Homo Faber / Хомо Фабер. Книга для чтения на немецком языке

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Unser Nachmittag verging im Nu.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung erschien ein Flugzeug, Militär, es kreiste lange über uns, ohne etwas abzuwerfen, und verschwand (was ich gefilmt habe) gegen Norden, Richtung Monterre y.

Abendessen: ein Käse-Sandwich, eine halbe Banane.

Ich schätze das Schach, weil man Stunden lang nichts zu reden braucht. Man braucht nicht einmal zu hören, wenn der andere redet. Man blickt auf das Brett, und es ist keineswegs unhöflich, wenn man kein Bedürfnis nach persönlicher Bekanntschaft zeigt, sondern mit ganzem Ernst bei der Sache ist —

„Sie sind am Zug! “ sagte er —

Die Entdeckung, dass er Joachim, meinen Freund, der seit mindestens zwanzig Jahren einfach verstummt war, nicht nur kennt, sondern dass er geradezu sein Bruder ist, ergab sich durch Zufall… Als der Mond aufging (was ich ebenfalls gefilmt habe) zwischen schwarzen Agaven am Horizont, hätte man noch immer Schach spielen können, so hell war es, aber plötzlich zu kalt; wir waren hinausgestapft, um eine Zigarette zu rauchen, hinaus in den Sand, wo ich gestand, dass ich mir aus Landschaften nichts mache, geschweige denn aus einer Wüste.

„Das ist nicht Ihr Ernst! “ sagte er.

Er fand es ein Erlebnis.

„Gehen wir schlafen!“ sagte ich, „– Hotel Super-Constellation, Holiday In Desert With All Accommodations!“

Ich fand es kalt.

Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müsste man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Wozu sollte ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe: die üblichen Formen der Erosion, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster. Wozu weibisch werden? Ich sehe auch keine Sintflut, sondern Sand, vom Mond beschienen, vom Wind gewellt wie Wasser, was mich nicht überrascht; ich finde es nicht fantastisch, sondern erklärlich. Ich weiß nicht, wie verdammte Seelen aussehen; vielleicht wie schwarze Agaven in der nächtlichen Wüste. Was ich sehe, das sind Agaven, eine Pflanze, die ein einziges Mal blüht und dann abstirbt. Ferner weiß ich, dass ich nicht (wenn es im Augenblick auch so aussieht) der erste oder letzte Mensch auf der Erde bin; und ich kann mich von der bloßen Vorstellung, der letzte Mensch zu sein, nicht erschüttern lassen, denn es ist nicht so. Wozu hysterisch sein? Gebirge sind Gebirge, auch wenn sie in gewisser Beleuchtung, mag sein, wie irgend etwas anderes aussehen, es ist aber die Sierra Madre Oriental, und wir stehen nicht in einem Totenreich, sondern in der Wüste von Tamaulipas, Mexico, ungefähr sechzig Meilen von der nächsten Straße entfernt, was peinlich ist, aber wieso ein Erlebnis? Ein Flugzeug ist für mich ein Flugzeug, ich sehe keinen ausgestorbenen Vogel dabei, sondern eine Super-Constellation mit Motor-Defekt, nichts weiter, und da kann der Mond sie bescheinen, wie er will. Warum soll ich erleben, was gar nicht ist? Ich kann mich auch nicht entschließen, etwas wie die Ewigkeit zu hören; ich höre gar nichts, ausgenommen das Rieseln von Sand nach jedem Schritt. Ich schlottere, aber ich weiß: in sieben bis acht Stunden kommt wieder die Sonne. Ende der Welt, wieso? Ich kann mir keinen Unsinn einbilden, bloß um etwas zu erleben. Ich sehe den Sand-Horizont, weißlich in der grünen Nacht, schätzungsweise zwanzig Meilen von hier, und ich sehe nicht ein, wieso dort, Richtung Tampico, das Jenseits beginnen soll. Ich kenne Tampico. Ich weigere mich, Angst zu haben aus bloßer Fantasie, beziehungsweise fantastisch zu werden aus bloßer Angst, geradezu mystisch.

„Kommen Sie!“ sagte ich.

Herbert stand und erlebte noch immer.

„Übrigens“, sagte ich, „sind Sie irgendwie verwandt mit einem Joachim Hencke, der einmal in Zürich studiert hat?“ Es kam mir ganz plötzlich, als wir so standen, die Hände in den Hosentaschen, den Rockkragen heraufgestülpt; wir wollten gerade in die Kabine steigen.

„Joachim?“ sagte er, „das ist mein Bruder.“

„Nein!“ sagte ich —

„Ja“, sagte er, „natürlich – ich erzählte Ihnen doch, dass ich meinen Bruder in Guatemala besuche.“

Wir mussten lachen.

„Wie klein die Welt ist!“

Die Nächte verbrachte man in der Kabine, schlotternd in Mantel und Wolldecken; die Besatzung kochte Tee, solange Wasser vorhanden.

„Wie geht’s ihm denn?“ fragte ich. „Seit zwanzig Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört. “

„Danke“, sagte er, „danke —“

„Damals“, sagte ich, „waren wir sehr befreundet —“

Was ich erfuhr, war so das Übliche: Heirat, ein Kind (was ich offenbar überhört habe; sonst hätte ich mich nicht später danach erkundigt), dann Krieg, Gefangenschaft, Heimkehr nach Düsseldorf und so fort, ich staunte, wie die Zeit vergeht, wie man älter wird.

„Wir sind besorgt“, sagte er —

„Wieso?“

„Er ist der einzige Weiße da unten“, sagte er, „seit zwei Monaten keinerlei Nachrichten —“

Er berichtete.

Die meisten Passagiere schliefen schon, man musste flüstern, das große Licht in der Kabine war lange schon gelöscht, um die Batterie zu schonen, war man gebeten, auch das kleine Lämpchen über dem Sitz auszuknipsen; es war dunkel, nur draußen die Helligkeit des Sandes, die Tragflächen im Mondlicht, glänzend, kalt.

„Wieso Revolte?“ fragte ich.

Ich beruhigte ihn.

„Wieso Revolte?“ sagte ich, „vielleicht sind seine Briefe einfach verlorengegangen —“

Jemand bat uns, endlich zu schweigen.

Zweiundvierzig Passagiere in einer Super-Constellation, die nicht fliegt, sondern in der Wüste steht, ein Flugzeug mit Wolldecken um die Motoren (um sie vor Sand zu schützen) und mit Wolldecken um jeden Pneu, die Passagiere genau so, wie wenn man fliegt, in ihren Sesseln schlafend mit schrägen Köpfen und meistens offenen Mündern, aber dazu Totenstille, draußen die vier blanken Propeller-Kreuze, der weißliche Mondglanz auch auf den Tragflächen, alles reglos – es war ein komischer Anblick.

Jemand redete im Traum —

Beim Erwachen am Morgen, als ich zum Fensterchen hinausschaute und den Sand sah, die Nähe des Sandes, erschrak ich eine Sekunde lang, unnötigerweise.

Herbert las wieder ein rororo.

Ich nahm mein Kalenderchen:

27. III. Montage in Caracas!

Zum Frühstück gab es Juice, dazu zwei Biscuits, dazu Versicherungen, dass Lebensmittel unterwegs sind, Getränke auch, kein Grund zu Besorgnis – sie hätten besser nichts gesagt; denn so wartete man natürlich den ganzen Tag auf Motorengeräusch.

Wieder eine Irrsinnshitze!

In der Kabine war’s noch heißer —

Was man hörte: Wind, dann und wann Pfiffe von Sandmäusen, die man allerdings nicht sah, das Rascheln einer Eidechse, vor allem ein steter Wind, der den Sand nicht aufwirbelte, wie gesagt, aber rieseln ließ, so dass unsere Trittspuren immer wieder gelöscht waren; immer wieder sah es aus, als wäre niemand hier gewesen, keine Gesellschaft von zweiundvierzig Passagieren und fünf Leuten der Besatzung.

Ich wollte mich rasieren —

Zu filmen gab es überhaupt nichts.

Ich fühle mich nicht wohl, wenn unrasiert; nicht wegen der Leute, sondern meinetwegen. Ich habe dann das Gefühl, ich werde etwas wie eine Pflanze, wenn ich nicht rasiert bin, und ich greife unwillkürlich an mein Kinn. Ich holte meinen Apparat und versuchte alles mögliche, beziehungsweise unmögliche, denn ohne elektrischen Strom ist mit diesem Apparat ja nichts zu machen, das weiß ich – das war es ja, was mich nervös machte: dass es in der Wüste keinen Strom gibt, kein Telefon, keinen Stecker, nichts. Einmal, mittags, hörte man Motoren.

Alle, außer Herbert und mir, standen draußen in der brütenden Sonne, um Ausschau zu halten in dem violetten Himmel über dem gelblichen Sand und den grauen Disteln und den rötlichen Gebirgen, es war nur ein dünnes Summen, eine gewöhnliche DC-7, die da in großer Höhe glänzte, im Widerschein weiß wie Schnee, Kurs auf Mexico-City, wo wir gestern um diese Zeit hätten landen sollen.

Die Stimmung war miserabler als je.

Wir hatten unser Schach, zum Glück.

Viele Passagiere folgten unserem Vorbild, indem sie sich mit Schuhen und Unterhosen begnügten; die Damen hatten es schwieriger, einige saßen in aufgekrempelten Röcken und in Büstenhaltern, blau oder weiß oder rosa, ihre Bluse um den Kopf gewickelt wie einen Turban.

Viele klagten über Kopfschmerz.

Jemand musste sich erbrechen —

Wir hockten wieder abseits, Herbert und ich, im Schatten unter dem Schwanzsteuer, das, wie die Tragflächen auch, im Widerschein des besonnten Sandes blendete, so dass man sogar im Schatten wie unter einem Scheinwerfer saß, und wir redeten wie üblich wenig beim Schach. Einmal fragte ich:

„Ist Joachim denn nicht mehr verheiratet?“

„Nein“, sagte er.

„Geschieden?“

„Ja“, sagte er.

„Wir haben viel Schach gespielt – damals.“

„So“, sagte er.

Seine Einsilbigkeit reizte mich.

„Wen hat er denn geheiratet?“

Ich fragte zum Zeitvertreib, es machte mich nervös, dass man nicht rauchen durfte, ich hatte eine Zigarette im Mund, feuerlos, weil Herbert sich so lange besann, obschon er sehen musste, dass es nichts mehr zu retten gibt; ich lag mit einem Pferdchen-Gewinn im sicheren Vorteil, als er nach langem Schweigen, dann so beiläufig, wie ich meinerseits gefragt hatte, den Namen von Hanna erwähnte.

 

„– Hanna Landsberg, Münchnerin, Halbjüdin.“

Ich sagte nichts.

„Sie sind am Zug!“ sagte er.

Ich ließ nichts merken, glaube ich. Ich zündete versehentlich meine Zigarette an, was strengstens verboten war, und löschte sofort aus. Ich tat, als überlegte ich meine Züge, und verlor Figur um Figur —

„Was ist los?“ lachte er, „was ist los?“

Wir spielten die Partie nicht zu Ende, ich gab auf und drehte das Brettchen, um die Figuren neuerdings aufzustellen. Ich wagte nicht einmal zu fragen, ob Hanna noch am Leben sei. Stundenlang spielten wir ohne ein Wort, von Zeit zu Zeit genötigt, unsere Coca-Cola-Kiste zu verrutschen, um im Schatten zu bleiben, das heißt: genötigt, immer wieder auf Sand zu sitzen, der gerade noch in der Sonne geglüht hatte. Wir schwitzten wie in der Sauna, wortlos über mein ledernes Steckschach gebeugt, das sich von unseren Schweisstropfen leider verfärbte.

Zu trinken gab es nichts mehr.

Warum ich nicht fragte, ob Hanna noch lebt, weiß ich nicht – vielleicht aus Angst, er würde mir sagen, Hanna sei nach Theresienstadt gekommen.

Ich errechnete ihr heutiges Alter.

Ich konnte sie mir nicht vorstellen.

Gegen Abend, kurz vor Dämmerung, kam endlich das versprochene Flugzeug, eine Sportmaschine, die lange kreiste, bis sie endlich den Fallschirmabwurf wagte: drei Säcke, zwei Kisten, die es im Umkreis von dreihundert Metern zu holen galt – wir waren gerettet: Carta blanca, Cerveza Mexicana, ein gutes Bier, das sogar Herbert, der Deutsche, anerkennen musste, als man mit Bierdosen in der Wüste stand, Gesellschaft in Büstenhaltern und Unterhosen, dazu wieder Sonnenuntergang, den ich auf Farbfilm nahm.

Ich träumte von Hanna.

Hanna als Krankenschwester zu Pferd!

Am dritten Tag endlich ein erster Helikopter, um wenigstens die argentinische Mama mit ihren zwei Kindern zu holen, Gott sei Dank, und um Post mitzunehmen; er wartete eine Stunde auf Post.

Herbert schrieb sofort nach Düsseldorf.

Jedermann saß und schrieb.

Man musste fast schreiben, bloß damit die lieben Leute nicht fragten, ob man denn keine Frau habe, keine Mutter, keine Kinder, – ich holte meine Hermes-Baby9 (sie ist heute noch voll Sand) und spannte einen Bogen ein, Bogen mit Durchschlag, da ich annahm, ich würde an Williams schreiben, tippte das Datum und schob – Platz für Anrede:

„My Dear!“

Ich schrieb also an Ivy. Lange schon hatte ich das Bedürfnis, einmal sauberen Tisch zu machen. Endlich einmal hatte ich die Ruhe und Zeit, die Ruhe einer ganzen Wüste.

„My Dear —“

Dass ich in der Wüste hocke, sechzig Meilen von der befahrbaren Welt entfernt, war bald gesagt. Dass es heiß ist, schönes Wetter, keine Spur von Verletzung und so weiter, dazu ein paar Details zwecks Anschaulichkeit: Coca-Cola-Kiste, Unterhosen, Helikopter, Bekanntschaft mit einem Schachspieler, all dies füllte noch keinen Brief. Was weiter? Die bläulichen Gebirge in der Ferne. Was weiter? Gestern Bier. Was weiter? Ich konnte sie nicht einmal um Zustellung von Filmen bitten und war mir bewusst, dass Ivy, wie jede Frau, eigentlich nur wissen möchte, was ich fühle, beziehungsweise denke, wenn ich schon nichts fühle, und das wusste ich zwar genau: Ich habe Hanna nicht geheiratet, die ich liebte, und wieso soll ich Ivy heiraten? – aber das zu formulieren, ohne dass es verletzte, war verdammt nicht leicht, denn sie wusste ja nichts von Hanna und war ein lieber Kerl, aber eine Art von Amerikanerin, die jeden Mann, der sie ins Bett nimmt, glaubt heiraten zu müssen. Dabei war Ivy durchaus verheiratet, ich weiß nicht zum wievielten Mal, und ihr Mann, Beamter in Washington, dachte ja nicht dran, sich scheiden zu lassen; denn er liebte Ivy. Ob er ahnte, warum Ivy regelmäßig nach New York flog, weiß ich nicht. Sie sagte, sie ginge zum Psychiater, und das ging sie nämlich auch. Jedenfalls klopfte es nie an meiner Türe, und ich sah nicht ein, wieso Ivy, sonst in ihren Ansichten modern, eine Ehe daraus machen wollte; sowieso hatten wir in letzter Zeit nur noch Krach, schien mir, Krach um jede Kleinigkeit. Krach wegen Studebakeroder-Nash! Ich brauchte nur daran zu denken – und es tippte plötzlich wie von selbst, im Gegenteil, ich musste auf die Uhr sehen, damit mein Brief noch fertig wird, bis der Helikopter startet.

Sein Motor lief bereits —

Nicht ich, sondern Ivy hatte den Studebaker gewollt; vor allem die Farbe (Tomatenrot nach ihrer Meinung, Himbeerrot nach meiner Meinung) war ihr Geschmack, nicht meiner, denn das Technische kümmerte sie wenig. Ivy war Mannequin, sie wählte ihre Kleider nach der Wagenfarbe, glaube ich, die Wagenfarbe nach ihrem Lippenstift oder umgekehrt, ich weiß es nicht. Ich kannte nur ihren ewigen Vorwurf: dass ich überhaupt keinen Geschmack habe und dass ich sie nicht heirate. Dabei war sie, wie gesagt, ein lieber Kerl. Aber dass ich daran dachte, ihren Studebaker zu verkaufen, das fand sie unmöglich, beziehungsweise typisch für mich, dass ich nicht eine Sekunde lang an ihre Garderobe dächte, die mit dem Himbeer-Studebaker stand und fiel, typisch für mich, denn ich sei ein Egoist, ein Rohling, ein Barbar in bezug auf Geschmack, ein Unmensch in bezug auf die Frau. Ich kannte ihre Vorwürfe und hatte sie satt. Dass ich grundsätzlich nicht heirate, das hatte ich oft genug gesagt, zumindest durchblicken lassen, zuletzt aber auch gesagt, und zwar auf dem Flugplatz, als wir drei Stunden lang auf diese Super-Constellation hatten warten müssen. Ivy hatte sogar geweint, somit gehört, was ich sagte. Aber vielleicht brauchte Ivy es schwarz auf weiß. Wären wir bei dieser Notlandung verbrannt, könnte sie auch ohne mich leben! – schrieb ich ihr (zum Glück mit Durchschlag) deutlich genug, so meinte ich, um uns ein Wiedersehen zu ersparen.

Der Helikopter war startbereit —

Ich konnte meinen Brief nicht mehr durchlesen, nur in den Umschlag stecken, zukleben und geben – schauen, wie der Helikopter startete.

Langsam hatte man Bärte.

Ich sehnte mich nach elektrischem Strom – Langsam wurde die Sache doch langweilig, eigentlich ein Skandal, dass die zweiundvierzig Passagiere und fünf Leute der Besatzung nicht längst aus dieser Wüste befreit waren, schließlich reisten die meisten von uns in dringenden Geschäften.

Einmal fragte ich doch:

„Lebt sie eigentlich noch?“

„Wer?“ fragte er.

„Hanna – seine Frau.“

„Ach so“, sagte er und überlegte nur, wie er meine Gambit-Eröffnung abwehren solle, dazu sein Pfeifen, das mir sowieso auf die Nerven ging, ein halblautes Pfeifen ohne jede Melodie, Gezisch wie bei einem Ventil, unwillkürlich – ich musste nochmals fragen:

„Wo lebt sie denn heute?“

„Weiß ich nicht“, sagte er.

„Aber sie lebt noch?“

„Ich nehme an.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein“, sagte er, „aber ich nehme an —“ Er wiederholte alles wie sein eigenes Echo: „– ich nehme an.“

Unser Schach war ihm wichtiger.

„Vielleicht ist alles zu spät“, sagte er später, „vielleicht ist alles zu spät.“

Damit meinte er das Schach.

„Hat sie denn noch emigrieren können?“

„Ja“, sagte er, „das hat sie —“

„Wann?“

„1938“, sagte er, „in letzter Stunde —“

„Wohin?“

„Paris“, sagte er, „dann vermutlich weiter, denn ein paar Jahre später waren wir ja auch in Paris. – Übrigens meine schönste Zeit! Bevor ich in den Kaukasus kam. Sous les toits de Paris!“

Mehr war nicht zu erfragen.

„Du“, sagte er, „das ist eine beschissene Sache, scheint mir, wenn ich jetzt nicht abtausche.“

Wir spielten immer lustloser.

Wie man später erfuhr, warteten damals acht Helikopter der US-Army an der mexikanischen Grenze auf die behördliche Bewilligung, uns zu holen.

Ich putzte meine Hermes-Baby.

Herbert las.

Es blieb uns nichts als Warten.

Was Hanna betrift:

Ich hätte Hanna gar nicht heiraten können, ich war damals, 1933 bis 1935, Assistent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich, arbeitete an meiner Dissertation (Über die Bedeutung des sogenannten Maxwell’schen Dämons) und verdiente dreihundert Franken im Monat, eine Heirat kam damals nicht in Frage, wirtschaftlich betrachtet, abgesehen von allem anderen. Hanna hat mir auch nie einen Vorwurf gemacht, dass es damals nicht zur Heirat kam. Ich war bereit dazu. Im Grunde war es Hanna selbst, die damals nicht heiraten wollte.

Mein Entschluss, eine Dienstreise einfach zu ändern und einen privaten Umweg über Guatemala zu machen, bloß um einen alten Jugendfreund wiederzusehen, fiel auf dem neuen Flugplatz in Mexico-City, und zwar im letzten Augenblick; ich stand schon an der Schranke, nochmals Händeschütteln, ich bat Herbert, seinen Bruder zu grüßen von mir, sofern Joachim sich überhaupt noch an mich erinnerte – dazu wieder der übliche Lautsprecher: Your attention please, your attention please, es war wieder eine Super-Constellation, all passengers for Panama – Caracas – Pernambuco, es ödete mich einfach an, schon wieder in ein Flugzeug zu steigen, schon wieder Gürtel zu schnallen, Herbert sagte:

„Mensch, du musst gehen!“

Ich gelte in beruflichen Dingen als äußerst gewissenhaft, geradezu pedantisch, jedenfalls ist es noch nicht vorgekommen, dass ich eine Dienstreise aus purer Laune verzögerte, geschweige denn änderte – eine Stunde später flog ich mit Herbert.

„Du“, sagte er, „das ist flott von dir!“

Ich weiß nicht, was es wirklich war.

„Nun warten die Turbinen einmal auf mich“, sagte ich, „ich habe auch schon auf Turbinen gewartet – nun warten sie einmal auf mich!“

Natürlich ist das kein Standpunkt.

Schon in Campeche empfing uns die Hitze mit schleimiger Sonne und klebriger Luft, Gestank von Schlamm, der an der Sonne verwest, und wenn man sich den Schweiß aus dem Gesicht wischt, so ist es, als stinke man selbst nach Fisch. Ich sagte nichts. Schließlich wischt man sich den Schweiß nicht mehr ab, sondern sitzt mit geschlossenen Augen und atmet mit geschlossenem Mund, Kopf an eine Mauer gelehnt, die Beine von sich gestreckt. Herbert war ganz sicher, dass der Zug jeden Dienstag fährt, laut Reiseführer von Düsseldorf, er hatte es sogar schwarz auf weiß – aber es war, wie sich nach fünfstündigem Warten plötzlich herausstellte, nicht Dienstag, sondern Montag.

Ich sagte kein Wort.

Im Hotel gibt es wenigstens eine Dusche, ein Handtuch, das nach Campfer riecht wie üblich in diesen Gegenden, und wenn man sich duschen will, fallen die fingerlangen Käfer aus dem schimmligen Vorhang – ich ersäufte sie, doch kletterten sie nach einer Weile immer wieder aus dem Ablauf hervor, bis ich sie mit der Ferse zertrat, um mich endlich duschen zu können.

Ich träumte von diesen Käfern.

Ich war entschlossen, Herbert zu verlassen und am andern Mittag zurückzufliegen, Kameradschaft hin oder her —

Ich spürte wieder meinen Magen.

Ich lag splitternackt – Es stank die ganze Nacht. Auch Herbert lag splitternackt – Campeche ist immerhin noch eine Stadt, eine Siedlung mit elektrischem Strom, so dass man sich rasieren konnte, und mit Telefon; aber auf allen Drähten hockten schon Zopilote, die reihenweise warten, bis ein Hund verhungert, ein Esel verreckt, ein Pferd geschlachtet wird, dann flattern sie herab… Wir kamen gerade hinzu, wie sie hin und her zerrten an einem solchen Geschlamp von Eingeweide, eine ganze Meute von schwarzvioletten Vögeln mit blutigen Därmen in ihren Schnäbeln, nicht zu vertreiben, auch wenn ein Wagen kommt; sie zerren das Aas anderswohin, ohne aufzufliegen, nur hüpfend, nur huschend, alles mitten auf dem Markt. Herbert kaufte eine Ananas.

Ich war entschlossen, wie gesagt, nach Mexico-City zurückzufliegen. Ich war verzweifelt. Warum ich es nicht tat, weiß ich nicht.

Plötzlich war’s Mittag —

Wir standen draußen auf einem Damm, wo es weniger stank, aber um so heißer war, weil schattenlos, und aßen unsere Ananas, wir bückten uns vornüber, so tropfte es, dann über die Steine hinunter, um die zuckerigen Finger zu spülen; das warme Wasser war ebenfalls klebrig, nicht zuckerig, aber salzig, und die Finger stanken nach Tang, nach Motoröl, nach Muscheln, nach Fäulnis unbestimmbarer Art, so dass man sie sofort am Taschentuch abwischte. Plötzlich das Motorengeräusch! Ich stand gelähmt. Meine DC-4 nach Mexico-City, sie flog gerade über uns hinweg, dann Kurve aufs offene Meer hinaus, wo sie im heißen Himmel sich sozusagen auflöste wie in einer blauen Säure – Ich sagte nichts.

 

Ich weiß nicht, wie jener Tag verging.

Er verging —

Unser Zug (Campeche–Palenque–Coatzacoalcos) war besser als erwartet: Eine Dieselmaschine und vier Wagen mit air-condition, so dass wir die Hitze vergaßen, mit der Hitze auch den Unsinn dieser ganzen Reise.

„Ob Joachim mich noch kennt?“

Ab und zu hielt unser Zug auf offener Strecke in der Nacht, man hatte keine Ahnung wieso, nirgends ein Licht, nur dank eines fernen Gewitters erkannte man, dass es durch Dschungel geht, teilweise Sumpf, Wetterleuchten hinter einem Geflecht von schwarzen Bäumen, unsere Lokomotive tutete und tutete in die Nacht hinaus, man konnte das Fenster nicht öffnen, um zu sehen, was los ist… Plötzlich fuhr er wieder: dreißig Stundenkilometer, obschon es topfeben ist, eine schnurgerade Strecke. Immerhin war man zufrieden, dass es weiterging.

Einmal fragte ich:

„Warum sind sie eigentlich geschieden?“

„Weiß ich nicht“, sagte er, „sie wurde Kommunistin, glaube ich —“

„Drum?“

Er gähnte.

„Ich weiß es nicht“, sagte er, „es ging nicht. Ich habe nie danach gefragt.“

Einmal, als unser Zug neuerdings hielt, ging ich zur Wagentür, um hinauszuschauen. Draußen die Hitze, die man vergessen hatte, eine feuchte Finsternis und Stille. Ich ging aufs Trittbrett hinunter, Stille mit Wetterleuchten, ein Büffel stand auf dem schnurgeraden Geleise vor uns, nichts weiter. Er stand wie ausgestopft, weil vom Scheinwerfer unserer Lokomotive geblendet, stur. Sofort hatte man wieder Schweiß auf der Stirne und am Hals. Es tutete und tutete. Ringsum nichts als Dickicht. Nach einigen Minuten ging der Büffel (oder was es war) langsam aus dem Scheinwerfer, dann hörte ich Rauschen im Dickicht, das Knicken von Ästen, dann ein Klatschen, sein Platschen im Wasser, das man nicht sah —

Dann fuhren wir wieder.

„Haben sie denn Kinder?“ fragte ich.

„Eine Tochter —“

Wir richteten uns zum Schlafen, die Jacke unter den Nacken, die Beine gestreckt auf die leeren Sitze gegenüber.

„Hast du sie gekannt?“

„Ja“, sagte ich, „warum?“ Kurz darauf schlief er —

Beim Morgengrauen noch immer Dickicht, die erste Sonne über dem flachen Dschungel-Horizont, viel Reiher, die in weißen Scharen auflatterten vor unserem langsamen Zug, Dickicht ohne Ende, unabsehbar, dann und wann eine Gruppe indianischer Hütten, verborgen unter Bäumen mit Luftwurzeln, manchmal eine einzelne Palme, sonst meistens Laubhölzer, Akazien und Unbekanntes, vor allem Büsche, ein vorsintflutliches Farnkraut, es wimmelte von schwefelgelben Vögeln, die Sonne wieder wie hinter Milchglas, Dunst, man sah die Hitze.

Ich hatte geträumt – (Nicht von Hanna!)

Als wir neuerdings auf offener Strecke hielten, war es Palenque, ein Bahnhöflein irgendwo, wo niemand einsteigt und niemand aussteigt außer uns, ein kleiner Schopf neben dem Geleise, ein Signal, nichts weiter, nicht einmal Verdopplung des Geleises (wenn ich mich richtig erinnere), wir erkundigten uns dreimal, ob das Palenque ist.

Sofort rann wieder der Schweiß —

Wir standen mit unserem Gepäck, als der Zug weiterfuhr, wie am Ende der Welt, mindestens am Ende der Zivilisation, und von einem Jeep, der hier hätte warten sollen, um den Herrn aus Düsseldorf sofort zur Plantage hinüberzufahren, war natürlich keine Spur.

„There we are!“

Ich lachte.

Immerhin gab es ein Sträßlein, und nach einer halben Stunde, die uns ziemlich erschöpft hatte, kamen Kinder aus den Büschen, später ein Eseltreiber, der unser Gepäck nahm, ein Indio natürlich, ich behielt nur meine gelbe Aktenmappe mit Reißverschluss.

Fünf Tage hingen wir in Palenque.

Wir hingen in Hängematten, allzeit ein Bier in greifbarer Nähe, schwitzend, als wäre Schwitzen unser Lebenszweck, unfähig zu irgendeinem Entschluss, eigentlich ganz zufrieden, denn das Bier ist ausgezeichnet, Yucateca, besser als das Bier im Hochland, wir hingen in unseren Hängematten und tranken, um weiter schwitzen zu können, und ich wusste nicht, was wir eigentlich wollten.

Wir wollten einen Jeep!

Wenn man es sich nicht immer wieder sagte, so vergaß man es, und sonst sagten wir wenig den ganzen Tag, ein sonderbarer Zustand.

Ein Jeep, ja, aber woher?

Sprechen machte nur durstig.

Der Wirt unsres winzigen Hotels (Lacroix) hatte einen Landrover, offensichtlich das einzige Fahrzeug in Palenque, das er aber selber brauchte, um Bier und Gäste von der Bahn zu holen, Leute, die sich etwas aus indianischen Ruinen machen, Liebhaber von Pyramiden; zur Zeit war nur ein einziger da, ein junger Amerikaner, der zuviel redete, aber zum Glück war er tagsüber immer weg – draußen auf den Ruinen, die auch wir, meinte er, besichtigen sollten.

Ich dachte ja nicht daran!

Jeder Schritt löste Schweiß aus, der sofort mit Bier ersetzt werden musste, und es ging nur, indem man in der Hängematte hing mit bloßen Füßen und sich nicht rührte, rauchend, Apathie als einzig möglicher Zustand – sogar das Gerücht, die Plantage jenseits der Grenze sei seit Monaten verlassen, regte uns nicht auf; wir blickten einander an, Herbert und ich, und tranken unser Bier.

Unsere einzige Chance: der Landrover.

Der stand tagelang vor dem Hotelchen —

Aber der Wirt, wie gesagt, brauchte ihn!

Erst nach Sonnenuntergang (die Sonne geht eigentlich nicht unter, sondern ermattet im Dunst) wurde es kühler, so dass man wenigstens blödeln konnte. Über die Zukunft der deutschen Zigarre! Ich fand es zum Lachen, nichts weiter, unsere ganze Reiserei und überhaupt. Revolte der Eingeborenen! Daran glaubte ich nicht einen Augenblick lang; dazu sind diese Indios viel zu sanft, zu friedlich, geradezu kindisch. Abende lang hocken sie in ihren weißen Strohhüten auf der Erde, reglos wie Pilze, zufrieden ohne Licht, still. Sonne und Mond sind ihnen Licht genug, ein weibisches Volk, unheimlich, dabei harmlos.

Herbert fragte, was ich denn glaube.

Nichts!

Was man denn machen solle, fragte er.

Duschen —

Ich duschte mich von morgens bis abends, ich hasse Schweiß, weil man sich wie ein Kranker vorkommt. (Ich bin in meinem Leben nie krank gewesen, ausgenommen Masern.) Ich glaube, Herbert fand es nicht gerade kameradschaftlich von mir, dass ich überhaupt nichts glaubte, aber es war einfach zu heiß, um etwas zu glauben, oder dann glaubte man geradezu alles – wie Herbert.

„Komm“, sagte ich, „gehen wir ins Kino!“

Herbert glaubte im Ernst, dass es in Palenque, das aus lauter indianischen Hütten besteht, ein Kino gibt, und er war wütend, als ich lachte.

Zum Regnen kam es nie.

Es wetterleuchtete jede Nacht, unsere einzige Abendunterhaltung, Palenque besitzt einen Dieselmotor, der elektrischen Strom erzeugt, aber um 21.00 Uhr abgestellt wird, so dass man plötzlich in der Finsternis des Dschungels hing und nur noch das Wetterleuchten sah, bläulich wie Quarzlampenlicht, dazu die roten Leuchtkäfer, später Mond, schleimig, Sterne sah man nicht, dazu war es zu dunstig… Joachim schreibt einfach keine Briefe, weil es zu heiß ist, ich konnte es verstehen; er hängt in seiner Hängematte wie wir, gähnend, oder er ist tot – da gab es nichts zu glauben, fand ich, bloß zu warten, bis wir einen Jeep bekommen, um über die Grenze zu fahren und zu sehen.

Herbert schrie mich an:

„Ein Jeep! – woher?“

Kurz darauf schnarchte er.

Sonst herrschte, sobald der Dieselmotor abgestellt war, meistens Stille; ein Pferd graste im Mondschein, im gleichen Gehege ein Reh, aber lautlos, ferner eine schwarze Sau, ein Truthahn, der das Wetterleuchten nicht vertrug und kreischte, ferner Gänse, die plötzlich, vom Truthahn aufgeregt, ebenfalls schnatterten, plötzlich ein Alarm, dann wieder Stille, Wetterleuchten über dem plat-ten Land, nur das grasende Pferd hörte man die ganze Nacht.

Ich dachte an Joachim —

Aber was eigentlich?

Ich war einfach wach.

Nur unser Ruinen-Freund schwatzte viel, und wenn man zuhörte, sogar ganz interessant; von Tolteken10, Zapoteken11, Azteken12, die zwar Tempel erbaut, aber das Rad nicht gekannt haben. Er kam aus Boston und war Musiker. Manchmal ging er mir auf die Nerven wie alle Künstler, die sich für höhere oder tiefere Wesen halten, bloß weil sie nicht wissen, was Elektrizität ist.

Schließlich schlief ich auch.

Am Morgen, jedesmal, weckte mich ein sonderbarer Lärm, halb Industrie, halb Musik, ein Geräusch, das ich mir nicht erklären konnte, nicht laut, aber rasend wie Grillen, metallisch, monoton, es musste eine Mechanik sein, aber ich erriet sie nicht, und später, wenn wir zum Frühstück ins Dorf gingen, war es verstummt, nichts zu sehen. Wir waren die einzigen Gäste in der einzigen Pinte, wo wir immer das gleiche bestellten: Huevos à la mexicana, sauscharf, aber vermutlich gesund, dazu Tortilla, dazu Bier. Die indianische Wirtin, eine Matrone mit schwarzen Zöpfen, hielt uns für Forscher. Ihre Haare erinnern an Gefieder: schwarz mit einem bläulich-grünen Glanz darin; dazu ihre Elfenbein-Zähne, wenn sie einmal lächeln, ihre ebenfalls schwarzen und weichen Augen.

9Hermes-Baby – tragbare Kofferschreibmaschine
10Tolteken – eine mesoamerikanische Kultur, die zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert den größten Teil Zentralmexikos beherrschte
11Zapoteken – in vorspanischer Zeit eine hochentwickelte Kultur in Südmexiko
12Azteken – eine mesoamerikanische Kultur in Zentralmexiko mit einer reichhaltigen Mythologie