Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung

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J. Zirkelschluss der Tatherrschaftslehre

28

Des Weiteren wird der Tatherrschaftslehre vorgeworfen, in Bezug auf das tatbestandsmäßige Geschehen an einem unauflöslichen Zirkelschluss zu leiden.[1] Wenn sich die Frage nach Tatherrschaft und damit Täterschaft danach entscheiden solle, wer die zentrale Gestalt des tatbestandsmäßigen Geschehens sei, sei es ausgeschlossen, das Tatherrschaftskriterium bereits für die Frage heranzuziehen, was genau das tatbestandsmäßige Geschehen denn eigentlich sei. Die Tatherrschaftslehre mache die folgenden Kriterien zur Voraussetzung für das tatbestandsmäßige Geschehen: Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, objektive Zurechnung und Tatherrschaft. Vor diesem Hintergrund könne das Kriterium der Tatherrschaft darüber hinaus nicht auch noch darüber entscheiden, wer die zentrale Gestalt dieses tatbestandsmäßigen Geschehens sei, denn die Frage nach Tatherrschaft werde bereits auf der unteren Ebene zur Bestimmung des tatbestandsmäßigen Geschehens herangezogen. Bei einer solchen Vorgehensweise laufe der Begriff der Tatherrschaft daher Gefahr, zur Voraussetzung seiner selbst zu werden.[2] Dieser Zirkelschluss habe zur Folge, dass der Tatherrschaftsbegriff sich nicht zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme eigne. Dies ergebe sich zusätzlich aus Folgendem: Wenn Tatherrschaft erst das tatbestandsmäßige Geschehen konstituiere, sei es ausgeschlossen, Teilnehmer als Teil des tatbestandsmäßigen Geschehens anzusehen, denn Teilnehmer hätten eben gerade keine Tatherrschaft. Wenn aber Teilnehmer – was die zwingende Folge wäre – außerhalb des tatbestandsmäßigen Geschehens stünden, könne das tatbestandsmäßige Geschehen für Teilnehmer im Rahmen der Tatherrschaftslehre auch nicht der Bezugsrahmen für ihre Strafbarkeit sein. Zwingende Folge wäre also, dass Täterschaft und Teilnahme einen unterschiedlichen Bezugsrahmen hätten.[3]

Anmerkungen

[1]

Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S. 293 f.

[2]

Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S. 293.

[3]

Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, S. 294.

K. Zwischenfazit zur neuesten Kritik an der Tatherrschaftslehre

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Die weitere Kritik an der Tatherrschaftslehre lässt sich in zwei verschiedene Kategorien unterteilen, denen jedoch derselbe Kern innewohnt. Dadurch, dass für eine Vielzahl von Delikten das tatbestandsrelevante Verhalten nicht hinreichend geklärt sei, sei die Tatherrschaftslehre gezwungen, dieses selbst zu konstituieren. Hierzu sei sie jedoch nicht in der Lage, weil sie zum einen keinen objektiven Bewertungsmaßstab enthalte und weil sie zum zweiten stets in einer relativen Abhängigkeit zum Oberbegriff des tatbestandsmäßigen Erfolges stehe. Darüber hinaus – und dies ist der vordringlichster Einwand – verlange die Tatherrschaftslehre jedoch Unmögliches, wenn sie fordere, dass der Begriff der Tatherrschaft sowohl unrechtskonstituierend (Bestimmung des tatbestandsmäßigen Geschehens) als auch unrechtsbewertend (Bewertung des tatbestandsmäßigen Geschehens) wirken solle.

Sämtliche der vorstehend geschilderten Einwände gegen die Tatherrschaftslehre verdeutlichen, dass die Anwendbarkeit des Tatherrschaftskriteriums auf einen bestimmten Straftatbestand maßgeblich von der Frage abhängt, inwieweit sich für diesen Tatbestand die Tatbestandshandlung konkret definieren lässt. Wenn dies nicht möglich ist und statt auf ein bestimmtes Verhalten allein an die irgendwie geartete Verursachung des tatbestandlichen Erfolges angeknüpft werden kann, gerät die Tatherrschaftslehre in nachhaltige Schwierigkeiten, weil sie für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme maßgeblich auf die Vornahme der Tatbestandshandlung abstellt. Wenn die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, sowie die dogmatische Herleitung von Täterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung, anhand des Kriteriums der Tatherrschaft geschehen soll, bedarf es einer Klärung der Frage, welches die spezifische Tatbestandshandlung der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ist.

L. Fazit zur neuesten Kritik an der Tatherrschaftslehre

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Vorstehend wurde eine Reihe von Einwänden gegen die Tatherrschaftslehre vorgestellt, die sich möglicherweise auf den Bereich der Steuerhinterziehung übertragen lassen. Einige dieser Einwände beschäftigen sich mit den dogmatischen Grundlagen, andere mit den praktischen Auswirkungen der Tatherrschaftslehre. Sie alle eint die Auffassung, dass die Tatherrschaftslehre insgesamt nicht geeignet sei, einerseits die einzelnen Varianten von Täterschaft untereinander und andererseits Täterschaft von Teilnahme hinreichend sicher abzugrenzen. Ein Ziel der sich anschließenden Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung ist es, diese Kritik aufzugreifen und zum wertenden Korrektiv für die Frage nach der Anwendbarkeit des Kriteriums der Tatherrschaft für die Herleitung von Täterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung zu machen.

Teil 4 Grundsätzliches zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme bei der Steuerhinterziehung

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Um die Probleme bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung auf der Grundlage der aktuellen Entwicklungen in der wissenschaftlichen Diskussion bezüglich der Tatherrschaftslehre näher untersuchen zu können, bedarf es zunächst eines Blicks auf den Tatbestand der Steuerhinterziehung. Der Straftatbestand der Steuerhinterziehung ist innerhalb des § 370 AO in sieben Abschnitte eingeteilt. Für die Untersuchung von Tatherrschaft bei der Steuerhinterziehung steht der erste Absatz im Zentrum des Interesses, der normiert, wer sich wegen Steuerhinterziehung strafbar macht. Die nachfolgenden Absätze, die sich unter anderem mit der Strafbarkeit des Versuchs (Abs. 2), der Regelung eines besonders schweren Falles (Abs. 3) und einer Beschreibung des Taterfolges (Abs. 4) auseinandersetzen, sind im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dagegen von untergeordneter Bedeutung.

Normative Grundlage für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung ist § 369 Abs. 2 AO. Danach gelten für Steuerstraftaten die allgemeinen Gesetze über das Strafrecht, soweit die Strafvorschriften der Steuergesetze nichts anderes bestimmen. Im Hinblick auf Täterschaft und Teilnahme gibt es keine speziellen Regelungen in den Strafvorschriften der Steuergesetze, was die Anwendbarkeit des § 25 StGB mitsamt den hierzu vertretenen Täterlehren zur Folge hat. Wie einleitend ausgeführt, wird für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme ganz überwiegend „die Tatherrschaftslehre“ zugrunde gelegt.[1] Es findet sich jedoch zumeist keine klare Aussage dazu, welche der verschiedenen denkbaren Formen der Tatherrschaftslehre[2] konkret zur Grundlage gemacht wird.[3] Vor diesem Hintergrund fokussiert sich die nachfolgende Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung auf die Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne. Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass diese Lehre heute wohl als gedanklicher Ausgangspunkt aller Tatherrschaftslehren herangezogen werden kann, was den Ansatz nahe legt, eine Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung in erster Linie an diesem Maßstab zu messen. Auf dieser Grundlage soll nachfolgend zunächst untersucht werden, inwieweit die Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne überhaupt dem Grunde nach auf die Steuerhinterziehung übertragbar ist. Hintergrund dieser Frage ist der Umstand, dass Roxin das Tatherrschaftskriterium lediglich im Bereich sogenannter „Allgemeindelikte“ für anwendbar hält, wohingegen im Bereich sogenannter „Pflicht-“ und „eigenhändiger“ Delikte die Tatherrschaft nicht das entscheidende Kriterium bei der Bestimmung von Täterschaft sein soll.[4] Vor diesem Hintergrund bedarf es nachfolgend zunächst einer Einordnung des Deliktscharakters der Steuerhinterziehung. Daran anschließend soll der Blick kurz auf die Bestimmung von Täterschaft im Rahmen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO gerichtet werden. Sodann geht es um die Frage, zu welchen Ergebnissen die Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne im Rahmen der Steuerhinterziehung kommt und zu welchen Schwierigkeiten ihre Anwendung in Bezug auf die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme führt. Diese Untersuchung wird sich an der von § 25 StGB vorgegebenen Struktur orientieren und demzufolge jeweils gesondert die Anwendbarkeit des Tatherrschaftskriteriums auf die unmittelbare-, die mittelbare- und die Mittäterschaft untersuchen.

Anmerkungen

[1]

Siehe dazu bereits obenRelativität des Rn. 1 ff.

[2]

Siehe bzgl. einer ausführlichen Darstellung verschiedener Tatherrschaftslehren Schild Tatherrschaftslehren, insbesondere S. 33 ff.

[3]

Soweit ersichtlich stellt allein Ransiek Kohlmann Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 98.1 ausdrücklich auf das von Frister geprägte Kriterium der „Entscheidungsherrschaft“ ab. Siehe dazu Frister Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 351 ff.

 

[4]

Siehe dazu bereits oben Rn. 14 ff.

Teil 5 Der Deliktscharakter des § 370 Abs. 1 AO

Inhaltsverzeichnis

A. § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt

B. § 370 Abs. 1 AO als reines Allgemeindelikt

C. Stellungnahme

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Zunächst ist somit der Deliktscharakter des § 370 Abs. 1 AO und damit die Frage von Bedeutung, inwieweit es sich bei § 370 Abs. 1 AO um ein Allgemeindelikt oder ein Pflichtdelikt handelt.

Ausgehend vom Wortlaut des § 370 Abs. 1 AO lässt sich dessen Deliktscharakter dem ersten Anschein nach umstandslos einordnen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen der Nr. 1 einerseits und den Nrn. 2 und 3 andererseits. Wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO) macht sich strafbar, wer pflichtwidrig handelt. Die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung setzt damit in den Unterlassungsvarianten dem Wortlaut nach die Verletzung einer spezifischen Pflicht voraus. Es scheint daher alles dafür zu sprechen, dass § 370 Abs.1 Nr. 2 und Nr. 3 AO als Pflichtdelikte im von Roxin verstandenen Sinne zu kategorisieren sind.[1] Anders verhält sich dies dagegen bei einer Betrachtung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Hier verzichtet der Gesetzgeber dem Wortlaut des Tatbestandes nach auf die Verletzung einer spezifischen Verpflichtung und knüpft stattdessen ganz allgemein an das Tätigen unrichtiger oder unvollständiger Angaben als Tathandlung an. Damit scheint auch der Deliktscharakter des § 370 Abs.1 Nr. 1 AO auf der Hand zu liegen: Dadurch, dass der Gesetzgeber positiv an ein tatbestandsmäßiges Handeln und gerade nicht an ein pflichtwidriges Unterlassen anknüpft, wirkt die Steuerhinterziehung in der Begehungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO geradezu als Prototyp eines Herrschaftsdeliktes, das keine spezifische Pflichtverletzung voraussetzt und in dessen Rahmen es zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme deshalb auf das Kriterium der Tatherrschaft ankommen müsste. Bei unbefangener Betrachtung des Steuerhinterziehungstatbestandes zeichnet sich demnach insgesamt ein verhältnismäßig eindeutiges Bild von dessen Deliktscharakter. Trotzdem werden gegen die Differenzierung des § 370 Abs. 1 AO in ein Allgemeindelikt (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) und zwei Pflichtdelikte (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO) verschiedene Einwände vorgetragen.

Anmerkungen

[1]

BGH v. 24.10.2002, 5 StR 600/01, wistra 2003, 100 (102); v. 12.11.1986, 3 StR 405/86, wistra 1987, 147; Ransiek Kohlmann Steuerstrafrecht § 370 AO Rn. 87, 276; MünchKommStGB/Schmitz/Wulf § 370 AO Rn. 282, 351; Seer Steuerrecht, § 23 Rn. 26.

A. § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt

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Es gab und gibt bis heute vereinzelte Stimmen, die § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt interpretieren wollen.[1] Bei unterstellter Richtigkeit dieser Auffassung sowie einer strengen Anwendung der Tatherrschaftslehre im Sinne Roxins wäre das Tatherrschaftskriterium dann nicht das maßgebliche Kriterium, um Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung voneinander abzugrenzen.

Ursprünglich konnte sich diese Auffassung noch auf den Wortlaut des § 392 RAO 1931 stützen, der Steuerstraftaten für eine „Verletzung von Pflichten, die Steuergesetze im Interesse der Besteuerung auferlegen“, hielt.[2] Nach dem ersatzlosen Wegfall des § 392 RAO 1931 im Zuge des 2. AOStrafÄndG wurde diesem Argument jedoch die Grundlage entzogen.[3]

Heute wird der Versuch unternommen, diesen Ansatz auf ein neues Fundament zu stellen. Hierzu wird die Auffassung vertreten, dass das tatbestandliche Unrecht des § 370 Abs. 1 AO insgesamt in der Verletzung einer steuerlichen Mitwirkungspflicht gesehen werden und daher § 370 Abs. 1 AO vollständig als Pflichtdelikt interpretiert werden müsse.[4] Gedanklicher Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass es im Rahmen der Abgrenzung zwischen einer Steuerhinterziehung durch aktives Tun und einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen zu – zum Teil unüberbrückbaren – Abgrenzungsschwierigkeiten komme. Diese könnten nur dann vermieden werden, wenn § 370 Abs. 1 AO einheitlich als Pflichtdelikt interpretiert werde.[5]

Die Steuerhinterziehung stelle in ihrem eigentlichen Kern ein Unterlassungsdelikt dar. Grund hierfür sei, dass der Fiskus in aller Regel keine eigene Kenntnis von dem ihm zustehenden Steueranspruch habe, sondern für dessen Ermittlung auf die Mitwirkung der Steuerpflichtigen durch Abgabe ihrer steuerrelevanten Daten angewiesen sei. Hieraus ergebe sich eine echte Mitwirkungspflicht. Werde diese verletzt, liege eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen vor.[6] Nur in Ausnahmefällen sei von einer Steuerhinterziehung durch aktives Handeln auszugehen. Dies sei nur dann der Fall, wenn der Fiskus ausnahmsweise selbst – ohne auf Mitwirkungspflichten angewiesen zu sein – Kenntnis von seinem Steueranspruch habe.[7] Dies wiederum sei dann der Fall, wenn der Fiskus selbst über die notwendigen Informationen zur Steuerfestsetzung verfüge. Steuerhinterziehung durch aktives Tun stelle sich in diesen seltenen Fällen als „Abbruch eines rettenden Kausalverlaufes“ dar, weil der Fiskus ohne das nachträgliche aktive Eingreifen durch das Tätigen falscher Angaben seinen berechtigten Steueranspruch hätte durchsetzen können.[8] Tatgerichte hätten also bisweilen die schwierige Aufgabe, zwischen aktivem Handeln und Unterlassen zu unterscheiden. Hierbei ergäben sich jedoch erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht. In objektiver Hinsicht sei beispielsweise in vielen Fällen problematisch, dass die Strafgerichte im Zeitpunkt der Hauptverhandlung – „also regelmäßig Jahre nach Abgabe der unrichtigen Erklärung“[9]- noch festzustellen hätten, ob der Fiskus ohne die unrichtigen Angaben zu einer zutreffenden Steuerfestsetzung gekommen wäre und damit ein rettender Kausalverlauf vorgelegen habe, der erst durch die falschen Angaben abgebrochen worden sei. Eine solche Feststellung sei aufgrund des regelmäßig hohen Zeitablaufs in der überwiegenden Zahl der Fälle jedoch nicht mehr mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu treffen.[10] Schwierigkeiten ergäben sich darüber hinaus aber auch bei der Feststellung des subjektiven Tatbestandes. Hier sei es zumeist schwierig, dem Angeklagten im Prozess nachzuweisen, dass der rettende Kausalverlauf, also die Tatsache, dass die Finanzbehörde zu einer zutreffenden Steuerfestsetzung gekommen wäre, wenn er keine falschen Angaben gemacht hätte, von seinem Vorsatz umfasst war. Dies sei vor allem deshalb problematisch, weil es sich bei der Steuerfestsetzung regelmäßig um einen internen Behördenvorgang handele, von dem der Angeklagte im Normalfall keinerlei Kenntnis haben könne. Ohne genaue Kenntnis von einem Umstand sei es jedoch nur schwer möglich, Vorsatz auf genau diesen Umstand zu haben, beziehungsweise für die Gerichte, diesen Vorsatz hinreichend sicher nachzuweisen.[11] Hieran verdeutlichten sich die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen aktivem Tun und pflichtwidrigem Unterlassen im Bereich der Steuerhinterziehung.

In Anbetracht der Tatsache, dass § 370 Abs. 1 AO im Hinblick auf seinen persönlichen Anwendungsbereich so interpretiert werden müsse, dass eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen nicht von jedermann, sondern nur von im konkreten Fall Erklärungspflichtigen begangen werden könne, komme der Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen jedoch ein extrem hoher Stellenwert zu. Dieser Stellenwert führe dazu, dass die skizzierten Abgrenzungsschwierigkeiten nicht hinnehmbar seien.[12] Denn, wenn sich nicht mit der für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit feststellen lasse, ob ein Handeln oder ein Unterlassen vorgelegen habe, müsse eine Person, die nicht unter den persönlichen Anwendungsbereich des § 370 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 AO falle, im Zweifel freigesprochen werden, weil in diesen Fällen eben nicht ausgeschlossen werden könne, dass nur ein Unterlassen vorlag.[13]

Derart unbefriedigende Ergebnisse ließen sich vermeiden, wenn der Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen keine entscheidende Bedeutung bei der Bestimmung von Täterschaft zugemessen werden müsste. Dies sei aber nur dann möglich, wenn § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden könne, denn im Rahmen von Pflichtdelikten sei die konkrete Verhaltensform für die Bestimmung der Strafbarkeit weitgehend unerheblich. Das Verhaltensunrecht dieser Delikte bestehe nämlich allein in der Verletzung der konkreten Verpflichtung, wobei es nicht darauf ankomme, ob diese Pflicht durch aktives Tun oder durch Unterlassen verletzt werde.[14]

Werden somit die Motive für die Auffassung, die Steuerhinterziehung müsse insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden deutlich, stellt sich die weitergehende Frage, auf welche dogmatische Grundlage diese Interpretation gestützt werden kann. In der steuerlichen Mitwirkungspflicht wird ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 StGB gesehen, das nicht auf § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO beschränkt sei, sondern zusätzlich für § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gelte und damit auch diesen Tatbestand einer Interpretation als Pflichtdelikt zugänglich mache.[15] Hier bestehen Parallelen zu der Pflichtdeliktslehre Roxins. Dieser knüpfe die Interpretation eines Straftatbestandes als Pflichtdelikt an bestimmte Voraussetzungen, wobei eine Analyse des § 370 Abs. 1 AO zeige, dass dieser Tatbestand sämtliche der von Roxin für ein Pflichtdelikt aufgestellten Voraussetzungen erfülle. Nach dem Verständnis Roxins sei konstituierende Voraussetzung von Pflichtdelikten, dass eine Person gegen ihr obliegende Leistungsanforderungen einer bestimmten sozialen Rolle verstoße, und dieser Verstoß die Funktionsfähigkeit eines bestimmten Lebensbereiches gefährdet habe.[16] Dieses Bild entspreche exakt dem abstrakten Regelungsgehalt des § 370 Abs. 1 AO. Außerstrafrechtliche, steuerliche Mitwirkungspflichten würden jedermann eine bestimmte soziale Rolle zuschreiben. Bei einem Verstoß gegen diese Pflichten komme es zu einer Verletzung der dem Verpflichteten zugeschriebenen sozialen Rolle. Hierdurch gefährde er das Steuersystem als geschützten Lebensbereich. Eine derartige Interpretation gelte insbesondere auch für den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, was dazu führe, dass § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden müsse.[17]

Neben den vorstehend geschilderten Überlegungen lassen auch systematische Überlegungen Raum für Spekulationen, ob nicht § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden müsste.[18] Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist ein Vergleich des § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO mit § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO. Nach der zweiten Alternative der Nr. 1 des § 370 Abs. 1 AO macht sich wegen Steuerhinterziehung strafbar, wer über steuerlich erhebliche Tatsachen unvollständige Angaben macht. Nun sei zu überlegen, ob nicht das aktive Tätigen unvollständiger Angaben gleichsam als Kehrseite immer auch das Unterlassen vollständiger Angaben beinhalte.[19] Interpretiere man demgemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO als Unterlassungsdelikt, müsse auch die besondere Pflicht aus Nr. 2 und Nr. 3 hierher übertragen werden, weil ein strafrechtlicher Unterlassungsvorwurf nur dann gerechtfertigt sei, wenn den Unterlassenden korrespondierend eine Handlungspflicht treffe. Wenn als Folge derartiger Überlegungen neben § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO auch § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO als Pflichtdelikt zu interpretieren sei, könne dieser Umstand als systematisches Argument erwogen werden, auch § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 AO und damit § 370 Abs. 1 AO insgesamt als Pflichtdelikt zu charakterisieren.[20]

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass mit dem Vorstehenden zwei denkbare Argumentationsmuster dargetan sind, auf deren Grundlage § 370 Abs. 1 AO – entgegen seines scheinbar eindeutigen Wortlauts – insgesamt als Pflichtdelikt interpretiert werden könnte, was zu einer Unanwendbarkeit der Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne führen würde.

 
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