In Freiheit dienen

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»Folge mit nach!«

Zwei Personen der frühen Kirche verkörpern die menschliche Reaktion auf Jesus Christus derart, dass sie heute noch als Prototypen für christliche Führung gelten: Petrus und Paulus. Beide haben ganz verschiedene Hintergründe. Heute würde man Petrus einen Arbeiter und Paulus einen Akademiker nennen. Fischer und Rabbi mit verschiedenen Sprachen und Voraussetzungen treffen Jesus. So stellen die beiden das breite Feld der christlichen Führung dar.

Für Petrus beginnt die Geschichte an einem gewöhnlichen Arbeitstag beziehungsweise in einer Arbeitsnacht. Erschöpft von Dunkelheit und Kälte hat er draußen auf dem See nichts fangen können und ist, als er anlegt, vermutlich nur mäßig an dem Fremden am Strand interessiert. Doch dann passiert alles sehr schnell und unerwartet und endet mit so viel Fisch, dass die Boote beinahe sinken. Da wirft Simon Petrus sich Jesus zu Füßen und sagt: »Herr, kümmere dich nicht weiter um mich – ich bin ein zu großer Sünder, um bei dir zu sein« (Lukas 5,1-11).

Warum sagt er das? Jesus hat kein Wort von Sünde gesagt. Zu diesem Zeitpunkt hat er überhaupt noch nicht gepredigt, sondern Petrus nur das gegeben, was dieser die ganze Nacht versucht hatte zu bekommen: Fisch. Es muss das Treffen mit dem konkret Göttlichen gewesen sein, das eine Selbsterkenntnis hervorgebracht hat, wie sie keine Predigt der Welt je erreichen kann. Es war nicht das Treffen mit einer Furcht einflößenden Heiligkeit, sondern das Treffen mit jemandem, der ihm nur Gutes wollte. Das erleuchtete all das, was Petrus am liebsten nicht sehen wollte.

Die doppelte Belichtung, als Petrus gleichzeitig Gottes und sein eigenes Angesicht sieht, hat sein Leben verändert. Die Gnade beinhaltet nicht nur Vergebung, sondern zieht Petrus mit sich in einen Auftrag, den er sich in seinen wildesten Träumen nicht vorgestellt hätte: »Jesus sagte zu Simon: ›Hab keine Angst. Von jetzt an wirst du Menschen fischen.‹« Er vergibt jemandem wie ihm nicht nur, sondern will mit ihm zusammenarbeiten!

Drei Jahre später ist unfassbar viel passiert und Petrus und Jesus sind wieder am gleichen Strand (Johannes 21). Die dunklen Seiten, die Petrus schon beim ersten Mal in seinem Innern gespürt hatte, haben ihn in Betrug und Erniedrigung gestürzt. Er hat völlig den Boden unter den Füßen verloren und getan, was er niemals von sich selbst erwartet hätte. All seine theologischen Einsichten und geistlichen Erfahrungen sind unter einfachem Gruppenzwang wie Eierschalen zerbrochen. Und er sollte doch »der Fels« sein, auf dem Christus seine Kirche aufbauen wollte.

Doch so abgrundtief seine Sünde auch war – Jesu Güte ist noch tiefer. Petrus erwartet, dass Jesus auf das zu sprechen kommt, was passiert ist, als sie nach seiner Auferstehung einen Spaziergang am Wasser entlang machen. Wann wird er etwas sagen? Aber er sagt nichts. Kein einziges Wort über das, was geschehen ist. Nur eine Frage, die Jesus dreimal wiederholt: »Liebst du mich?«

Jesus fragt nicht nach Petrus’ Sünde. Er fragt auch nicht nach seinen Führungsqualitäten. Er fragt nicht einmal nach seinem Glauben. Er fragt nach der Beziehung. Auf dieser Grundlage bekommt Petrus seinen erneuerten Auftrag: »Weide meine Lämmer.« – »Hüte meine Schafe.« – »Weide meine Schafe.« Am Ende des Gesprächs fasst Jesus die ganze Sache in drei wohlbekannten Worten zusammen: »Folge mir nach.«

Eine Reaktion auf Gottes Güte

Auch Paulus hat eine unerwartete Begegnung an einem gewöhnlichen Arbeitstag (Apostelgeschichte 9,1-25). Die Religionswächter fordern Opfer und ihr gewissenhafter Anführer ist auf dem Weg, um noch mehr Mitglieder der neuen Sekte aufzuspüren, als er plötzlich von einem hellen Lichtschein vom Himmel geblendet wird. Er fällt zu Boden und hört eine Stimme, die zu ihm sagt: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« Er fragt: »Wer bist du, Herr?« – »Ich bin Jesus, den du verfolgst …«

Und Paulus, der bislang klar sehen konnte, erblindet für drei Tage. In dieser Zeit isst und trinkt er nichts. Erst als ein Mitglied der gefürchteten Sekte ihn aufsucht, ihm die Hände auflegt und die unerhörten Worte »Saul, Bruder« spricht, lässt die Lähmung nach, und Paulus kann wieder sehen.

Auf so dramatische Art relativiert Gott seine große theologische Kompetenz und geistliche Klarsicht. Auf null gesetzt, buchstäblich am Boden, muss Paulus sich einem Gott beugen, der sich nicht kontrollieren oder imponieren lässt. Paulus ist derart entblößt und abhängig, dass er die geistliche Wegbegleitung von einem von denen annimmt.

Als Paulus einige Jahre später seinen Lebenslauf für seinen Schüler und Kollegen Timotheus zusammenfasst, klingt das so:

Wie dankbar bin ich Christus Jesus, unserem Herrn, der mich stark gemacht, als vertrauenswürdig erachtet und zu seinem Dienst berufen hat, obwohl ich ihn früher verachtet habe! Ich habe die Gläubigen verfolgt und ihnen geschadet, wo ich nur konnte. Doch Gott hatte Erbarmen mit mir, weil ich unwissend und im Unglauben handelte. Aber der Herr war freundlich und gnädig! Er hat mich erfüllt mit Glauben und mit der Liebe von Christus Jesus. Was ich sage, ist wahr und glaubwürdig: Christus Jesus kam in die Welt, um Sünder zu retten – und ich bin der Schlimmste von allen. Aber Gott hatte Erbarmen mit mir, damit Jesus Christus mich als leuchtendes Beispiel für seine unendliche Geduld gebrauchen konnte. So bin ich ein Vorbild für alle, die an ihn glauben und das ewige Leben erhalten werden.

1. Timotheus 1,12-17

Man achte darauf, was er sagt – und was er nicht sagt. Was ist Grundlage und Antrieb seiner Arbeit und Führung? Kein Wort von seinen theologischen Kenntnissen (obwohl er die Rabbiner-Ausbildung absolviert hat). Kein Wort von seinen geistlichen Gaben (die in der Apostelgeschichte dokumentiert sind). So wenig sie bei Petrus im Mittelpunkt stehen, tun sie es bei Paulus. Beide Leiter kannten sich selbst viel zu genau und waren viel zu stark von der Liebe Jesu geprägt, um sich von ihrer eigenen Spiritualität beeindrucken zu lassen.

Ihre Führung gründete in etwas ganz anderem: Sie war eine Reaktion auf Gottes Güte. Paulus beschreibt sich selbst als ein »Vorbild für alle« (vgl. 1. Timotheus 1,16), die zum Glauben finden sollen. Was macht ihn zum Vorbild? Seine Klugheit? Seine große Geistlichkeit? Nein, seine Sünde – und seine Erfahrung einer noch viel größeren Barmherzigkeit. Anstatt von Paulus imponiert zu sein, hat Jesus »all seine Geduld« auf ihn gesetzt. Zweimal wiederholt Paulus das Unerhörte, das schlussendlich den Unterschied macht: »Gott hatte Erbarmen mit mir.«

Das ist nicht nur ein kurzer frommer Exkurs aus Paulus’ erfolgreicher Führungsgeschichte, wie sich im wiederholten Ausdruck in seinem Brief zeigt: »Da Gott uns in seiner Gnade diese Aufgabe anvertraut hat …« (2. Korinther 4,1). Dies also ist das ganze Fundament seines Lebens, seiner Arbeit und seiner Führung. Es ist die Beziehung zu Jesus, die für Paulus Herz, Feuer und Quelle ist. Dass Gott der große Wiederverwerter ist, zeigt sich, als das theologische Wissen und die Geistesgaben, die Paulus dauerhaft hätten verblenden können, stattdessen zum Augenöffner für die ganze christliche Kirche werden.

Das Ich hinter der Leistung

Vergleicht man die beziehungsbasierte Führung mit der gabenbasierten, zeigen sich die Unterschiede Stück für Stück:

• Inklusion. Paulus macht deutlich, dass er eher schlechter denn besser ist als alle anderen. Die »Exklusivität« ist eine Einladung zur Teilhabe statt eine Elite-Markierung: »Es gibt auch für dich einen Platz!« Wenn Führung darauf aufbaut, dass Gott seine Barmherzigkeit gezeigt hat, und nicht darauf, dass man selbst gezeigt hat, was man alles kann, wird der Dienst in der Gemeinde eine natürliche Reaktion für alle, die Gottes Güte erfahren haben, und nicht ein exklusives Revier für ein paar Auserwählte.

• Freiheit. Meine Beziehung zu Gott ruht in Gottes Güte mir gegenüber, nicht darin, wie gut ich die Gaben verwalte, die er mir gegeben hat. Ein entscheidender Wendepunkt in den Geistlichen Übungen von Ignatius ist erreicht, wenn die Meditation über Gottes Liebe mir gegenüber Dankbarkeit im Herzen erweckt.10 Nur diese freie Antwort aus dem Herzen kann einen ausreichend nachhaltigen Antrieb zu dem geben, was Ignatius in seiner Sprache todo amar y servir nennt: in allem zu lieben und zu dienen.

• Treue. Es ist die Treue zu Gott, die zählt, nicht das Ergebnis. Als die Verwalter in Jesu Gleichnis ihre unterschiedlichen Ergebnisse präsentieren, bekommen sie alle genau die gleiche Antwort: »Komm, nimm Teil am Freudenfest deines Herrn« (vgl. Matthäus 25,14-30). Nicht die Bilanz steht im Mittelpunkt, sondern die Beziehung zu Jesus. Deshalb macht man weiter, wenn andere aufgeben, weil sie keine Ergebnisse sehen. Die Treue zeigt auf Gott, nicht auf die eigenen Gaben oder Resultate.

• Gottesbild. Als Mose Gott am brennenden Dornbusch fragt, von wem er dem Volk berichten soll, erfährt er Gottes Namen: »Ich bin, der ich immer bin« (2. Mose 3). Die Druckwelle dieser Offenbarung ist so stark, dass sie das Joch der Sklaverei (der Instrumentalisten) zerbricht und das Volk aus Ägypten befreit. Gott ist kein Gott, den man für etwas benutzen kann, sei es für den christlichen Dienst oder andere Projekte. Er sieht auch den Menschen nicht als Ressource, den er für seine Zwecke missbrauchen kann. Er ist, der er ist – und er ruft die Menschen, so zu sein, wie sie wirklich sind! Abbilder Gottes.

• Selbstbild. Der Mensch ist also nicht ein Bündel Gnadengaben auf zwei Beinen, das für Gott und andere nur wegen seiner Leistungen interessant ist, ansonsten aber unbedeutend. Hinter all diesen Masken der Hochleistung tritt mit der Zeit das eigene Gesicht hervor, ein Ich, das in Reaktion auf ein größeres Du zum Leben erweckt wurde. Und weil dieses Ich wertvoll ist, schütze ich es.

 

• Gemeinschaft. Wenn die Arbeit alles ist, werden alle Beziehungen nach ihrer Nützlichkeit beurteilt, egal ob es sich um zwischenmenschliche Beziehungen oder die Verbindung zu Gott handelt. Die entscheidende Frage lautet: »Bin ich es wert, dass man mit mir zusammen ist?« Erst wenn man diese Frage aus tiefstem Herzen mit Ja beantwortet, wird Freundschaft im eigentlichen Sinn möglich – zu Gott und den Menschen. Die beziehungsbasierte Führung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Beziehungen einen Eigenwert erhalten und nicht vorzeigbare Vorteile abverlangen. Denn dann ist es auch nicht sonderlich verlockend, »von Gott abzuschalten«, wenn man Urlaub hat. Warum sollte man das auch tun, wenn er sich als Quelle der Liebe und aller Güte gezeigt hat?

Wahre Berufung

Natürlich gibt es auch in der Tradition der Großkirchen, wo sich Leitung durch Amt und Weihe definiert, die gleichen Versuchungen zur Selbstgefälligkeit wie überall. Die Rolle und die äußeren Insignien des Bischofs, Priesters oder Diakons können buchstäblich zur Halskrause für ein brüchiges Selbstwertgefühl werden. Einmal unterhielt ich mich mit dem Direktor eines katholischen Priesterseminars in England. Er erzählte mit berechtigter Sorge, dass einige Schüler protestiert hatten, als sie auf dem Jahrgangsfoto keine spezielle Kluft tragen sollten, »vielleicht aus Angst, dann niemand zu sein«. Man muss nicht extra herausstellen, dass ein solcher Priester seiner Gemeinde den Zugang zu Gott nicht unbedingt erleichtert.

Andererseits muss beziehungsbasierte Führung natürlich nicht zwangsläufig im Gegensatz zu einem kirchlichen Amt stehen. Das bestätigt nicht zuletzt die jesuitische Tradition. Es dürfte ziemlich schwer sein, sich während der mehrjährigen Priesterausbildung zweier 30-Tage-Exerzitien zu unterziehen, ohne sich mit seinem tiefsten Innern auseinanderzusetzen und dadurch eine tragfähige Beziehung zu Christus aufzubauen. So kann das Amt zu einem Ausdruck der Beziehung werden, statt den Mangel an Beziehung zu verbergen.

Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist Berufung. Dieses Wort klingt für jeden anders. Für manche klingt es nach Trauer, Gram und Bitterkeit: »Ich habe mich einmal berufen gefühlt und Nein gesagt. Seitdem habe ich die Beziehung zu Gott nicht mehr in Ordnung bringen können.« Für andere schwingt eine gewisse Unfreiheit mit: »Eigentlich gefällt es mir nicht, in der Kirche zu arbeiten, aber man muss seine Berufung ja erfüllen.« Für wieder andere ist Berufung ein schwebendes Gefühl der Unsicherheit, das sie nie loslässt: »Ich weiß nicht, ob ich wirklich berufen bin. Manchmal glaube ich daran, aber oft zweifle ich.« Und für die überwältigende Mehrheit bezieht sich Berufung immer noch vornehmlich auf die Arbeit, nicht auf die Beziehung.

Bei einem kurzen Blick in die Bibel wird man schnell Lunte riechen: Berufung bedeutet durchweg, dass Gott Leute aus dem, was bindet und klein macht, herausruft und stattdessen in eine tiefere Beziehung zu ihm führt, wo sie in Freiheit zu seinen Abbildern heranwachsen können. Einige Eindrücke aus der Geschichte:

• Die Schöpfung ist das erste Beispiel. Im Römerbrief steht, wie Gott »ins Dasein ruft, was vorher nicht war« (Römer 4,17). Ein Hinweis darauf, dass Gottes Berufung weit mehr ist als eine Herausforderung. Sie ist schöpferisches Wort, das aus dem Nichts hervorruft, was seinen Willen formt und seine Herrlichkeit zeigt.

• Abraham war im Glauben gehorsam, »als Gott ihn aufforderte, seine Heimat zu verlassen und in ein anderes Land zu ziehen, das Gott ihm als Erbe geben würde. Er ging, ohne zu wissen, wohin ihn sein Weg führen würde« (Hebräer 11,8). Durch sein schwindelerregendes Abenteuer wurde er zum Glaubensvater für Juden, Christen und Muslime und zeigt Gottes Treue weit über den ursprünglichen Kontext hinaus.

• Israels Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten wird vom Propheten Hosea als Antwort auf Gottes Ruf beschrieben: »Als Israel jung war, habe ich es in mein Herz geschlossen, und ich habe meinen Sohn aus Ägypten gerufen. Immer, wenn ich ihn rief, lief er vor mir davon.« Warum ziehen wir uns zurück, wenn Gott ruft? Vielleicht aus dem gleichen Grund, wie Hosea vermutet: »Sie waren sich aber gar nicht bewusst, dass ich es war, der sie geheilt hatte« (Hosea 11,1-3).

• Die Umkehr zu Jesus wird durch alle Evangelien hinweg als Berufung beschrieben. Beispielsweise als Jesus den Zöllner Matthäus trifft und ihn nach einem Fest gegen die Kritik der Frommen verteidigt: »Die Gesunden brauchen keinen Arzt – wohl aber die Kranken. Nun geht und denkt einmal darüber nach, was mit dem Wort in der Schrift gemeint ist: ›Ich will, dass ihr barmherzig seid; eure Opfer will ich nicht.‹ Denn ich bin für die Sünder gekommen und nicht für die, die meinen, sie seien schon gut genug« (Matthäus 9,9-13). Auch hier wird wieder betont, dass Berufung mit Heilung einhergeht.

• Der Tod ist nach Auffassung dieser Welt die unwiderrufliche Endstation. Doch Jesus öffnet auch diese Tür. Und auch hier zeigt sich die befreiende Kraft in Jesu Ruf: »… wie Jesus Lazarus aus dem Grab ins Leben zurückgerufen hatte« (Johannes 12,17).

Es gibt also in der Berufung immer ein Woher und ein Wohin. Aus dem grundlegenden Angerührtsein hin zu größerer Nähe zu Jesus und größerer Freiheit, man selbst zu sein. In diesem Muster werden viele Motive offenbar: Aus der Dunkelheit zum Licht. Aus der Abhängigkeit zur Freiheit. Von der Lüge zur Wahrheit. Vom Tod zum Leben. Von der Sünde zur Gerechtigkeit. Aus der Einsamkeit zur Gemeinschaft. Vom Bild zur Wirklichkeit. Aus der Zersplitterung zum Zusammenhang. Vom Produzieren zum Empfangen. Vom Stress zur Präsenz. Und so weiter.

Man kann also an seinem Bauchgefühl erkennen, ob man Gottes Ruf richtig verstanden hat. Wenn man sich gezwungen, beengt und unecht fühlt, kann man sicher sein, dass das nicht von Gott kommt. Dann bewirkt es schon eine gewisse innere Freiheit, wenn man beginnt, die eigene Situation infrage zu stellen und andere Türen zu öffnen. Gott beruft einen Menschen nicht einfach auf solche Weise. Das stellt auch Paulus kategorisch fest: »Der Herr aber ist der Geist, und wo immer der Geist des Herrn ist, ist Freiheit« (2. Korinther 3,17).

Das bedeutet auch, dass die biblische Sicht auf Berufung eher das Gegenteil jener Berufung ist, die Menschen in einen eisernen Griff von »Gottes Willen« einschließt und jene ausgrenzt, die den Ruf nicht erfahren haben.

Ein Spinnennetz aus Illusionen

Für manche ist der Ruf Jesu eher eine Einladung, der Spiritualität zu entkommen. Und zwar dann, wenn er in jene spezielle religiöse Verdrehung der Wirklichkeit hineinspricht, die den Philosophen Martin Buber ausrufen ließ: »In der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken, wie Religion!« Dabei kann es, wie gesagt, um eine Führungsfunktion gehen, die uns unbemerkt uns selbst und anderen entfremdet hat. Es kann auch um innerkirchliche Debatten und Verhaltensmuster gehen, die die Macht über uns gewonnen haben und uns nun daran hindern, das Wesentliche zu sehen.

Es kann sogar so sein, dass wir tiefgründige geistliche Bücher lesen und viel über »das innere Leben« lernen – aber eigentlich fliehen wir damit nur vor der eigentlichen Konfrontation mit dem eigenen Innern. Thomas Merton schreibt über die besondere Herausforderung, in einem geistlichen Umfeld geistlich zu leiten:

Manchmal scheint es, als sei »das innere Leben« nur wenig mehr als ein Spinnennetz aus Illusionen. Gesponnen aus Jargon und frommen Sätzen, die wir in Büchern und Predigten gefunden haben und mit denen wir unser Inneres eher verstecken als offenbaren. Wie oft ist der Wegbegleiter betrübt und niedergeschlagen, wenn er jenen zuhört, die achtenswerte religiöse Seelen zu sein scheinen […] und dann merkt, dass er es mit prachtvoller und unbewusster Selbstgefälligkeit zu tun hat, die sich mit Klischees frommer Autoren ausgerüstet hat und nun bereit ist, jedem Erfolg von Demut und Wahrheit zu widerstehen.

Sein Herz zieht sich in einer Art Hoffnungslosigkeit zusammen. Einem Gefühl, dass es keine Möglichkeit gibt, durchzubrechen und den echten Menschen zu befreien, der unter der falschen Fassade, die sich bedauerlicherweise als Ergebnis religiöser Missbildung entwickelt hat, lebendig begraben liegt.11

Mit Selbstironie lässt sich leicht testen, ob die Diagnose »Überspiritualität« zutrifft. Kann die Person über sich selbst lachen? Ein chronisch ichbezogener Mensch hat viel zu viel zu tun, um sich solchen Trivialitäten zu widmen. Merton schreibt: »Ein kontemplativer Mensch ist nicht jemand, der seine Gebete ernst nimmt, sondern jemand, der Gott ernst nimmt.«12

Die Pharisäer und Schriftgelehrten in den Evangelien spiegeln auf zeitlose Weise die Risiken, die eine »professionelle Spiritualität« mit sich bringt. Die Führungsrolle mit all ihren Attributen wie Kleidung, Gesten, Attitüde, Sprache und so weiter wird allzu leicht ein Fluchtweg aus dem eigenen Leben. Dabei schrumpft die Kontaktfläche sowohl zu Gott als auch zu den Menschen und die Beziehung bekommt immer weniger Luft.

Das Wesentliche

Es muss ein Erstickungsgefühl gewesen sein, das einen der Schriftgelehrten dazu trieb, Jesus eine Frage zu stellen. Zumindest im Markusevangelium wird diese Frage nicht als Falle aufgefasst, sondern ist verzweifelte und aufrichtige Frage darüber, was das Wesentliche in all der Religiosität ist.

Einer der Schriftgelehrten stand dabei und hörte dem Gespräch zu. Er merkte, wie gut Jesus geantwortet hatte; deshalb fragte er ihn: »Welches von allen Geboten ist das wichtigste?« Jesus antwortete: »Das wichtigste Gebot ist dies: ›Höre, o Israel! Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft lieben.‹ Das zweite ist ebenso wichtig: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.« Der Schriftgelehrte erwiderte: »Das hast du sehr gut gesagt, Lehrer.«

Markus 12,30-32

Es sind zwei Gebote, nicht eins. Zwei gegensätzliche Kräfte versuchen ständig, jeweils eines der Gebote auszulöschen. Die Säkularisierung tut sich schwer mit Gott und meint, einander zu lieben sei ausreichend. Die übergroße Spiritualität ist nicht am Menschen interessiert und glaubt, allein Gott sei genug. Aber Jesus macht sehr deutlich, dass einerseits beide Gebote zusammengehalten werden müssen, sie aber andererseits nicht vermischt werden dürfen. Denn er selbst ist die Inkarnation beider Gebote, wie es im Konzil von Chalcedon 451 formuliert wurde:

Jesus Christus […] ist wirklich Gott und wirklich Mensch aus einer vernünftigen Seele und einem Körper. Er ist dem Vater wesensgleich nach der Gottheit und derselbe uns wesensgleich nach der Menschheit […], der in zwei Naturen, unvermischt, ungewandelt, ungetrennt, ungesondert, geoffenbart ist.

Auch die Liebe ist dreifaltig. Eine einzige Liebe äußert sich in drei Richtungen: die Liebe zu Gott, die Liebe zu mir selbst und die Liebe zum Mitmenschen. Auch hier gilt es, sie nicht zu trennen, aber auch nicht zu vermischen. Wir neigen oft dazu, die Liebe zu uns selbst zu überspringen und uns allein den anderen beiden Arten der Liebe zuzuwenden. Doch ein Mensch, der sich selbst nicht lieben kann, wird es auch schwer haben, andere zu lieben. Wen erleben wir als den großen Egoisten, der den Raum ausfüllt und allen anderen die Luft zum Atmen nimmt? Ist es jener, der sich selbst gegenüber zu viel Liebe empfindet und deshalb alle anderen vergisst?

Nein, viel eher jener, der sich selbst zutiefst verachtet und deshalb ein unstillbares Bedürfnis nach der Aufmerksamkeit und Bestätigung anderer hat. Nur die, die sich selbst akzeptieren und wertschätzen, benötigen diese Projektion nicht und können andere auf gleiche Weise wie sich selbst willkommen heißen.

Dazu sind wir berufen. Dies ist der Mittelpunkt, der alles andere zusammenhält. Das ist die Quelle, die all unserer Arbeit Leben schenkt. Dies ist auch der Kompass, mit dessen Hilfe wir im Wirrwarr aller theologischen Ansichten und alles religiösen Funktionierens navigieren können. Vor jedem Entschluss, sowohl im privaten Bereich als auch in der Gemeindearbeit, können wir uns ausgehend von diesen beiden Geboten drei wegweisende Fragen stellen:

1. Hilft uns das, Gott besser kennenzulernen und zu lieben?

 

2. Hilft uns das, uns selbst und unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen?

3. Hilft uns das, andere Menschen mehr zu lieben und besser zu dienen?

Vorsichtig geschätzt dürfte sich sowohl unser eigenes Leben als auch das der Gemeinde ziemlich verändern, wenn wir an jeder Wegkreuzung diesen Kompass ablesen und entsprechende Beschlüsse fassen würden. Weiterhin vermute ich, dass wir recht oft gezwungen sein würden, unsere Lieblinge zu opfern, wenn Projekte und Ideen, die großartig erscheinen, uns bei näherer Betrachtung doch eher an unserer Berufung hindern würden.

Wer hat uns zu dem Irrglauben verführt, dass Gott unser Leben verkompliziert?