den Ring näher ans Auge.

»Da ist etwas zu erkennen, Otmar. Sind das Ziffern?«

Der Angesprochene nickte.

»Ja. 21, 6, 44.«

Die Inschrift war sehr klein, aber man konnte sie gut ausmachen. Unter dem Mikroskop der Techniker waren die Ziffern sicher eindeutig erkennbar.

»21, 6, 44 – das könnte ein Datum sein.« Er drehte den Ring in den Fingern. Dann probierte er, ihn sich anzustecken. Doch nicht einmal an Meranas kleinem Finger passte er. »Die Hand, die ihn trug, war gewiss schmal. Der Ring könnte ein Geburtstagsgeschenk gewesen sein. Vielleicht handelt es sich um einen Ehering. Dann könnte es sich bei den Ziffern um ein Hochzeitsdatum handeln.«

»Ja, davon bin ich auch ausgegangen.«

Der Abteilungsinspektor nahm die Mappe in die Hand.

»Wie du weißt, habe ich gute Beziehungen zu den Beamten im Magistrat. Zu denen im Standesamt genauso wie zu denen im Archiv. Ich habe mich heute Früh an die Magistratskollegen gewandt. Vor wenigen Minuten erhielt ich diesen Archivauszug.«

Er kramte im Ordner, zog aus den hinteren Unterlagen ein Blatt hervor.

»Was ist das?«

»Die Kopie einer Heiratsurkunde. Vom 21. Juni 1944.«

Braunberger reichte Merana das Blatt.

»Ich möchte, dass du dir das genau anschaust, Martin. Und dann wirst du entscheiden, wie es weitergehen soll.«

Der ernste Tonfall in der Stimme seines Mitarbeiters irritierte ihn. Auch die Formulierung klang eigenartig. Merana nahm das Blatt in die Hand. Das darauf abgebildete Dokument war alt, gelbstichig. Was ihm sofort ins Auge sprang, war der auffällige Stempelabdruck. Ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Unter seinen Krallen ein großes Hakenkreuz. Das war zu erwarten gewesen. 1944. Natürlich, ein Hakenkreuz. Aber es irritierte ihn dennoch. Es war mehr als bloße Irritation. Er spürte tiefe Ablehnung in sich aufsteigen. Widerwillen. 1944, da hatte es kein Österreich mehr gegeben. Schon einige Jahre nicht mehr. Da war seine heutige Heimat Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Der historische Sachverhalt war eindeutig. Und die Österreicher hatten sich in großen Scharen jubelnd den neuen Machthabern zugewandt. Sie waren keine Opfer. Viele wurden Mittäter. Daran bestand kein Zweifel. Das war lange vor seiner Geburt geschehen. Er konnte nichts dafür. Aber er verspürte dennoch eine Mischung aus Wut und Traurigkeit, wenn er daran dachte. Langsam ließ er die Augen über das abgebildete Dokument gleiten. Das Datum war deutlich zu erkennen, notiert in gestochen klarer Schrift. »Heiratsurkunde« stand am Kopf des Dokuments, in dicken gotischen Frakturlettern. Zu Beginn des Textes hieß es:

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschienen heute zum Zwecke der Eheschließung …

Dann waren die Namen notiert. In deutscher Kurrentschrift. Damit war er nicht allzu vertraut. »Dein Opa hat sich alles in Kurrent notiert. Manchmal sogar auf Rezepten. Das war aber für unseren Apotheker kein Problem«, hatte ihm die Großmutter öfter über die Schreibgewohnten ihres Mannes berichtet. Sein Großvater war praktischer Arzt gewesen. Merana hatte sich Kurrentschrift in der Volksschulzeit selbst beigebracht. Einfach aus Interesse. Er blickte intensiver auf das Blatt. Vielleicht reichten seine spärlichen Kenntnisse noch. Natürlich konnte er das die Techniker lösen lassen. Und er konnte getrost davon ausgehen, dass auch Otmar wusste, was hier stand. Aber er wollte es selbst probieren. Seine Augen wanderten über die ersten Buchstaben.

Der Obergefreite Niklas Stirner … las er.

Stirner? Er hielt inne, blickte verdutzt auf. Stirner? Konnte das sein? Er schüttelte den Kopf. Wohl eher nicht. Seine Augen glitten weiter. … geboren 13. April 1922. Die Entzifferung der angegebenen Adresse ließ er beiseite. Was ihn mehr interessierte, war der Name der Braut. … und die Verkäuferin Maresa Grubtal … Sein Atem stockte. Also doch? Nach ihrer Verehelichung hieß die Frau natürlich nicht mehr Grubtal mit Familiennamen, sondern ebenfalls Stirner.

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