Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung

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B. Willensherrschaft als Tatherrschaftsmerkmal des mittelbaren Täters

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Ansatzpunkt der kritischen Auseinandersetzung mit Tatherrschaft bei mittelbarer Täterschaft ist das von Roxin geprägten Kriterium der „Willensherrschaft“. Wie oben[1] gezeigt, geht Roxin davon aus, dass der mittelbare Täter Tatherrschaft kraft Willensherrschaft habe. Willensherrschaft gliedere sich wiederum auf in Nötigungsherrschaft, Irrtumsherrschaft und Tatherrschaft kraft der Beherrschung eines organisatorischen Machtapparates. Es wird zunächst ganz grundsätzlich bezweifelt, ob es möglich sei, diese drei – dem ersten Anschein nach völlig unterschiedlichen Herrschaftsformen – aus demselben Oberbegriff, also der Willensherrschaft, abzuleiten. Auch der Terminus der „Willensherrschaft“ sei für sich genommen missverständlich, da die Gefahr bestehe, „Willensherrschaft“ mit „Willensbeeinflussung“ gleichzusetzen, was aber mit dem Gedanken der Tatherrschaft, der eben „Herrschaft“ und nicht lediglich „Einfluss“ verlange, unvereinbar sei.[2]

Anmerkungen

[1]

Siehe dazu oben Rn. 9.

[2]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 98 f.

Teil 3 Neueste Kritik an der Tatherrschaftslehre › B. Willensherrschaft als Tatherrschaftsmerkmal des mittelbaren Täters › I. Das Kriterium der Irrtumsherrschaft

I. Das Kriterium der Irrtumsherrschaft

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Im Anschluss an diese grundsätzlichen Einwände findet eine kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen Erscheinungsformen von Willensherrschaft statt.

Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Irrtumsherrschaft ist Ansatzpunkt die Annahme, Roxin knüpfe Irrtumsherrschaft im Wesentlichen an zwei Voraussetzungen. Dies sei zum einen das „Mehrwissen des Hintermannes, welches ihm die Möglichkeit einer sinngebenden Überdetermination verleihe“ (zielgerichtete beziehungsweise finale Überdetermination) und zum anderen „der Irrtum des Vordermannes, durch den dessen freiem Willen keine Hemmungsmotive entgegengesetzt würden“ (fehlende Hemmungsmotive).[1] Der entscheidende Einwand, der hier gegen das Kriterium der Irrtumsherrschaft angeführt wird, besteht darin, dass das Roxinsche Verständnis von Irrtumsherrschaft in Fällen versage, in denen mehrere Personen den Kausalverlauf vorsätzlich und in Ausnutzung eines „Mehr an Wissens“ beeinflussten. In Fällen, in denen mehrere Personen den Kausalverlauf beeinflussten, ließe sich nämlich nicht ohne weiteres feststellen, welche der Personen die Möglichkeit der sinngebenden beziehungsweise finalen Überdetermination habe. Finale Überdetermination bedeute, dass der Hintermann zielgerichtet (final) in die Kausalfaktoren des Tatgeschehens eingreife und dieses dadurch beherrsche. Erst durch dieses zielstrebige Eingreifen würden die Kausalfaktoren derart verknüpft, dass sie den beabsichtigten Erfolg zwingend herbeiführen müssten. Aus diesem Grund sei dem final Handelnden die Tat als „sein Werk“ zuzurechnen.[2] Der Hintermann sei in diesen Fällen also die einzige Person, die das gesamte Geschehen überblicke, wohingegen dies auf den – sich in einem Irrtum befindenden – Vordermann gerade nicht zutreffe, weil dessen Verhalten aufgrund seines Irrtums nicht durch Hemmungsmotive beeinflusst sei. Aufgrund dieser überlegenen Stellung lenke er das Geschehen und habe daher nach Auffassung der Anhänger der Tatherrschaftslehre Tatherrschaft.[3] Ein solches Verständnis von Irrtumsherrschaft versage jedoch dort, wo nicht eine einzelne, sondern mehrere Personen die Möglichkeit hätten, den Kausalverlauf zu beeinflussen.[4] Denn sobald mehrere Personen beteiligt seien, müsse auch zwischen diesen Personen, also gleichsam auf horizontaler und nicht nur auf vertikaler Ebene, eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme erfolgen. Das Kriterium der Finalität sei hierfür ungeeignet, weil Täter wie Teilnehmer gleichermaßen final handelten und sich aus der bloßen ex post Feststellung, dass ein finales Handeln vorlag, deshalb keine Rückschlüsse dahingehend ziehen ließen, ob der final handelnde Täter oder Teilnehmer gewesen sei.[5] Alternative Abgrenzungskriterien halte die Tatherrschaftslehre für derartige Fallgestaltungen nicht bereit.[6] Eine Täterlehre, deren Kriterien jedoch bereits dann versagten, wenn die Strafbarkeit von mehr als einer Person bestimmt werden solle, sei insgesamt abzulehnen.[7]

Für die Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO wirft dies die Frage danach auf, inwieweit sich das Kriterium der Irrtumsherrschaft auf die Herleitung von mittelbarer Täterschaft in Fällen der Steuerhinterziehung anwenden lässt, in denen sich ein unmittelbar Handelnder in einem Irrtum befindet, der es ihm unmöglich macht, sein Verhalten durch Hemmungsmotive zu beeinflussen, wohingegen im Hintergrund eine oder mehrere Personen vorhanden sind, die die Möglichkeit haben, den gesamten Kausalverlauf zu überblicken.

Anmerkungen

[1]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 115.

[2]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 117.

[3]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 118.

[4]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 119.

[5]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 119.

[6]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 119 f.

[7]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 121.

Teil 3 Neueste Kritik an der Tatherrschaftslehre › B. Willensherrschaft als Tatherrschaftsmerkmal des mittelbaren Täters › II. Das Kriterium der Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate

II. Das Kriterium der Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate

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Darüber hinaus sieht sich auch das Tatherrschaftskriterium der Willensherrschaft kraft der Beherrschung eines organisatorischen Machtapparates der Kritik ausgesetzt. Wie oben gesehen, hält Roxin in diesem Bereich die Fungibilität, also die unbegrenzte Ersetzbarkeit des unmittelbaren Täters, die dem Hintermann die Tatausführung garantiere und ihn das Geschehen beherrschen lasse, für das entscheidende – Tatherrschaft vermittelnde – Kriterium.[1]

Zentraler Einwand gegen die Organisationsherrschaft ist an dieser Stelle, dass hier ohne hinreichende dogmatische Begründung typische Anstiftungshandlungen vertäterschaftlicht würden, was jedoch im Strafgesetzbuch nicht vorgesehen sei und daher zwingend zu willkürlichen Ergebnissen führe.[2] Insgesamt mache die Lehre von der Organisationsherrschaft nicht hinreichend deutlich, worin ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen mittelbarer Täterschaft kraft der Beherrschung eines Organisationsapparates und bloßer Anstiftung bestehen solle. Die größere Sicherheit der Tatbestandsverwirklichung – also die Gewissheit des Hintermannes, dass die Tat ausgeführt werde – in Fällen der Organisationsherrschaft gegenüber den Fällen der Anstiftung könne jedenfalls nicht das maßgebliche Kriterium sein. Eine solche werde von Roxin zwar behauptet, liege in Wirklichkeit aber nicht vor. So seien durchaus Anstiftungskonstellationen denkbar, in denen die Erfolgswahrscheinlichkeit ebenso hoch sei wie in typischen Fällen der Organisationsherrschaft.[3]

Die mangelnde dogmatische Begründung einer Tatherrschaft aufgrund von Organisationsherrschaft zeige sich darüber hinaus insbesondere an den Fälle der sogenannten Ersatzherrschaft. Ersatzherrschaft meine Fälle, in denen die konkrete Tat nicht von derjenigen Person ausgeführt werde, auf die der Hintermann unmittelbar eingewirkt habe, sondern in denen die konkrete Tat durch eine Ersatzperson, die auch dem organisatorischen Machtapparat angehöre, ausgeführt werde.[4] Hier werde deutlich, dass der Organisationsherr nie den Einzelfall, also die konkrete Tatausführung, sondern ausschließlich die Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges beherrsche.[5] Daran zeige sich, dass die Handlung des Hintermannes (also das Ingangsetzen regelhafter Abläufe im Rahmen des Machtapparates) von der eigentlichen unmittelbaren Tatbestandshandlung entkoppelt werde, was in Anbetracht des ursprünglichen Täterverständnisses der Tatherrschaftslehre, als der Zentralgestalt des zur Deliktsverwirklichung führenden Geschehens, erklärungsbedürftig sei.[6] Ein solches Verständnis führe nämlich zu einer rein normativen Bewertung der Tatbestandsverwirklichung und des konkret eingetretenen Erfolges. Dies sei zwar nicht von vornherein abzulehnen, widerspreche aber dem ursprünglichen Verständnis von Tatherrschaft als einer ontologisch teleologischen Täterlehre, die gerade nicht allein auf normative Wertungen abstelle. Solle es dagegen im Bereich der Organisationsherrschaft nunmehr doch ausschließlich auf Wertungen ankommen, müsse es hierfür eine normative Begründung geben. Eine solche bleibe die Tatherrschaftslehre indes schuldig. Eine wertende Täterlehre, die keine normative Begründung ihrer Wertungen vorhalte, müsse sich jedoch den Vorwurf der Willkür bei der Täterbestimmung gefallen lassen.[7]

 

Für die Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung geht es in diesem Zusammenhang nicht darum, zu klären, inwieweit die Existenz eines rechtsgelösten Machtapparates denkbar ist, in dem systematisch Steuerhinterziehungshandlungen begangen werden. Von Interesse ist diesbezüglich vielmehr, dass der Bundesgerichtshof, wie bereits oben angedeutet, Grundgedanken der Tatherrschaft kraft der Beherrschung organisatorischer Machtapparate auf die Täterverantwortung innerhalb von Wirtschaftsunternehmen übertragen hat.[8] In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit diese Rechtsprechungspraxis möglicherweise Auswirkungen auf die Herleitung von mittelbarer Täterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung haben könnte. Es besteht hierbei nämlich die Vermutung, dass sich die oben geschilderten Einwände im Hinblick auf die Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung, sowie der Frage nach dem objektiven Tatbezug des tatbestandlichen Verhaltens des potentiellen Täters bestätigen könnten, wollte man diese Grundsätze auf die Herleitung von mittelbarer Täterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung übertragen.

Anmerkungen

[1]

Siehe dazu oben Rn. 12.

[2]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 145 f.

[3]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 138.

[4]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 140.

[5]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 141.

[6]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 141.

[7]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 145.

[8]

Siehe dazu oben Rn. 12.

C. Die funktionelle Tatherrschaft als Tatherrschaftsmerkmal des Mittäters

21

Kritik sieht sich weiterhin auch das Kriterium der funktionellen Tatherrschaft des Mittäters ausgesetzt. An ihrem Beispiel soll sich zur Gewissheit verdichten, was sich im Rahmen der Handlungsherrschaft und der Willensherrschaft bisher nur angedeutet habe, nämlich, dass die grundlegende Methodik des offenen Täterbegriffes, die Roxin seiner Tatherrschaftslehre zu Grunde gelegt habe, nicht funktioniere.[1]

Wie oben gezeigt, soll nach Auffassung Roxins bei der Mittäterschaft die funktionsbedingte gegenseitige Abhängigkeit des jeweils wesentlichen Tatbeitrages das entscheidende – Tatherrschaft vermittelnde – Täterschaftskriterium sein.[2] Allerdings räumt Roxin selbst ein, dass speziell der Begriff des „wesentlichen Tatbeitrages“ nicht abstrakt zu definieren sei.[3] So stehe nicht stets vorab fest, ob ein Tatbeitrag wesentlich sei. Dies lasse sich etwa am Beispiel des Schmierestehens bei einer Tatverwirklichung verdeutlichen. Ob dieser Tatbeitrag so wesentlich sei, dass er Tatherrschaft vermittele, sei stets eine Frage des Einzelfalles. Der Terminus der funktionsbedingten gegenseitigen Abhängigkeit des jeweiligen wesentlichen Tatbeitrages sei insoweit ein offener Begriff, der es ermögliche, auf Einzelfallkonstellationen flexibel zu reagieren.[4] Ein derart offener Begriff wird indes für ungeeignet gehalten, um als bestimmender Begriff einer Täterlehre fungieren zu können. Denn je offener der Täterbegriff gestaltet werde, desto willkürlicher seien die Ergebnisse, die sich aus diesem Begriff herleiten ließen.[5] Insgesamt finde sich in der Lehre Roxins kein Kriterium, das den Begriff der funktionellen Tatherrschaft dogmatisch zutreffend definieren könne. Dies gelte zunächst für die Begriffe der „funktionsbedingten Abhängigkeit“ und der „Wesentlichkeit“. Darüber hinaus gelte dies aber zusätzlich auch für das Element der „Herrschaft“ als Kriterium der Mittäterschaft. Eine präzise Definition dieses Kriteriums als Voraussetzung funktioneller Tatherrschaft finde sich bei Roxin nicht, was ungeklärt lasse, auf welche Art und Weise der potentielle Mittäter im Sinne Roxins Herrschaft ausüben müsse, um insgesamt von Tatherrschaft sprechen zu können.[6]

Gegen Roxins Verständnis von funktioneller Tatherrschaft sei schließlich einzuwenden, dass dieser offensichtlich auf das Kriterium der Kausalität des jeweiligen Tatbeitrages für den tatbestandsmäßigen Erfolg verzichte und stattdessen lediglich noch auf die Kausalität der Beiträge der Mittäter in ihrer Gesamtheit abstelle.[7] Hierdurch verliere das Herrschaftselement der funktionellen Tatherrschaft jedoch jeden faktisch realen Charakter, denn dann seien ohne weiteres Fälle denkbar, in denen Tatherrschaft bei den einzelnen Mittätern nicht mehr tatsächlich vorliege, sondern sich für jeden Mittäter, mit Ausnahme des tatsächlich Handelnden, ausschließlich wertend aus der Zugrundelegung eines hypothetischen Kausalverlaufs ergebe.[8]

Für die Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO werfen diese Einwände gegen das Tatherrschaftskriterium der funktionellen Tatherrschaft die Frage danach auf, ob sich Mittäterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung über die Funktion der Beteiligten bei der Tatausführung herleiten lässt. Dies wäre jedenfalls dann denkbar, wenn sich konkret festlegen ließe, worin genau ein wesentlicher Tatbeitrag im Rahmen der Steuerhinterziehung besteht, der eine beherrschende Funktion bei der Hinterziehung von Steuern vermittelt. Darüber hinaus ist die Frage von Interesse, inwieweit ein entsprechender Tatbeitrag kausal für den Verkürzungserfolg des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO sein muss.

Anmerkungen

[1]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 161; siehe zum offenen Täterbegriff Roxins oben Rn. 5.

[2]

Siehe dazu oben Rn. 13.

[3]

Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, S. 283.

[4]

Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, S. 282 f.; siehe dazu Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 160.

[5]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 161.

[6]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 162.

[7]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 167 ff.

[8]

Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 169.

D. Zwischenfazit zur neuesten Kritik an der Tatherrschaftslehre

22

Es werden in sämtlichen von § 25 StGB normierten Täterschaftsbereichen Einwände gegen die von Roxin geprägte Tatherrschaftslehre erhoben, die sich möglicherweise auf das Steuerstrafrecht und dort auf die Frage nach der Anwendbarkeit des Tatherrschaftskriteriums auf die Steuerhinterziehung übertragen lassen. Im Rahmen der unmittelbaren Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 1 StGB) bedarf es einer Klärung der Frage, ob es sich bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO um ein verhaltensneutrales Verursachungsdelikt handelt und sich die Definition von Handlungsherrschaft als der eigenhändigen Vornahme der Tatbestandshandlung deshalb unter Umständen nicht für die Herleitung von unmittelbarer Täterschaft eignen könnte. Im Rahmen der mittelbaren Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) werfen die Einwände gegen die Irrtumsherrschaft und die Organisationsherrschaft Fragen im Hinblick auf die Tauglichkeit dieses Kriteriums für die Herleitung von Täterschaft auf. Fraglich ist hier insbesondere, inwieweit sich das Kriterium der Irrtumsherrschaft auch dann noch zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme eignet, wenn mehrere Personen die Möglichkeit haben, den Kausalverlauf zu beeinflussen, hiervon jedoch in unterschiedlicher Intensität Gebrauch machen. Im Hinblick auf die Organisationsherrschaft ist zu untersuchen, ob bei einer Übertragung dieser Grundsätze auf die Steuerhinterziehung die vorstehend geschilderten Einwände im Hinblick auf die Abgrenzung von Täterschaft und Anstiftung sowie den fehlenden objektiven Tatbezug des Täterverhaltens durchgreifen. Schließlich bedarf es im Zusammenhang mit der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) einer Untersuchung der Frage, inwieweit sich für die Steuerhinterziehung ein bestimmtes Verhalten herausarbeiten lässt, welches als wesentlicher Tatbeitrag im Sinne der funktionellen Tatherrschaft zu qualifizieren ist und inwieweit ein solches Verhalten kausal für den Hinterziehungserfolg sein muss.

E. Fehlende normative Begründung des Tatherrschaftsbegriffs

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Kritik wird jedoch nicht nur an den praktischen Auswirkungen der Tatherrschaftslehre, sondern auch an ihren dogmatischen Grundannahmen geübt. Roxin lasse beispielsweise offen, „auf welchem axiologischen Grund sich die Tatherrschaft als maßgebliches Unterscheidungskriterium zwischen Täterschaft und Teilnahme stütze“.[1] Axiologie ist ein Begriff der Werteethik. Sie beschreibt einerseits – in formaler Hinsicht – das Verhältnis verschiedener Werte zueinander und andererseits – in materieller Hinsicht – den Inhalt von Werten an sich. Zustände oder Sachverhalte werden damit als „gut“ oder „schlecht“ kategorisiert.[2] Es geht hierbei mithin um die Frage, warum gerade das Kriterium der Tatherrschaft darüber entscheiden soll, dass derjenige, der mit Tatherrschaft handelt, „schlechter“ ist als derjenige, der ohne Tatherrschaft handelt – worin also der normative beziehungsweise wertende Gehalt von Tatherrschaft bestehen soll.

Hierzu äußere sich die Tatherrschaftslehre nur äußerst rudimentär. Lediglich im Rahmen der Nötigungsherrschaft des mittelbaren Täters berufe sich Roxin normativ auf das Verantwortungsprinzip.[3] Roxin spricht im Rahmen der Nötigungsherrschaft – als Ausfluss des Verantwortungsprinzips – dort von Herrschaft, wo der Einfluss des Hintermannes so stark ist, dass dem unmittelbar Handelnden sein Tatverhalten nicht zugeschrieben werden kann.[4] Normativ soll hier also die Entlastung des unmittelbar Handelnden von strafrechtlicher Verantwortung zur Belastung des Hintermannes mit täterschaftlicher Verantwortung führen. Die Nötigungsfälle seien jedoch der einzige Bereich, in dem Roxin eine derartige Wertung vornehme, sich also klar zu einem axiologischen Prinzip bekenne. In allen anderen Bereichen der Tatherrschaftslehre werde nicht deutlich, auf welchem axiologischen Prinzip sie beruhe.[5]

Der Begriff der Tatherrschaft sei allerdings schon seiner dogmatischen Herkunft nach wenig geeignet, Antworten auf die Frage zu geben, worin der normative Unterschied zwischen Täterschaft und Teilnahme bestehe. Die Tatherrschaftslehre leite sich nämlich aus der finalen Handlungslehre ab, die bereits ihrerseits einer normativen Fundierung entbehre und daher erst Recht keine Anhaltspunkte für eine normative Verankerung der Tatherrschaftslehre liefern könne.[6]

Somit sind Ausgangspunkt der Kritik an der fehlenden normativen Begründung des Tatherrschaftsbegriffs die folgenden Befunde: Die Tatherrschaftslehre verdeutliche im ganz überwiegenden Teil nicht, auf welchem axiologischem Prinzip sie beruhe. Grund hierfür sei die vornehmlich naturalistisch phänomenologische Prägung des Tatherrschaftsbegriffes, der in dieser Form nicht dazu beitragen könne, die wertungsmäßigen Unterschiede zwischen Täterschaft und Teilnahme zu verdeutlichen. Die Tatherrschaftslehre stelle nur im Bereich der Nötigungsfälle auf ein normatives Prinzip, nämlich das Verantwortungsprinzip, ab. Darüber hinaus sei jedoch unklar, wie das Tatherrschaftskriterium bei der wertungsmäßigen Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme behilflich sein könne. Dies folge im Ausgangspunkt bereits daraus, dass sich die Tatherrschaftslehre aus der finalen Handlungslehre ableite, die ihrerseits eine normative Fundierung vermissen lasse.

 

Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Tatherrschaftslehre im Rahmen der Steuerhinterziehung wirft dieser Einwand gegen die rechtstheoretischen Grundlagen des Tatherrschaftsbegriffes die Frage nach einer normativen Fundierung des Tatherrschaftskriteriums im Zusammenhang mit der Steuerhinterziehung auf. Zunächst bedarf es hierbei einer Klärung der Frage, ob eine solche normative Fundierung überhaupt notwendig ist, um die Tatherrschaftslehre auf die Steuerhinterziehung anwenden zu können. Sollte sich diese Notwendigkeit herausstellen, wäre in einem weiteren Schritt klärungsbedürftig, ob sich Kriterien definieren lassen, die eine normative Begründung dafür liefern können, weshalb gerade das Handeln mit Tatherrschaft zu einer täterschaftlichen Verantwortung führen soll.