Feuerglimmen

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Kapitel 7 – Valentin

Ich frage mich, ob ich genauso schockiert und gleichzeitig fasziniert ausgesehen habe wie Marlena, als wir die Blockhütte betreten haben. Ein Holzhaus, das aus dem Nichts erscheint, für Feinde unsichtbar bleibt und so verdammt gemütlich ist. Ich war zwar noch nie ein Mensch mit hohen Ansprüchen was Wohn-Luxus angeht, aber diese Hütte übersteigt echt alles, wovon ich in den letzten Tagen zu träumen gewagt habe. An einen kleinen Vorraum, den man durch die Haustür als erstes betritt, grenzt eine Treppe, die in ein weiteres Stockwerk führt, eine Tür am Ende des Gangs, eine rechts davon, sowie eine warme Stube auf der linken Seite. Dahin hat der Mann uns sofort nach unserer Ankunft gedrängt und zu meiner Verwunderung hat er mir kommentarlos den Hasen aus der Hand genommen, dessen Hinterläufe ich den ganzen Weg über umklammert hielt. Der Alte hat dem Hasen fachmännisch, wortwörtlich das Fell über die Ohren gezogen, das Fleisch zerteilt und zusammen mit Kartoffeln über einem offenen Feuer in der hintersten Ecke des heimeligen Raumes gebraten, während ich Marlena dabei beobachtet habe, wie sie mit glasigen Augen in die Flammen gestarrt hat. Jetzt ist es endlich soweit und das leidvolle Knurren meines Magens wird erhört: Essen ist fertig. Ich kann diesen Mann zwar immer noch nicht leiden, begrabe das Kriegsbeil aber vorerst, wenn das Essen auch nur halb so gut schmeckt, wie es riecht.

»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen«, meldet sich Marlena nach langer Stille zu Wort.

»Schon gut«, schmatzt der Alte als er auf einer saftigen Hasenkeule herumkaut.

»Nein wirklich«, beharrt Marlena. Ich bin mir sicher, dass auch sie Hunger hat, doch sie hat noch nicht einmal das etwas angelaufene Besteck berührt. »Das ist nicht selbstverständlich. Immerhin begeben Sie sich durch uns in zusätzliche Gefahr.«

Musstest du das unbedingt so direkt ansprechen, Marlena? Bitte mach ihm nicht zu deutlich klar, was für ein Ballast wir sind. Vielleicht unterschätzt er die Situation ja einfach. Ich starre sie eindringlich an, doch sie ignoriert mich einfach. Andererseits müsste er doch bestens wissen, was es bedeutet, wenn man sich den Obersten zum Feind macht. Brendanus. Ich glaube, ich habe in meinem Leben erst insgesamt zweimal mitbekommen, wie ihn jemand beim Namen genannt hat. Einmal, als sein ältester Sohn noch am Leben war. Das muss ganz am Anfang meiner Ausbildung gewesen sein.

Das zweite Mal hat das Ganze ziemlich blutig geendet. Doch der Alte spricht den Namen vollkommen furchtlos, ja sogar respektlos aus. Ich weiß zwar, dass der Oberste nicht Voldemort ist und es wahrscheinlich nie jemand erfahren würde, wenn ich ihn hier beim Namen nenne, aber dieses Wort will mir einfach nicht über die Lippen kommen. Nicht noch einmal. Zu viele Schmerzen sind damit verbunden. Ach, ich sollte nicht so viele Gedanken an unnütze Grübeleien verschwenden!

Der Alte hat in der Zwischenzeit Marlenas Aussage mit einem Schulterzucken abgetan.

»Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls gefällt es mir, wenn ich den praeditii iuveni so indirekt eins auswischen kann.«

Das Gespräch scheint für ihn damit beendet zu sein, denn er widmet sich nun gänzlich seinem Teller. Erleichtert erkenne ich, dass nun auch Marlena zögerlich zu essen beginnt. Die Situation scheint ihr noch immer mehr zuzusetzen, als sie zugeben will. Außerdem weiß ich bis jetzt noch nicht genau, was vorfiel, als sie zusammengeklappt ist. Das muss ich unbedingt ändern, wenn sich ein passender Moment ergibt, um sie zu fragen.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, richte ich nun mein Wort an unseren Gastgeber, der darüber alles andere als erfreut zu sein scheint.

»Ich helfe euch zwar, aber ich bin es nicht mehr gewohnt, mal nicht allein zu sein. Ich mag die Ruhe. Also lasst sie mir bitte, sonst überlege ich es mir noch anders und setze euch vor die Tür.« Was sich eigentlich wie ein Witz anhört, scheint eine ernstgemeinte Drohung zu sein, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig interpretiere.

»Verstanden.« Unzufrieden will auch ich mich endlich dem saftigen Fleisch zuwenden, doch eine Mischung aus Klatschen und lautem Klopfen lässt mich hochschrecken – Marlena ist volle Kanne mit dem Gesicht auf der Tischplatte aufgeschlagen und reibt sich nun, nur Augenblicke später, bereits wieder verschlafen und scheinbar etwas durch den Wind über die blutende Nase. Ich werfe einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die duftende Mahlzeit, als ich Marlena auch schon vom Stuhl hochhebe. Sie ist so erschöpft, dass sie sich keine Sekunde dagegen wehrt und fast sofort in meinen Armen einschläft.

»Wo können wir schlafen?«

»Die Treppe hoch«, der Mann nickt Richtung Tür, »oben findest du Stroh, Leintücher und Decken. Das muss genügen.«

Ich nicke. »Danke. Für alles.« Und ich meine es genau so, wie ich es sage.

Der Mann tut auch jetzt alles lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich schlafe im Erdgeschoss. Gleich im Zimmer nebenan. Wenn etwas sein sollte: Du kommst schon klar, Jungchen. Wehe ihr weckt mich.«

Mit einem erneuten Nicken wende ich mich von ihm ab und der Tür zu, schiebe sie mit einem Fuß auf, trage Marlena so leise wie möglich die knarrenden Stufen hinauf und setze sie vorsichtig am Boden ab. Obwohl ich glaube, dass sie nicht einmal aufwachen würde, wenn neben ihr eine Feuerwehrsirene losginge. Ich habe sie noch nie so erschöpft erlebt.

»So, und jetzt ruh‘ dich gut aus«, flüstere ich vor mich hin, davon überzeugt, dass sie kein Wort davon mitbekommt. Doch meine leisen Worte gelten nicht nur ihr, sondern sollen auch mir selbst dazu dienen, etwas runterzukommen. Ich sorge mich schon seit Tagen um sie, während ich versuche, mir keine Schwäche anmerken zu lassen. Und doch sind meine Kräfte auch nicht unerschöpflich. Vorsichtig streiche ich ihr die dichten braunen Haare aus der Stirn. Knoten haben sich darin gebildet. Ihre Haut ist trocken und rissig. Und doch hat sie immer noch eine beeindruckende Ausstrahlung.

»Ich pass‘ auf dich auf, auch wenn du auch ohne mich stark bist.«

Ich sehe mich um. Mein Blick sucht die Bettmaterialien, die ich auch fast sofort finde. Hier oben ist es zwar nicht beengt, es ist ausreichend Platz für eine Schlafstätte für zwei Personen, aber für recht viel mehr dann auch wieder nicht. Ich schnappe mir die Decken und Leintücher, wobei – ich mich korrigieren muss – die zwei Decken und das eine große Leintuch. Kurzerhand beschließe ich, lange genug auf dem Boden geschlafen zu haben. Vielleicht wird es Marlena nicht freuen, aber wir werden uns wohl oder übel ein »Bett« teilen müssen. Unter vollem Körpereinsatz forme ich einen rund halben Meter hohen und annähernd rechteckigen Haufen Stroh, spanne das Leintuch so gut es geht darüber und merke, dass diese provisorische Matratze unerträglich piekst. Da hilft das dünne Leintuch nur wenig. Ich kann mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen, schüttle aber gleich wieder über mich selbst den Kopf. Doch ich bin schon gespannt auf Marlenas perplexen Gesichtsausdruck, wenn sie kapiert, dass wir uns nicht nur ein Bett, sondern auch eine Decke werden teilen müssen. Den alten Sturkopf frage ich nämlich sicher nicht nach einer weiteren Decke und ich hoffe einfach, dass sie mir so weit vertraut, dass sie mir glaubt, wenn ich ihr verspreche, sie nicht zu berühren, wenn sie das nicht will. Ich würde ihr nie etwas antun. Und sie nie gegen ihren Willen zu etwas zwingen. Niemals. Also nehme ich das Leintuch wieder weg, lege eine Decke darunter und drapiere das Tuch erneut auf dem Strohhaufen. Nachdem ich einigermaßen zufrieden mit dem Bett-Provisorium bin, schleiche ich zu Marlena hinüber, hebe sie vorsichtig hoch und lege sie dann auf unserem Lager ab. Sie hat sich keinen Moment gerührt, doch als ich sie loslasse und mich abwenden möchte, greift sie nach meinem Unterarm. Die zu Beginn von der Kälte kalkweißen Finger sind von der angenehmen Wärme hier drin knallrot geworden. Auf ihren Knöcheln befindet sich getrocknetes Blut. Die Haut auf ihrem Handrücken ist genauso aufgesprungen wie ihre vollen Lippen. Die Blutung ihrer Nase hat zum Glück schnell wieder gestoppt.

Kurz flackern ihre Augenlider.

»Valentin.« Ein verschlafenes Flüstern. »Bitte bleib hier.«

Immer, denke ich, ich werde dir nicht von der Seite weichen.

Doch stattdessen nehme ich die Decke, die ich eigentlich über sie alleine ausbreiten wollte, lasse mich neben ihr auf das Stroh nieder und decke uns beide zu.

Ihre kühle Hand lässt meinen Unterarm los und legt sich stattdessen sanft auf meine Brust. Von meiner bloßen Haut durch die dicke Wollschicht meines Pullovers getrennt. Und doch verkrampfe ich mich unter dieser Berührung, denn schon diese kleine Geste erzeugt in meinem Körper und meinem Geist eine viel zu starke Reaktion.

»Danke«, murmelt sie in die Decke. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie schon ins Land der Träume abdriftet und morgen nichts mehr von der kleinen Kuscheleinlage weiß. Und doch liege ich hier einfach still und genieße ihre Nähe. Ich bekomme noch mit, dass ihre Atemzüge immer tiefer und regelmäßiger werden, als der Schlaf auch mich umgarnt.



Kapitel 8 – Marlena

Ich erwache ruckartig, als hätte ich schlecht geträumt, doch ich kann mich an keinen Albtraum oder Ähnliches erinnern.

 

»Wo bin ich hier?«, murmle ich vor mich hin und verziehe sofort vor Schmerz mein Gesicht, was wiederum mit einem Schmerzimpuls gestraft wird. Ich taste zu meiner Nase, die geschwollen wirkt und scheiß weh tut. Doch schnell merke ich auch, dass eine Art Pflaster darauf klebt. Sieht aus, als wäre ich verarztet worden. Dann fällt mir auch wieder ein, dass wir uns im Zuhause des alten Mannes befinden.

»Lass das bloß drauf! War gar nicht so leicht, irgendetwas zu finden, damit du nicht alles vollblutest«, tadelt mich Valentins Stimme. Es ist stockdunkel um mich, doch ich erkenne einen Kerzenschein von der Treppe her. Und Valentins Silhouette, die normalerweise nur so vor Kraft und Dominanz strotzt, doch heute wirkt seine Haltung gebeugt, sein Körper erschöpft. In seiner Hand hält er eine Kerze auf einem Halter wie ich es schon in so manchem Geschichtsdrama gesehen habe. So etwas gibt es noch? Wundert mich das gerade wirklich, obwohl ich sozusagen in einer unsichtbaren Hütte sitze?

»Was genau ist passiert?«

»Dein Gesicht wollte neben der Hasenkeule schlafen. Stattdessen musst du dich wohl mit meiner Wenigkeit zufriedengeben.« Er kratzt sich am Hinterkopf, während er näher auf mich zukommt und ich ihn nun immer besser im Kerzenlicht erkennen kann. Seine schwarzen Haare sind etwas gewachsen, doch es steht ihm. Genauso wie der Bartschatten, der sein kantiges Gesicht nur noch mehr betont. Ich bin seit Tagen mit ihm unterwegs und mir fällt gerade jetzt wieder ein, wie gut er eigentlich aussieht? Als ich merke, dass ich ihn gerade anstarre, während ich unkontrolliert auf meiner Unterlippe herumkaue, will ich sofort etwas erwidern, habe aber vergessen, was er mir eben mitgeteilt hat.

»Entschuldige was?«, schieße ich etwas zu forsch heraus.

»Es tut mir leid, aber es geht nicht anders, wir haben nicht genug Decken und Leintücher. Ich schlafe auch am äußersten Rand des Bettes. Wenn du willst, können wir auch mit dem Kopf an der jeweils anderen Bettseite liegen. Ganz wie du willst …«, versucht er sich zu erklären und mir fällt wieder ein, was er vorher über die Hasenkeule und sich selbst gesagt hat. Warte – war das gerade Unsicherheit in seiner Stimme? Und in seinem Blick? Und seit wann kratzt er sich denn verlegen am Hinterkopf?

Ich schüttle den Kopf darüber und lächle ihn kurz einfach nur an. Doch dann versuche ich ihn wieder zu beruhigen.

»Alles gut, ich habe keine Angst, dass du mich begrapschst, oder so. Ich glaube irgendwelche Mackersprüche sind da eher dein Ding. Du hast genauso ein Recht darauf, endlich einigermaßen gemütlich zu liegen und zu schlafen, wie ich. Wenn du es nicht sogar etwas mehr verdienst, immerhin hast du lange genug auf dem Boden schlafen müssen.«

Jetzt stiehlt sich auch auf seine Züge ein Lächeln.

»Ich habe uns was zu essen geholt. Es ist zwar jetzt kalt, aber mir ist schon langsam übel vor Hunger.«

»Mir auch«, gestehe ich, was von einem Gegrummel meines Magens nur noch bekräftigt wird. Er reicht mir ein Holzbrett mit kaltem Fleisch und ein paar wenigen Kartoffelstücken.

»Wie spät ist es eigentlich?«, frage ich mit vollem Mund, weil ich sowohl meine Neugier als auch meinen Hunger gleichzeitig stillen möchte.

»Sehr damenhaft«, scherzt er, »ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Aber ich denke, es war circa 18 Uhr, als du eingeschlafen bist. Ich bin dann auch kurz eingenickt, doch der Hunger hat mich nicht lange schlafen lassen. Ich hab mich etwas umgesehen, deine Nase verarztet, nachdem du meinen Pulli vollgeblutet hast und unsere Sachen heraufgebracht. Ich schätze es ist spätestens 21 Uhr. Der Alte schläft aber schon. Es könnte also auch schon später sein.«

»Tut mir leid. Das mit dem Vollbluten. Aber immerhin hast du ein besseres Zeitgefühl als ich. Wenn du mir gesagt hättest, es sei drei Uhr früh, hätte ich das auch geglaubt.«

»Geht es dir jetzt besser?«, wechselt er das Thema und betrachtet mich besorgt von der Seite. Er hat sich neben mich aufs Bett gesetzt und so verspeisen wir Seite an Seite die bereits kalt gewordene und doch immer noch köstliche Mahlzeit.

»Ja, danke. Mein Kopf fühlt sich zwar nach wie vor ziemlich schwer an und schmerzt ein wenig. Die Nase pocht im Gleichklang mit meinem Herzen. Aber ich kann mich nicht beklagen«, antworte ich und mache eine ausschweifende Bewegung mit beiden Armen, um ihm zu verdeutlichen, dass das alles hier so viel besser ist als das Zelt in der morschen, zugigen Hütte.

Er seufzt kurz und zwickt sich in seine Nasenwurzel. Direkt zwischen seine hellen Augen, die im Kerzenschein förmlich leuchten. Ich sehe ihm bereits an, dass er wieder ernst wird, bevor er den Mund aufmacht.

»Was ist da mit dir passiert, Marlena? Was hat er mit dir gemacht?« Eine Sorgenfalte zeichnet eine tiefe Kerbe zwischen seine Augenbrauen. Schatten flackern über sein Gesicht. Und so erzähle ich ihm alles, was passiert ist. Alles, was ich gesehen habe. Auch, was ich in den letzten Wochen geträumt habe.

»Jeder Traum war anders«, versuche ich zu erklären, »doch jeder war auf seine Art furchterregend.«

»Du hast mir bereits ein wenig von den Träumen erzählt, weißt du noch? Doch ich war so dumm und habe dir nicht richtig zugehört.«

»Ja. Das stimmt.« Ich will ihm nicht gleich von seiner Rolle in dem Ganzen erzählen und so starte ich damit, dass ich ihm vom Gebäude erzähle, von den Kleidern, von der Decke, die mich beim Konzert fast um den Verstand gebracht hat.

»Also siehst du in den Träumen auch Dinge aus der Realität«, schlussfolgert er.

Ich nicke. »Und nicht nur Dinge. Auch Menschen.«

Jetzt nickt auch er. »Du hast erwähnt, dass auch ich schon mal in einem der Träume vorgekommen bin?«

»Du bist in jedem einzelnen Traum vorgekommen«, erwidere ich leise. Irgendwie ist es mir peinlich, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.

Der Adamsapfel an seinem Hals hüpft einmal auf und ab, als er kräftig schluckt. »Und was habe ich in diesen Träumen getan? Oder wir?« Dieses Mal zeigt sich keine Anzüglichkeit auf seinem Gesicht, lediglich eine ernste Miene.

»Das erste Mal, als du mir im Traum erschienen bist, standest du einfach nur da, in einem wunderschönen Ballsaal. Dann haben wir gesprochen und …«, kurz räuspere ich mich, bevor ich fortfahre, »als wir uns gegenseitig angenähert haben, hast du mich plötzlich so seltsam angeblickt. Es war, als wäre dein Blick gebrochen. Mit kalten Augen hast du einfach durch mich hindurch gestarrt. Bis du auf einmal den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet hast und warmes, dickes Blut herausschwappte. Da bin ich aufgewacht. Das zweite Mal …«

»Was?«, unterbricht mich Valentin. Er ist kalkweiß geworden – soweit ich das im fahlen Kerzenschein erkennen kann.

»Wann war das?«, fragt er gehetzt.

Ich überlege. »Ich glaube, das war am Wochenende nach dem Vorfall beim Club.«

Mit zittrigen Fingern wischt er sich mehrmals übers Gesicht, bevor er in seine Hand nuschelnd antwortet.

»Ich erinnere mich gut an diese Nacht. Als ich mich zum ersten Mal seit Jahren weigern wollte, einen Auftrag auszuführen.«

Mir stockt der Atem. Auf seinem Gesicht spiegelt sich Grauen, das auch von mir Besitz ergreift. »Was haben sie mit dir gemacht?«, hauche ich die Frage, vor deren Antwort ich mich fürchte.

»Sie haben mir so lange Gehorsam eingeprügelt, bis ich nur noch röchelnd Blut erbrochen habe«, flüstert er, ohne mich dabei ansehen zu können. Er schämt sich dafür. Er schämt sich für die grausamen Taten anderer. Das Opfer sollte nie Scham empfinden.

Aufgebracht springe ich vom Bett hoch. Greife jedoch sofort Halt suchend nach seiner Schulter, als mir kurz schwarz vor Augen wird.

»Diese Menschen sind Tiere! Und du schämst dich auch noch dafür, was die dir angetan haben?«, fahre ich ihn empört an.

»Du vergisst, dass ich genauso zu ihnen gehöre.« Verzweiflung und Wut vermischen sich in seiner Mimik. »Oder gehört habe.«

»Aber du bist nicht einfach kopflos losgerannt und hast ihnen gehorcht wie ein trainierter Hund«, entgegne ich.

»Doch, jahrelang habe ich das getan. Mehr noch: Ich war stolz auf meine Stärke. Ich war stolz darauf, Bedeutung für sie zu haben. Und in diesem Moment hätte ich auch gehorchen sollen. Dann wäre mir einiges erspart geblieben.«

»Aber das hast du nicht getan. Du hast dich ihnen widersetzt. Weil du im Gegensatz zu ihnen ein Gewissen besitzt!« Mit jedem seiner selbstanklagenden Worte werde ich wütender.

»Nein. Das habe ich nicht. Du weißt doch gar nicht, wie viele Bestrafungen anderer ich selbst durchgeführt habe! Wie viele Geister und Körper ich gezüchtigt habe. Und all die Leben … ich habe so viele getötet.« Seine anfänglich laute, gereizte Stimme hat mit jedem Wort an Nachdruck verloren.

»Und doch glaube ich keinen Moment, dass du das alles getan hast, weil du es tun wolltest. Vielleicht wolltest du dich gebraucht fühlen. Nützlich, bedeutend, respektiert. Doch du hast es keine einzige Sekunde genossen, jemandem Schmerzen zuzufügen. Da bin ich mir sicher.«

Ich greife nach seiner Hand. Er sieht auf. Blickt mir geradewegs in meine Augen. Und in diesem Moment liegt so viel Schmerz und Reue in seinem Blick, dass ich mit Sicherheit sagen kann, dass er genauso wie ich weiß, dass ich Recht habe mit meiner Feststellung. Er hat jeden einzelnen Moment, in dem er Leid zugefügt hat, gehasst. Doch er wollte es sich keinesfalls eingestehen. Denn er wollte keine Schwäche zulassen. Und Gefühle bedeuten immer auch Verletzlichkeit.

Ich kapiere erst, was ich da gerade mache, als meine Lippen sich verzweifelt auf die seinen drücken. Er erwidert den Kuss zuerst genauso aufgewühlt, doch schon verkrampft er sich. Will mich von sich stoßen.

»Vergiss die Vergangenheit bitte nur für wenige Momente. Lass es doch einfach zu, gemocht zu werden«, hauche ich an seine Lippen.

Als sie die meinen verschließen, weiß ich, dass ich ihn für den Augenblick überredet habe, zu vergessen. Oder zumindest kurz zu ignorieren, was er getan hat, und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Und jetzt hält er mich nun mal gerade in seinen Händen, die warm über meinen Rücken zu meinem Nacken wandern und im Kragen meines Shirts so sanft über meine Haut streifen, dass sich dort die kleinen Härchen aufstellen. Vorsichtig tastet sich seine Zunge in meinen Mund vor und wird begierig von mir eingelassen und von meiner Zunge liebkost. Ich kralle mich in seine dunklen Haare, spüre gleichzeitig körperlich, wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpft. Wie die Verzweiflung, die Zuneigung und auch Erregung ihn überwallen. Ich dränge mich dichter gegen ihn. Will ihn mit positiven Gefühlen vollpumpen und die negativen verscheuchen. Doch von einer Sekunde auf die andere beginnt sein ganzer Körper zu beben. Zuerst denke ich, er weint. Doch als ich mich von ihm löse sind seine Wangen trocken. Seine Lippen jedoch – sie sind blau. Und sie zittern. Wie der Rest von ihm. Ich streiche ihm besorgt über die Wange. Seine Bartstoppeln kratzen über meine Haut, doch das bekomme ich kaum mit. Denn er ist eiskalt. Wie schockgefroren.

»Was ist mit dir los? Valentin? Valentin! Sie mich an!« Sein Blick verliert immer wieder den Fokus, als er mich anschaut. Seine Hände klammern sich an mir fest.

»Ich hole jetzt den Alten! Vielleicht kann er helfen«, beschließe ich. Doch Valentin lässt mich nicht los.

»Nein. Bleib … hier. Ich … ich … Wärme«, presst er zwischen klappernden Zähnen hervor.

Den Vorschlag, ich könnte ihm einen heißen Tee zubereiten, würde er sowieso ignorieren. Also ziehe ich ihm kurzerhand den Pulli und das darunter zum Vorschein kommende T-Shirt über den Kopf. Er lässt alles widerstandslos über sich ergehen. Sein Gesicht ist bleich wie der Tod höchstpersönlich.

»Muss von uns beiden eigentlich immer irgendwer ein Wrack sein und halb abkratzen?«, fluche ich in Zimmerlautstärke vor mich hin. Ich drücke seinen nackten Oberkörper auf die Heu-Matratze und wickle ihn in die Wolldecke, während ich versuche, nicht daran zu denken, wie sich seine nackten Muskeln gerade noch unter meinen Handflächen angefühlt haben. Also mir wird gerade schön warm. Fokus, Marlena! So schnell wie möglich ziehe auch ich mich bis auf die Unterwäsche aus und dränge mich unter die Decke so nah an seinen frierenden Körper, dass kein Blatt Papier mehr zwischen uns passt. Was Jacob kann, kann ich schon lange. Wenn es in Twilight hilft, um Bella warm zu halten, hilft es in der Realität hoffentlich auch. Zusätzlich schnappe ich mir Valentins Hände, reibe mit meinen darüber und hauche immer wieder warmen Atem dagegen. Wir wollen ja nicht, dass er eines seiner musikalischen Fingerchen verliert.

 

Ich weiß nicht, wie lange wir so engumschlungen daliegen und ich mich darauf konzentriere, so heiß wie möglich zu sein – in rein physikalischer Art und Weise, versteht sich. Wahrscheinlich sind es nur ein paar Minuten. Doch meine Muskeln sind so verkrampft, dass auch bereits eine Stunde vergangen sein könnte. Und doch fühlt es sich unleugbar gut an, in Valentins Nähe zu sein. Er und ich. Haut an Haut.

»Danke«, flüstert er mir ins Ohr.

Ich bemerke erst jetzt, dass sein Gebiss endlich zu klappern aufgehört hat.

Ich warte noch ein paar Minuten, bis ich mir ganz sicher bin, dass es ihm auch wirklich wieder gut geht. Als er sich ein Stück von mir entfernt, sehe ich diesen Moment gekommen.

»Möchtest du mir vielleicht erklären, was mit dir los war?« Es mischt sich mehr Vorwurf in diese Frage, als es von mir beabsichtigt war. Doch die Sorge um ihn drängt mich dazu.

Ich liege mit dem Rücken zu ihm, kann sein Gesicht nicht sehen. Doch es genügt schon, zu spüren, wie er kurz zusammenzuckt, um zu wissen, dass ihm dieses Gesprächsthema Unwohlsein bereitet.

»Hast du bemerkt, wie der Alte reagiert hat, als er seine Hand über mein Herz gelegt hat?«

Ich nicke. »Er war total komisch und meinte, du solltest einfach vergessen, was er gesagt hat.«

»Ich weiß nicht, welche Gabe er genau trägt«, erklärt er mir. Ich drehe mich ihm zu, da ich es ungut finde, wie er mir ins Genick flüstert, auch wenn sich sein Sixpack verboten gut in meinem Rücken anfühlt. »Aber,« fährt Valentin mit seiner Erklärung fort, »er hat es sofort gespürt.«

»Was hat er gespürt?«

»Dass mein Herz nicht … normal ist.«

Ich strecke meine Hand nach ihm aus. Als er nicht wegrückt, lege ich meine Handfläche auf seine linke Brust. Ich warte kurz. »Für mich fühlt sich das ganz normal an.«

Dum-dum …. Dum-dum. Doch plötzlich, als würde mein Geist aus meinem Körper gerissen werden, blicke ich auf eine fremde Umgebung. Vor mir schlägt ein Herz. Träge und doch mit so viel Kraft wie es nur aufbringen kann, pocht es vor sich hin, umgeben von einer dicken Schicht aus Eis. Darunter glänzt seine Oberfläche ungesund in den verschiedensten Violett-Tönen. Ich sehe mir das Organ genauer an und entdecke den ein oder anderen Riss im klar schimmernden Eis. Ich konzentriere mich darauf, wie es aussehen würde, wenn die Risse größer würden. Breiter. Flächiger. Wie es wäre, wenn ein Teil des Eises herausbrechen und vom Herz abfallen würde.

»Mach schon!«, fordere ich in meinen Gedanken. Doch meine Stimme schallt laut von allen Seiten wider, ohne, dass ich auch nur kurz meinen Mund geöffnet hätte. Mir bleibt jedoch keine Zeit für weitere Überlegungen, denn ich ducke mich gerade noch rechtzeitig, als ein kleiner Eisbrocken weggesprengt wird und mich beinahe trifft. Ich blicke erneut forschend zum Herzen und finde schnell die Stelle, die nun frei liegt. Das Herz darunter färbt sich vom sauerstoffreichen Blut rot. Doch bevor ich mich über diesen kleinen Erfolg freuen und weitermachen kann, reißt mich ein Rütteln unvermittelt in die Realität zurück.

»Marlena!«, brüllt mir Valentin aufgebracht ins Gesicht.

»Wo warst du denn jetzt schon wieder mit deinen Gedanken?«

Auch wenn es ihn scheinbar nur noch mehr irritiert, grinse ich ihn triumphierend an.

»Na, wie fühlst du dich? Ein wenig erleichtert vielleicht?«

»Ich fühle mich gerade vor allem überrumpelt und irgendwie auch etwas verarscht oder hintergangen. Ich weiß nicht so recht, wie ich es am besten ausdrücken sollte.«

»Mach die Augen zu und konzentrier dich gefälligst auf deinen Herzschlag, Klugscheißer!«, herrsche ich ihn lautstark an. Zu meiner Verwunderung tut er sofort, was ich von ihm verlange. Keine zwei Atemzüge später reißt er überrascht die Augen auf und blickt mich vor Glück strahlend an. »Warst du das?«, fragt er mich.

»Ich glaube schon.«

Er zieht mich schwungvoll in seine Arme und drückt mir einen Schmatzer auf die Wange.

»Danke«, haucht er zum zweiten Mal an diesem Abend. Er lässt sich wieder zurück auf das Leintuch sinken und zieht mich mit sich. »Vielleicht hat der Alte doch Recht und du trägst eine Gabe in dir. Aber wir sollten jetzt wirklich schlafen. Wer weiß, was uns morgen erwartet. Aber bitte erzähl mir morgen Früh alles, was es noch über deine Träume zu wissen gibt. Und dann finden wir heraus, was es mit dem Ganzen auf sich hat.«

»In Ordnung.« Mit einem Atemstoß lösche ich die Kerze, die inzwischen ziemlich heruntergebrannt ist, und lege mich hin. Jedoch rücke ich ein Stück von Valentin ab. Seine Nähe macht mich ganz unruhig. Und ich bin mir sicher, dass mir zur Abwechslung mal etwas mehr oder minder sorglose Ruhe nicht schaden würde.

»Wir sind auf der Flucht und du trägst zum BH passende Unterhosen?« Kurz erschrecke ich, da ich davon ausgegangen bin, dass er schon schläft. Ich habe gerade keinen Nerv für so ein Gespräch.

»Halt einfach die Klappe und schlaf«, weise ich ihn in die Decke nuschelnd zurecht und schließe meine erschöpften Augen. Das Stroh unter mir vibriert, als Valentin zu lachen beginnt.