Salafismus

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Z serii: Islamica #1
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Wie dem auch sei – wir können die Schlussfolgerung ziehen, dass das hochproblematische Narrativ der ‚erretteten Gruppe‘ gleichermaßen auf die Selbsterhöhung der eigenen bzw. die Herabwürdigung und Exklusion anderer Gruppen abzielt. Letztere schließen neben den Religionen der kuffār (Ungläubigen), zu denen Sunniten salafistischer Orientierung auch das Christentum und Judentum zählen, auch – und darauf kommt es den salafistischen Apologeten im innerislamischen Diskurs an – muslimische Gruppen mit anderen religiösen Vorstellungen ein (Schiiten, Sufis usw.). Die Qualifikation, aus der sich das Überlegenheitsgefühl speist, besteht einzig und allein in der ideologischen Zugehörigkeit zur ‚erretteten Gruppe‘, unabhängig von persönlichen Leistungen, der moralischen Integrität, ja selbst von den religiösen Handlungen.

Dies kann als ein wesentlicher Grund für die immer wieder zu beobachtende Anfälligkeit armer und marginalisierter Einzelpersonen und gesellschaftlicher Gruppen für die salafistische Ideologie in vielen islamischen Gesellschaften gesehen werden. In den salafistischen Predigen werden gesellschaftliche Außenseiter immer wieder mit dem koranischen Motiv getröstet, dass irdischer Reichtum (ob in Form von Ansehen, gesellschaftlichem Rang, Reichtum oder auch weltlichem Wissen) vergänglich sei und dass Gott ihm keinerlei Wert beimesse, dagegen aber die Befolgung des salafistischen Pfades als eine hohe, heilige Mission zur Verbreitung der islamischen Lehre auserkoren habe. Am Ende dieses Pfades werden sie dann ins Paradies eingehen, im krassen Gegenteil zum beklagenswerten Rest der Menschheit, welcher in der ewigen Verdammnis der Hölle schmoren wird. Die soziale Komponente des Narrativs der erretteten Gruppe umschreibt Nina Wiedl (2012: 31) wie folgt:

[50]Salafism provides social outcasts with a new dimension of a “holy” and (superior identity that allows them to move from the margins of society to become a member of the “saved sect”, the elite of true believers. People who felt rejected by mainstream society, for example on the grounds of being Turkish or Muslim or simply “different”, now voluntarily embrace a group identity characterized by strong dichotomies between themselves and the “ignorant” other, the “kuffār”, who have to be guided to the truth.

2.6 Der missionarische, der politische und der dschihadistische Salafismus

Wie auf den ersten Seiten dieses Buches bereits deutlich geworden sein sollte, ist der Salafismus keineswegs ein monolithischer ideologischer Block, sondern besteht aus zahlreichen, zum Teil miteinander konkurrierenden Untergruppen. Manche Experten nehmen eine Kategorisierung der Salafismus in drei Hauptströmungen vor, wie z. B. Quintan Wiktorowicz, welche sich dabei an die Theorie der sozialen Bewegungen anlehnen. Gemäß diesem Schema repräsentiert der missionarische Salafismus, welcher sich in erster Linie auf die Verbreitung der religiösen Lehre konzentriert, eine weitgehend unpolitische Ausrichtung des Salafismus. Dagegen möchte der politische Salafismus – wie es der Name schon sagt – seine religiösen Vorstellungen auch auf politischer Ebene verwirklicht wissen. Die dritte und aus sicherheitspolitischer Perspektive gefährlichste Ausrichtung stellt der dschihadistische Salafismus dar, welcher seine Ziele auch mit Gewaltanwendung und terroristischen Mitteln durchsetzen möchte, wie z. B. Al-Qaida (Wiktorowicz 2006: 208).

Abu Rumman ergänzt eine vierte Gruppe, die al-Ǧamʿiya Salafīya. Diese Bezeichnung geht auf einen äthiopischen Gelehrten namens Muhammad Bin Aman al-Jami zurück, der in Saudi-Arabien lebte und wirkte. Er hielt die Bildung politischer Parteien für religiös verboten (ḥarām) und begründete das damit, dass es sich hierbei um eine unzulässige Neuerung (bidʿa) handele. Denn die Gläubigen stünden gegenüber dem muslimischen Befehlshaber in der Gehorsamspflicht und dürften die demokratisch-parlamentarischen Spielregeln einschließlich der Bildung von Parteien und einer Opposition nicht akzeptieren. In der Konsequenz propagieren sie die vollständige Distanzierung von der Politik und politischen Parteien (Abu Rumman 2014: 65).

Diese Dreiteilung wird von einer Forschungsgruppe in dem Sammelband Global Salafism: Islam’s New Religious Movement als inkohärent kritisiert (Meijer 2009). Thomas Hegghammer gibt beispielsweise zu [51]bedenken, dass es ihr an einer klaren inneren Systematik und klaren Definitionen mangelt, abgesehen von Widersprüchen, welche sich bei der Anwendung dieser Theorie auf konkrete Forschungsgegenstände ergeben. Er schlägt eine alternative Einteilung vor, welche sich an einem Geflecht von Ressourcen, angewandten Strategien und mentalen Konzepten orientiert (Hegghammer 2009: 257). Zur Veranschaulichung des Ineinandergreifens dieser drei Kategorien demonstriert Nina Wiedl, dass der sogenannte missionarische Salafismus weit über die bloße Verkündung seiner religiösen Botschaft hinaus in hohem Maße auf die Herstellung bestimmter moralischer Haltungen abzielt, welche wiederum die Haltungen gegenüber der Rolle des islamischen Gesetzes im öffentlichen Raum verändern. In der islamischen Welt führt uns beispielsweise der Staat Saudi-Arabien, der als missionarisch eingestuft wird, mit seiner Instrumentalisierung der salafistischen Doktrin vom Verbot des bürgerlichen Ungehorsams bzw. der Bildung einer Opposition die Reichweite der vermeintlich unpolitischen Botschaft deutlich vor Augen (Wiedl 2012: 12f.).

Ich persönlich neige, gestützt auf meine praktischen Feldforschungserfahrungen, ebenfalls zu der Einschätzung, dass diese dreiteilige Klassifikation im Rahmen einer Studie über die Interaktionen und Wechselwirkungen der Salafisten mit der lokalen Migrantengesellschaft im Westen wenig hilfreich bzw. zu statisch ist. Tatsächlich lassen sich im globalen Maßstab mancherorts mehrere miteinander konkurrierende regionale Ausprägungen des Salafismus entsprechend der bekannten Dreiteilung beobachten. Im ägyptischen Kontext etwa macht eine solche Klassifizierung durchaus Sinn. Dort operiert ein missionarischer Salafismus, welcher nach der Absetzung des Langzeitherrschers Hosni Mubarak durch die Militärs infolge des arabischen Frühlings eine Beteiligung an den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ablehnte. Weiterhin gibt es dort einen politischen Salafismus, welcher von der rein missionarischen Orientierung Abstand nahm und die Nur-Partei (‚Die Partei des Lichts‘) gründete, welche mit fast 25 Prozent überraschend als zweitstärkste Fraktion ins ägyptische Parlament gewählt wurde (Griffel 2015: 187). Schließlich ist ein dschihadistischer Salafismus auf der Sinai-Halbinsel vertreten, welcher dort einen blutigen Kampf mit den ägyptischen Sicherheitskräften ausficht, in dessen Verlauf bereits mehrere Tausend Todesopfer auf beiden Seiten und unter der Zivilbevölkerung zu beklagen sind.

Die Übertragung solcher regionaler Konstellationen und der in diesen Kontexten verwendeten Terminologien auf westliche Muster ist jedoch höchst problematisch. Zwar sind die verschiedenen salafisti-[52]schen Gruppen auch in Deutschland untereinander tief zerstritten und weit von einer einheitlichen Bewegung entfernt, eine entsprechende Dreiteilung ist jedoch aufgrund der völlig anderen strukturellen Rahmenbedingungen wenig zielführend. Ein grundlegender Unterschied besteht z. B. darin, dass innerhalb des deutschen Islam kein organisierter politischer Flügel des Salafismus existiert. Im Gegenteil, die Salafisten hängen Deutschland und seinem politischen, aber auch seinem gesellschaftlichen System häufig das Prädikat kāfir (‚ungläubig‘) oder daulat aṭ-ṭāġūt (ein Staat, dessen Organe und Gesetze von Menschen bestimmt werden) an. Für sämtliche von mir interviewten Salafisten in Bayern erwachsen aus dieser Haltung klare praktische Konsequenzen. Als gläubiger Muslim habe man sich aus der offiziellen Politik in Deutschland herauszuhalten, und mehr noch, schon die bloße Teilnahme an Wahlen selbst auf lokaler Ebene wird der religiösen Kategorie taḥrīm (‚verboten‘) zugeordnet. Meines Wissens gibt es in Deutschland keine salafistischen Gruppierungen, welche ein politisches Engagement für erlaubt halten, geschweige denn selbst in Erwägung ziehen. Wie mir ein Salafist namens Umar Anfang 2017 in München während einer Befragung zutrug, liegt der Hauptgrund für diese ablehnende Haltung in der Auffassung begründet, dass in Deutschland das göttliche Recht nicht verankert ist.

Auch die häufig verwendeten Bezeichnungen ‚traditioneller Salafismus‘ oder ‚reiner Salafismus‘ halte ich für irreführend, denn sie spiegeln nicht die gesellschaftliche Realität im Kontext westlicher Migrantenmilieus wider. Statt der oben diskutierten Einteilung schlage ich eine schlichte Zweiteilung in einen ‚ideologischen Salafismus‘ und einen ‚dschihadistischen Salafismus‘ vor. Im Folgenden werde ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die Graubereiche zwischen diesen beiden prinzipiellen Haltungen diskutieren.

2.6.1 Der ideologische Salafismus

Mit dieser Bezeichnung meine ich diejenigen salafistischen Gruppen, welche die Religion als ideologisches Fundament für die Realisierung ihrer politischen Ziele einsetzen. Dies geschieht im Streben nach der Schaffung eines islamischen Systems, in welchem der öffentliche Raum eine stark islamische Prägung erfährt und das islamische Recht zur Anwendung kommt. Mit dieser religiösen Haltung geht in der Regel die Ablehnung der gesellschaftlichen und politischen Institutionen Deutschlands einher, darunter auch das Grundgesetz. Die als ein harmonisches Gebilde dargestellte salafistische Lesart des Islam wird auf Konzepte und Kriterien ausgerichtet, welche eine konfrontative Haltung [53]gegenüber anderen religiösen und gesellschaftlichen Gruppen (abweichende muslimische Strömungen wie Schia oder Sufismus, die deutsche Gesellschaft und ihre Institutionen, die gesamte Welt außerhalb der eng gefassten ‚Gemeinschaft der Sunna‘ – ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa) begründen. Diese Mentalität macht den Salafismus zu einer sektiererischen Bewegung mit einer Ideologie, bei welcher die Ablehnung des Anderen und die vermeintlich buchstabentreue Vermittlung der Inhalte des Koran, der Sunna und der islamischen Frühgeschichte im Zentrum stehen.

 

Aufgrund meiner persönlichen, während der Feldforschung gesammelten Eindrücke schätze ich, dass viele Salafisten in Bayern dieser Ausrichtung zuzurechnen sind, daher stehen sie im Mittelpunkt dieses Buches. Diesen Schluss lassen meine Befragungen und die Analyse der 30 von mir besuchten Predigten zu. Ohne die spätere Auswertung dieser Predigten vorwegnehmen zu wollen, lässt sich an dieser Stelle bereits sagen, dass die Mehrheit der Predigten entweder direkt hochgradig politische Themen (insbesondere die Kriege in Syrien und dem Irak) oder indirekt allgemeine politische Diskurse wie den ideologischen Kampf zwischen der sunnitischen Welt auf der einen und dem schiitischen Iran und der von ihm protegierten libanesischen Hizbullah auf der anderen Seite aufgreift.

In diesem Licht darf die während meiner Feldforschung demonstrativ geäußerte Ablehnung politischer Partizipation nicht als politische Enthaltsamkeit missinterpretiert werden. Dies wird durch die Tatsache bestärkt, dass sich die salafistischen Prediger keineswegs auf Konflikte unter Muslimen und Konfliktherde in anderen Weltgegenden beschränken, sondern vielmehr auch deutsche Verhältnisse thematisieren. So werden z. B. mit großer Regelmäßigkeit scharfe Breitseiten gegen die Integration oder den Religionsdialog17 (ob zwischen muslimischen Gruppen oder zwischen Muslimen und Andersgläubigen, sofern es sich nicht um Werbeplattformen für die Verbreitung des Islam handelt) abgefeuert. Anderen islamischen oder nicht muslimischen Geisteshaltungen (z. B. Schiitentum, Sufismus, Säkularismus) wird mit offener Ablehnung begegnet. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Aktivitäten und Predigten der Salafisten von einem enormen Sendungsbewusstsein getragen werden und auf sichtbare Veränderungen des öffentlichen Lebens in dieser Gesellschaft abzielen.

[54]In diesem Sinne kann die von mir als ideologischer Salafismus bezeichnete Ausrichtung als Träger der weltweit aktiven salafistischen Mission angesehen werden, welche zielbewusst auf die Verbreitung des Gedankenguts des Salafismus sowohl unter den Muslimen als auch in der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland ausgerichtet ist und ihr ideologisches Zentrum in Saudi-Arabien hat. Nina Wiedl weist darauf hin, dass die salafistische Bewegung sich in Deutschland erst zu Beginn der 2000er Jahre formierte, als sie überall in Deutschland Moschee- und Gemeindenetzwerke mit dem Zweck der Verbreitung ihrer Botschaft ins Leben rief (Wiedl 2012: 9). Sie beobachtet drei Phasen der Entwicklung: Die Vorbereitungsphase, welche sie zwischen 1990 und 2001 ansetzt, basierte auf dem Engagement einzelner lokaler Imame wie dem syrischstämmigen Prediger Hasan Dabbagh (geb. 1972) in Leipzig oder dem marokkanischstämmigen Chefideologen Muhammad Bin Hasan in Bonn. In der zweiten Phase begannen die eben genannten Protagonisten und andere Aktivisten mit der offenen Verbreitung ihrer Botschaft auf gesamtdeutscher Ebene, wobei sie sich insbesondere die sich in dieser Phase rasch ausbreitenden Social Media zunutze machten. Erst in der dritten Phase, welche laut Wiedl 2005 einsetzt, betraten Prediger die Bühne, welche die Botschaft des Salafismus in jugendgerechter, zum Teil milieugefärbter deutscher Sprache an das zunehmend deutschsprachige junge Publikum richtete. Der herausragendste Kopf dieser Bewegung ist zweifellos der charismatische Konvertit und ehemalige Amateurboxer Pierre Vogel (Wiedl 2014: 417f.). Wiedls Beschreibung stimmt mit meinen eigenen Beobachtungen in Bayern überein, welche ich im nächsten Kapitel ausführlich diskutieren werde.

Die oben genannten Prediger Hasan Dabbagh18 und Pierre Vogel19 sowie der Marokkaner Abdul Adhim Kamouss20 und der Palästinenser [55]Ibrahim Abou Nagie gelten als die ‚Stars‘ der Salafismus in Deutschland. Sie predigen und kommunizieren in ihren Internetvideos in deutscher Sprache und erreichen damit viele junge Muslime, welche ihre Muttersprache oft nur unzureichend beherrschen (Wiedl 2012: 17). Ihre Predigten können als charismatisch, auf die Bedürfnisse der Jungend zugeschnitten und der Zielgruppe entsprechend didaktisch reduziert charakterisiert werden.

Die Sicherheitsbehörden begannen etwa ab 2005 mit der Beobachtung des salafistischen Aktivismus, was in erster Linie der politischen Dimension ihrer Botschaft und weniger ihrer religiösen Sprengkraft innerhalb des Islam zuzuschreiben geschuldet ist. Im Verfassungsschutzbericht (Stand: Juni 2018) ist von ca. 11.200 aktiven Salafisten in Deutschland die Rede, welche unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen.

2.6.2 Der dschihadistische Salafismus

Der Tunesier Abd al-Latif al-Hurmasi, ein Kenner dschihadistischer Bewegungen, definiert diese extremistische Strömung des Salafismus als „ideologisches […] Projekt, welches von lose strukturierten aktivistischen Kämpfernetzwerken getragen wird, die sich aus sozialen Systemen, politischen Eliten, einer dominierenden Kultur und internationalen Beziehungen speisen“ (al-Hurmasi 2007). Seiner Meinung nach rekrutieren sie Personen mit den verschiedensten persönlichen Hintergründen hinsichtlich ihrer finanziellen Situation, ihrem Bildungshintergrund oder ihrer religiösen (Aus-)Bildung (z. B. in traditionellen Lehranstalten oder in modernen religiösen Hochschulen). Der gemeinsame Kitt zwischen diesen ideologisch zum Teil weit auseinander liegenden Gruppen und Individuen ist die politisch-religiöse Agenda, welche ihre Ziele und Aktivitäten konstituiert (al-Hurmasi 2007).

Anders als der ideologische Salafismus ist der dschihadistische Salafismus prinzipiell als gewaltbereit und gewaltaffin einzustufen. Es ist jedoch schwierig, zuverlässige Informationen über diesen Personenkreis zu erhalten. In meinen Interviews wies sich keine einzige Person als offener Unterstützer aktiver bewaffneter Organisationen aus, was angesichts der intensiven Beobachtungen dschihadistischer Aktivitäten durch die Sicherheitsorgane auch meinen Erwartungen entsprach. Wer sich als offener oder verdeckter Unterstützer solcher Gruppierungen ‚outet‘, muss mit juristischer Verfolgung bis hin zu empfindlichen [56]Gefängnisstrafen rechnen. Da sich keiner der Befragten in Bayern als ‚Dschihadist‘ zu erkennen geben wollte, fragte ich einige Salafisten vorsichtig, ob sie in ihrem weiteren Umfeld denn Dritte kennen würden, von denen sie sich vorstellen könnten, dass sie sich für den dschihadistischen Flügel des Salafismus begeisterten. Etliche der Befragten in mehreren Städten (Regensburg, Nürnberg, München, Weiden) bejahten diese Frage; einige konstatierten, dass manche dieser Personen sogar ‚gemäßigten‘ Salafisten den Glauben absprechen würden (zur Entwicklung des Dschihadismus in Deutschland siehe Baehr 2014).

2.7 Grauzonen zwischen ideologischem und dschihadistischem Salafismus

Tatsächlich sind die Grenzen zwischen den ideologischen und den dschihadistischen salafistischen Gruppierungen äußerst undurchsichtig und fließend. Viele Forscher werfen dem von mir als ideologisch bezeichneten ‚friedlichen‘ Flügel – insbesondere dem wahhabitischen – vor, dass er aufgrund der Vermittlung radikaler Auslegungen des Islam eine wachsenden Zahl junger Leute in Europa zum Extremismus inspirieren würde (Azzam 2007: 125). Zwischen den nach außen hin unpolitischen salafistischen Gruppen und dem internationalen Dschihadismus werden weitreichende Verbindungen angenommen. Zwar muss man den meisten Aktivisten des ideologisch orientierten Salafismus zugutehalten, dass sie sich von dschihadistischem Gedankengut offen distanzieren, die Narrative beider Ausrichtungen weisen jedoch signifikante Überlappungen auf. Wenn wir beispielsweise die Tauḥīd-Moschee betrachten, in der ich eine Reihe von Freitagspredigten mitverfolgen und aufzeichnen konnte und die sich selbst auf ihrer Webseite eindeutig als Vertreter des ideologischen Salafismus präsentiert, so lässt sich nicht leugnen, dass die in ihr transportierten Narrative und Botschaften an die Muslime durchaus auch dschihadistischen Bewegungen als Basis für die Rechtfertigung der Ausübung von Gewalt im Namen der Religion gegen Muslime und Andersgläubige dienen könnten.

Al-Hurmasi charakterisiert den dschihadistischen Salafismus mit folgenden beiden Merkmalen:

•Es handelt sich um eine extreme Form der Klassifizierung von Menschen nach religiösen Werturteilen. Weit über die bereits problematische traditionelle Zweiteilung in Muslime und Ungläubige/Leugner der Botschaft Gottes (kuffār) hinausgehend, dehnen sie die koranischen Begriffe kufr (‚Unglaube/Leugnung der Botschaft Gottes‘) und širk (‚gottgleiche Verehrung außergöttlicher Wesenheiten, Polytheismus‘) auch auf einen großen Teil der Muslime aus und [57]schneiden umgekehrt die Definition von Islam und der ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa exklusiv auf die eigene Gruppe zu.

•Es handelt sich um eine extreme Form der Politisierung von Religion, und zwar in Gestalt einer Ideologie der Konfrontation, welche die Wiederherstellung des historischen politischen Systems des Islam nur als ein Zwischenziel zur Errichtung eines weltweiten islamischen Kalifats betrachtet.

Besonders im letzten Punkt treffen sich der ideologische Salafismus und der dschihadistische Salafismus. Ersterer hält zwar in dieser Phase den ideologischen Kampf gegen den ṭāġūt für maßgeblich, doch als abstrakte Idee ist die Vorstellung eines weltweiten Kalifats durchaus präsent. Wie ich in die Kapitel 5 zeigen werde, setzen die Aktivisten in der Tauḥīd-Moschee der Zugehörigkeit zum Islam bzw. zur Gemeinschaft der Gläubigen sehr enge Grenzen, sodass alle geistigen Strömungen des Islam über den Salafismus (und ihre Vorgänger, die ahl-as-sunna/ahl al-ḥadīṯ) hinaus, z. B. der Sufismus, die Schia oder der Säkularismus, mehr oder weniger dem Feuer geweiht sind. Dasselbe gilt für die munāfiqūn (Heuchler) und ǧahāla (Unwissende), womit der Großteil der gewöhnlichen Muslime gemeint ist, welche aus Sicht der Salafisten den Islam dogmatisch nicht ausreichend verstehen und ihn nicht konsequent genug praktizieren.

Die Predigten ermöglichen einen Einblick in eine gigantische, hegemoniale islamische Utopie, den Traum von einem Hyper-Kalifat, dem sich die ganze Welt zu unterwerfen hat. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass ein solches Weltbild einer möglichen Anerkennung von religiöser und weltanschaulicher Pluralität diametral entgegensteht. Dieser Überlegenheitsgedanke mag eine Erklärung dafür liefern, dass nicht nur stramm dschihadistisch eingestellte Personen, sondern auch eine Reihe von Salafisten aus dem Umfeld des vermeintlich ‚harmlosen‘ ideologisch orientierten Salafismus nach Syrien und in den Irak gezogen sind, um dort dem Islamischen Staat oder anderen bewaffneten Rebellengruppen zu dienen. Wie eine Analyse der deutschen Sicherheitsbehörden aus dem Jahr 2014 zeigt, waren nicht wenige der jungen Männer und Frauen, die sich bewaffneten dschihadistischen Bewegungen anschlossen, zuvor in Moscheen und Vereinigungen des ideologisch orientierten Salafismus aktiv (Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt [KI11, ST33], Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus [HKE], 2014).

Da ich diese Einschätzung – wie auch Abu Rumman (2014: 73) – teile, halte ich es für schwierig, die verschiedenen Ausrichtungen und Gruppen des Salafismus in ein festes Ordnungsschema zu pressen, denn die [58]Übergänge sind oft fließend und lassen das Bild einer stark fragmentierten Bewegung als zutreffender erscheinen als induktiv ermittelte Einteilungen, welche geographisch und situativ mehr oder weniger zutreffen können. Es sind eben die Narrative des ideologischen Salafismus, die das Rückgrat des Extremismus bilden – und im schlimmsten Fall die Lizenz zum Töten geben.

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