Helen und die Häute der Frauen - Erster Teil: SOKO Haut

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Helen schlug die Beine übereinander und schickte Raul eine E-Mail. Sie wollte wissen, ob er ansprechbar war, und mit ihm ein Date vereinbaren, falls Tussi nicht da war. Tussi war häufig auf Messen, und dann hatte Raul sturmfreie Bude. Sie brauchte jetzt wenigstens die Aussicht auf etwas körperliches Vergnügen. Sie nahm sich die Kisten samt Listen und Inhalt zur üblichen Prüfung auf Vollständigkeit vor. Ihr wurde langsam warm in ihrem Reitdress. Am liebsten hätte sie sich die hohen Reitstiefel ausgezogen, aber das hätte nicht besonders gut ausgesehen. Außerdem hätte sie dann strumpfsockig rumlaufen müssen. Also, das ging gar nicht. Wenn schon Dress, dann auch richtig.

Raul antwortete: „Ich habe Zeit, kommst du gleich, du hast doch heute frei?“

Das war für Helen dann doch etwas zu flott. Sie hatte jetzt keine Zeit und mailte zurück, dass sie jetzt eben mit einem neuen Thema überrannt worden sei, aber noch heute auf ihn zukommen werde. Helen konnte jederzeit auf Rauls IT-Kenntnisse zurückgreifen. Sie kannten sich seit dem Studium. Auch Raul hatte mit Psychologie begonnen. Jetzt war er zum Chefredakteur einer renommierten Computerzeitschrift avanciert. Es gab kaum ein Thema, für das er keine Lösung parat hatte oder sie nach einiger Recherche fand. Da Helen immer mit neuen Fragestellungen auf ihn zukam, gab es auch für ihn interessante Impulse. Er machte die Arbeit für Helen gern. Gemeinsame erotische Abenteuer waren für ihn mehr als nur eine gewisse Motivation. Für Zeit mit Helen war er immer bereit.

Helen verschaffte sich einen Überblick. Eine Kiste war randvoll mit Akten, die zweite war quasi leer. Helen dachte: Mit einer leeren Kiste die Arbeit zu beginnen, hat doch was. Sie wurde neugierig.

In dieser zweiten, ebenso großen, jedoch leeren grauen Plastikkiste lag in einer Plastikhülle ein Zettel: „20.05.11, Video-Material, entnommen durch Borhagen.“ Eine exakte Beschreibung des entnommenen Inhaltes hatte Borhagen auf die Rückseite geschrieben. Es waren:

13 Videokassetten, 21 CD-ROM und ein USB-Stick 2.0. Die Titel der Videokassetten waren angegeben, Pornos mit professionell klingenden, deutschen Titeln: „Einreiten der Jungfrauen“, „Tittenfest“, „Der Pfahl des Meisters“, „Gepfählt“, „Anale Pfählung der Jungfrauen“, „Jungfrauen im Folterkeller der Mönche“, „Tittenbondage“, „Auf der Streckbank des Kerkermeisters“, „Gangbang im Bondageclub“, und so weiter. Ein einziger Titel überraschte sie: „Die Häutung“, mit dem handschriftlichen Untertitel von Borhagen, „wohl Originalaufnahmen, wohl authentisch.“ Dahinter hatte er ein Ausrufezeichen gesetzt. Die diversen CD-ROMs waren nicht weiter beschrieben, es waren nur 21 Nummern angegeben. Der USB-Stick von der Firma Alfabeta hatte 16 GB Speicherplatz. Das war eine Unmenge von Bildmaterial, das zu sichten war.

Borhagen

Sie holte erst einmal Luft. Das versprach ja, ziemlich kurzweilig zu werden. Pornografie als Dienstaufgabe. Die Akten waren dann der Schlüssel für die Pornos, die sich Borhagen am Sonntag reingezogen hatte. Da bin ich jetzt mal richtig gespannt, dachte sie.

Borhagen, Kriminalhauptkommissar, war Chef der Abteilung für Spezialaufgaben und zuständig für medizinische, psychologische und forensische Fragen am kriminologischen Forschungsinstitut (MPKF) der Universität Jena, Unterstelle Meiningen. Diese Abteilung arbeitete unabhängig und sowohl regional als auch länderübergreifend. Borhagen hatte mit Helen schon manche wissenschaftliche Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Borhagen organisierte den Fortbildungsunterricht an der Polizeischule, und Helen übernahm in seinem Auftrag die begleitenden Vorlesungen zum Thema Psychologie. Einige Kurse gestalteten sie gemeinsam, Helen als seine Assistentin. Auf Grund ihres spannenden und kurzweiligen Unterrichtsstiles und ihrer körperlichen Attraktivität waren ihre Unterrichtsstunden immer sehr gut besucht. Das galt auch für die gemeinsamen Auftritte mit Borhagen. Da sie in der Polizeischule häufig gemeinsam auftraten, wurde hartnäckig kolportiert, dass sie ein Verhältnis miteinander hätten. Borhagen kannte Helen seit Beginn ihrer Ausbildung. Er hatte sie bei einer Fortbildungsveranstaltung kennengelernt und sie sofort in seine Abteilung abgeworben. Mit Anfang Zwanzig, gleich nach drei Jahren ihrer Ausbildung, war sie Beamtin geworden. Dann hatte er sie motiviert, das Angebot zu nutzen, neben dem Polizeidienst ein Studium der Psychologie an der Uni Erfurt zu beginnen. Nebenbei hatte sie sich im Rahmen einer SOKO Meriten im erfolgreichen Kampf gegen den Frauenhandel erworben. Das Psychologiestudium hatte sie vor vier Monaten mit einer erfolgreichen Promotion zum Dr. rer. soc. abgeschlossen. Borhagen hatte dazu ein kleines Fest mit einigen Kollegen in seinem Dienstzimmer organisiert und sie bei dieser Gelegenheit coram publico „verpflichtet“, weiter Vorlesungen an der Polizeischule zu halten. Daneben arbeitete sie jetzt mit Borhagen an einer Dokumentation über die Wege des Frauenhandels aus Schwarzafrika nach Europa und die Bedeutung des muslimischen Nordens von Afrika für diese Handelsroute. Unter dem Arbeitstitel „Schwarzes Fleisch“ hatte sie schon Hinweise gefunden, dass korrupte Polizeistrukturen existierten, die den Handel mit überwiegend minderjährigen, schwarzen Mädchen in Deutschland und den östlichen Anrainerstaaten ermöglichten oder wenigstens nicht unterbanden. Das Thema war so brisant geworden, dass Borhagen beschlossen hatte, es strikt geheim zu halten. Nur er und Helen waren involviert.

Artur Borhagen, Ritter von Chremski, Jahrgang 1950, war nur wenige Jahre von dem Beginn seiner Pensionierung entfernt. Er war verheiratet, hatte keine eigenen Kinder, aber einen Garten. Die Enkelkinder stammten von den Kindern aus der ersten Ehe seiner Frau. Er galt als erfolgreicher Charmeur, aber niemand wusste so recht, worauf sich dieser Ruf gründete. Der einzige Fingerzeig war Helen, seine Entdeckung und seine Assistentin. Er pflegte jedoch, einer alten Regel gehorchend, nicht im eigenen Revier zu wildern. Helen fand in Borhagen einen Mentor und aktiven Verfechter für die Chancengleichheit der Frau im Polizeibetrieb. Borhagen war der Ansicht, dass Intelligenz auf beide Geschlechter gleichmäßig verteilt war. „Sonst wäre die Menschheit schon längst ausgestorben“, so seine Meinung, auch wenn er eingrenzte, dass die fantastische Reproduktionsmaschine Frau eben sehr breit ihren Beitrag abliefere, wie man noch heute bei vielen Ethnien sehen könne. Er war der Ansicht, dass man die differenzierte Denkweise der Frauen besser und sinnvoll nutzen sollte. Das hieß aber nicht, dass er nicht auch über Blondinen-Witze lächeln konnte.

Borhagen, von Mitarbeitern gerne auch kurz „BH“ genannt, allenthalben mit leichtem Lächeln oder Grinsen bei der ihm bekannten Abkürzung seines Namens, hatte das Bildmaterial an sich genommen. Damit hatte er sich für das Strohwitwer-Wochenende durchaus etwas Entspannung gegönnt, dachte Helen mit schiefem Grinsen beim Gedanken an die Titel der Videos und die neuen Informationen von Moneypenny, dass seine Ehe kriseln sollte. Er würde, falls er tatsächlich das ganze Material sichten wollte, am Montag nicht nur mit eckigen Augen erscheinen. Weiteres wollte sie sich nicht genauer ausmalen. Sie kannte ihren Chef ja aus vielen gemeinsamen SOKOs und Studien. Borhagen war ein pragmatischer, psychologisch geschulter, forensischer Kriminalist. Borhagen wollte als erster das Bildmaterial sichten, sich einen Eindruck verschaffen und vor allem vorbereitet sein. Sich einen gewissen Vorsprung zu schaffen, war eines seiner Arbeitsprinzipien. Das Material war also brisant und versprach, interessant zu werden, folgerte Helen.

Borhagen hatte dazu auf einem zweiten Briefbogen geschrieben, und Helen fragte sich, wieso er nicht das Intranet benutzt hatte. Soweit ihr bekannt war, hatte er von zu Hause aus auch Zugriff. Das hatte doch wieder besondere Gründe, mutmaßte sie.

„Hallo Helen, wir haben den Auftrag, diesen Mordfall von unserer, von deutscher Seite aus, zu betrachten und auch die mögliche Verwicklung eines gewissen Dr. Hagen von Eynim in diesen Fall zu prüfen.“

Aha, dachte sie, nix mit Spaß bei Pornos. Mord. Oder vielleicht doch. BH war schließlich kein Kind von Traurigkeit. Wer ist dieser Doktor? Sie war im Begriff, das Pferd von Hinten aufzuzäumen.

„Viele Fäden laufen hier und bei ihm zusammen. Um weiter zu kommen, müssen die Beziehungen der Einzelnen zueinander geklärt werden. Es sollen dabei, falls das erforderlich erscheint, Profile der Beteiligten erstellt werden. Entwerfen Sie bitte dazu auch ein Diagramm der Beziehungen aller Beteiligten zueinander und dann in Beziehung zu Dr. von Eynim. Wir sichten dann eventuell schon am Mittwochabend in einer „open end“ Besprechung das restliche Bildmaterial. Restlich deshalb, weil ich Ihnen vorab und alleine die Kassette mit dem Titel „Die Häutung“ vorführen und Ihre Meinung dazu hören möchte. Anschließend treffen wir uns am Donnerstag zur Analyse des gesamten Bildmaterials, wenn sich alles etwas gesetzt hat. Das heißt, jeder von uns wird eine schriftliche Stellungnahme abgeben, für die Akten. Es gibt eine weitere, kleine Arbeitsrunde am Freitag ebenfalls „open end“. Ich möchte dann eine Zielrichtung haben und Vorschläge für das weitere Procedere. Danach wird, so nehme ich an, alles wieder in einen normalen Rhythmus übergehen. Wie immer, machen Sie bitte auch dieses Mal eine Zusammenfassung der zu lesenden Stoffmenge mit wichtigen Zitaten, wenn Sie es für nötig halten. Ich habe schon vorgesichtet und Marker an Stellen gesetzt, die mir wichtig vorkamen. Sie sollten dennoch alles genau lesen. Aber noch etwas, Helen, Sie haben freie Hand, sich vertrauenswürdiger Hilfe zu bedienen. Das Weitere mündlich. Wir brauchen Hinweise auf unsere Zielpersonen im Internet, also auch eventuell bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Auch der Nachweis weiterer oder ähnlicher Snuff-Videos ist wichtig, denn von der Budapester Polizei habe ich soeben aktuelle Hinweise erhalten, dass weiteres Material im Internet kursiert. Hinweise auf einige weitere vermisste junge bzw. minderjährige Frauen aus der Porno-Szene bzw. Escort-Service-Szene in der Ukraine, Ungarn und Rumänien sowie über Frauenhandel, der teilweise aus der Ukraine und Rumänien über Ungarn und Polen nach Deutschland läuft. Daneben sind auch die Hinweise aus der „Schneiderei“ von Bedeutung.“

 

Jetzt musste sie einen Moment pausieren. Hatte sie richtig gelesen? Stand da wirklich „Snuff-Video“? Das wäre eine reine Sensation. Solche Videos hatten sich bisher immer als Fälschungen erwiesen. Allerding schien sich dies mit dem Aufkommen der islamistischen Terroristen geändert haben. Sie las weiter.

„Unsere erste Maßnahme zielt allerdings auf Dr. von Eynim. Ich weiß nicht, ob all die pornographischen Biographien und Briefe von Wichtigkeit sind, aber gelesen und referiert werden müssen sie wohl. Es könnte sein, dass dort Hinweise zu finden sind. Sie werden ja selber sehen. Fassen Sie also alles Wesentliche knapp zusammen, Zitate wenn nötig. Wichtig sind nur, glaube ich, die enthaltenen Hinweise auf Querverbindungen. Stellen Sie ein Diagramm auf. Achten Sie besonders auf die Analysen der DNA und der Fingerabdrücke. Ihre Aufgabe wird es auch sein, DNA-Spuren und Fingerabdrücke aller Personen zu sichern, mit denen Sie im Rahmen Ihrer Ermittlung Kontakt aufnehmen. Es wirkt alles sehr verwirrend. Ich denke, das kann ziemlich spannend werden, da noch einiges Material ohne Zuordnung im Archiv der Ungarn schlummert. Da könnten Überraschungen vorprogrammiert sein, wenn ich schon mal das Statement der Ungarn zu den bisherigen Analysen würdige.“

Da hätte er doch gleich sagen können, arbeiten Sie einfach alles auf und machen Sie eine Statistik von jeder nur möglichen Fragestellung. Helen war etwas angefressen. Nachdem sie das jetzt gelesen hatte, hatte der Fall auch genau den Titel, der sich durch das Video anbot: „SOKO Haut“. Was er ihr mündlich sagen wollte, ahnte sie schon. Sie würde freie Hand haben, Raul mit der Bitte um Hilfe bei fast unlösbaren Aufgaben zu beknien. Wahrscheinlich hatte er noch weitere Hintergrundinformationen, die er nicht über das Intranet zugänglich machen wollte.

Nach ihrer Kaffeerunde machte sich Helen jetzt mit ihrem Wasserkocher heißes Teewasser. Zum letzten Mal für ihren täglichen grünen Tee, der im Laufe des Tages kalt werden würde. Sie hatte schon länger beschlossen, diese Gewohnheit aufzugeben, nachdem sie gelesen hatte, dass ein Pilzbefall des so hoch gelobten grünen Tees nicht auszuschließen sei. Jedoch, wie es mit alten Gewohnheiten war, man trennte sich nur zögerlich.

Da sie jetzt schon wusste, dass sie einem Doktor von Eynim auf den Zahn zu fühlen hatte, ging sie mit einer gewissen Spannung an den eigentlichen Fall heran. Sie verteilte die Fülle der Aktenbündel mit den vielen Fotos und Dokumenten chronologisch und war total beeindruckt davon, dass Borhagen wohl schon alles durchgearbeitet hatte. Unendlich viele bunte Markierungsfähnchen schauten oben und seitlich aus den Akten. Sie fühlte sich fast schon unmoralisch von ihrem Chef unter Leistungsdruck gesetzt.

Die Aktenlage

Helen ging an die Arbeit. Borhagen hatte, wie er es immer tat, auch diverse

Post-it Zettel eingeklebt mit jeder Menge Randbemerkungen.

„Meine Fresse“, grummelte Helen. Borhagen hatte ja wirklich schon alles akribisch durchgesehen. Musste ja gedauert haben und nebenbei auch noch wirklich interessant gewesen sein, sonst hätte er es zum Vorchecken erst einmal weiter gegeben. Immerhin hatte er drei Tage zur Verfügung. Hatte sein „einsames“ Wochenende drangegeben, statt im Garten zu arbeiten.

Sie las alles beim Sortieren schon mal schnell quer. Einiges las sie genauer und das, was ihr nicht so wichtig erschien, sparte sie für später auf. Jedenfalls waren es zwei Aktenkomplexe. Einmal aus dem Jahr 2008. Dieser Fall war unabgeschlossen von den Ungarn ad acta gelegt worden. Durch den zweiten Komplex von 2010 war er wieder zum Leben erweckt worden.

Eine stabile Schnur hatte beide Aktenkomplexe auch sichtbar zusammengeführt. Der zweite Teil von 2010 war deutlich umfangreicher durch die Tagebücher einer Mandy und die Briefe einer Manuela. Diese wollte sie zum Schluss lesen. Die Hinweise, die ihr Chef mit seinen Zetteln gegeben hatte, erwiesen sich als sehr hilfreich. Borhagen hatte tatsächlich sehr genau gelesen. Falls er sich auch alles gemerkt haben sollte, konnte Helen mit großer Hilfe rechnen. Bei den eher privaten, pornographischen Berichten hatte er vor allem jeden auftauchenden Namen registriert und einer neuen Farbe zugeordnet. Das erleichterte Helen die Arbeit erheblich.

Die Akten von 2008 umfassten:

Polizeiakten Vesprem: 01.08.08:

Vorgang im Wald bei Vesprem - Fund zweier verstümmelter, teilweise verbrannter männlicher Leichen in einem ausgebrannten, russischen Jeep. Kopien der Fotos vom Tatort.

Mit diesem Bericht fing alles an. Daher nahm Helen ihn sich genau vor.

Es war ein dickes Bündel von Bildern und Kopien. Sie blätterte die Bilder durch, blieb an einigen Aufnahmen hängen, sah die teilweise verkohlten Leichen im Wagen, die teilweise aus der offenen Wagentür heraushingen. Unschöne Anblicke, die jedoch keinen Eindruck darüber vermittelten, was wirklich abgelaufen sein könnte. Diese männlichen Leichen waren ausgenommen, wie Schlachttiere geöffnet. Hatten zum Teil noch Jacken, Hosen und Stiefel an, das meiste aber fast bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Sie waren an den Füßen mit Drahtschlingen versehen. Aufnahmen von Gegenständen im Gras, alle nummeriert, Organteile, Haufen von Därmen auf dem Waldboden, ein Anblick, der Würgereiz bescherte, ein Silikon-Brustimplantat, Fleischerhaken, eine Metallstange mit Löchern und Kettenteilen. War wohl in Eile liegen geblieben, dachte Helen.

Großaufnahmen von schwarzem Blut im Gras. Großaufnahmen von weißlicher Flüssigkeit auf Gräsern.

„Was soll das? Sperma?“, fragte sich Helen. Und das Brustimplantat, da war auch noch eine Frau zerstückelt worden, und vermutlich nicht nur das.

Dann kam der Bericht eines Joggers. Der erste Zeuge. Das war wohl der Erste, der am Tatort gewesen war. Helen war gespannt auf die Aussage und las.

Zeugenaussage Jogger:

- zum Vorgang im Wald bei Vesprem vom - 01.08.08. Nochmalige Vernehmung am 02.08.08 -

Igor Pec berichtet:

Auf meinem üblichen morgendlichen Waldlauf, den ich immer variiere, am 03.07.2008, so gegen 5:30, nahm ich die Route durch ein ziemlich abgelegenes Waldstück. Da bemerkte ich in der Nähe einer Wegkreuzung im sumpfigen Wald von Tajvedelmi Körzet bei Szekesfehervar Brandgeruch wie von Reifen und Chemikalien. Ich stoppte und ging dem Rauchgeruch nach und kam rechts vom sandigen Weg auf eine Waldlichtung, auf die auch ein mit Gras zugewachsener Weg führte. Die frischen Reifenspuren im Gras erregten im Zusammenhang mit dem giftigen Brandgeruch meine besondere Aufmerksamkeit. Es gab noch weitere unterschiedlich breite, frische Reifenspuren im noch immer feuchten Boden. Da stand auf einer Waldwiese, in der Nähe eines Entwässerungskanales, ein intensiv riechendes, nicht mehr qualmendes, sonst jedoch fast völlig ausgebranntes Autowrack eines russischen Militärgeländewagens. Drin und halb heraushängend die teilweise verkohlten Leichen von zwei Männern in, soweit noch erkennbar, Jagdkleidern. Hosen nur an den Beinen. Der Brustkorb und der übrige Rumpf waren deformiert und aufgebrochen. Geruch und Anblick waren kaum zu ertragen. Ich musste mich spontan übergeben. Danach habe ich nicht weiter nachgesehen, ich war völlig verschreckt und bekam auch Angst. Vielleicht war noch jemand in der Nähe. Ich bin dann sofort weiter zu meinem Auto gelaufen, das weit weg stand. Dann habe ich die Polizei in Szekesfehervar verständigt. Beim Rumlaufen auf der Wiese bin ich in eine Blutlache getreten, was ich erst am Auto bemerkte. Ich habe die Schuhe mitgebracht. Vielleicht brauchen sie die Blutspuren.

Helen nickte und dachte, dass ihr dieses morgendliche Erlebnis auch nicht sonderlich gefallen hätte.

Bei der zweiten Vernehmung hatte nur geklärt werden sollen, ob der Jogger etwas angefasst oder mitgenommen hatte. Und man hatte eine Blutprobe von ihm haben wollen, was Igor P. erlaubt hatte.

Nein, er habe nur Schock und Angst empfunden und sich übergeben. Die Schuhe mit den Blutspuren habe er schon abgegeben. Er würde sie gerne wieder haben. Es seien teure Laufschuhe.

Helen las im Polizeiprotokoll weiter, was die kriminaltechnische Aufarbeitung ergeben hatte und welche Rückschlüsse gezogen worden waren:

Reifenspuren von insgesamt drei Fahrzeugen. Eine Spur gehörte zu dem verbrannten Kommandeurswagen. Zwei Fleischerhaken mit Blut. Die DANN-Analyse ergab das Blut einer Frau, identisch mit einem Teil der gefundenen Organteile und den Spuren an der Silikonprothese.

Ein 1,2 m langes Eisenrohr mit großen Löchern und einem großen Haken in der Mitte mit Spuren von der Rinde eines Baumes, den man später auch identifizieren konnte.

Unter diesem Baum eine weitere Blutlache der gleichen weiblichen DANN-Zugehörigkeit, Anteile von Fettgewebe, im Gras der Umgebung Spermaspuren der beiden verkohlten Männerleichen, Nachweis über die nachgewiesene DNA.

Weiter fand man im angrenzenden Gebüsch einen zerschnittenen String Tanga, die Mamma-Silikonprothese mit den erwähnten DNA-Spuren eben dieser Frau.

Auf der Wiese vor dem Baum, an dessen Fuß sich die Blutlache und die Spermaspuren befanden, fand man Zigarettenkippen und zwei halbe Cohiba Corona. Die DNA wurde gesichert. An den Cohibas ließen sich auch zwei unterschiedliche DNA-Spuren nachweisen.

Das Blut an den Schuhen von Igor P., dem Jogger, stammte von einer weiteren, einer fünften männlichen Person.

Langsam bekam Helen ein Bild, was eventuell abgelaufen war. DNA von sechs Personen, einer weiblichen und fünf männlichen.

Weiter menschliche Därme von drei unterschiedlichen Opfern, die den verbrannten Leichen und der bekannten weiblichen DNA zuzuordnen waren.

Mehrere Hülsen von Schrotpatronen mit DNA-Spuren der Leichen im verbrannten Wagen und Spuren der DNA von den Schuhen des Joggers.

Waren sie mit ihren eigenen Waffen erschossen worden? Hatten sie sich gewehrt, war es zum Kampf gekommen? Sieht so aus, dachte Helen, wenn man die Blutlache berücksichtigt, in die der Jogger getreten ist.

Die Leichen waren regelrecht ausgeweidet worden. Es fehlten alle wichtigen inneren Organe, Lungen, Herz, Leber und Nieren. Sie waren niemandem zuzuordnen. Die Toten waren Unbekannte. Tod durch Kopfschuss mit Schrot durch den Mund, danach ausgeweidet und verbrannt. Niemand vermisste sie, wie es aussah. Das verbrannte Auto war ohne Nummernschilder und ohne Motorennummer und Fahrgestellnummer.

Diese Nummern konnten angeblich auch nicht rekonstruiert werden, was Helen nicht verstand. Sie hatte in Erinnerung, dass es Methoden gab, sie sichtbar zu machen. Ein ehemaliger russischer Kommandeur-Geländewagen, wie es viele in Ungarn gegeben hatte und noch immer gab.

Helen las den Bericht über die DANN-Analysen nochmals genauer. Ihr war etwas aufgefallen. Ein Darmstück, das mit der Vagina vernäht war, enthielt auch diverse Spermaspuren der sogenannten Jäger. Daneben gab es noch weitere Spermaspuren sowie nicht menschliche Spermien, DNA-Spuren von Caniden.

„Von Hunden“, dachte Helen und konnte mit dieser Feststellung noch nichts anfangen.

Auch das Erbrochene des Joggers Igor Pec war registriert, stellte sie fest.

Sorgfältig gesichert und analysiert, dachte Helen und betrachte intensiv die Großaufnahme der Brust-Silikonprothese. War da eine Seriennummer zu erkennen? Sah danach aus. Etwas blass und unvollständig, nur Reste. Die Nummer war weitgehend mechanisch abgetragen. Die vollständige Nummer wäre ein echter Treffer. Man konnte vielleicht den Hersteller und den Operateur ermitteln, dann die ehemalige Besitzerin. Helen erinnerte sich, dass vor ein paar Jahren über die Seriennummer ein Mord aufgeklärt werden konnte. Sie dachte auch an den Silikonskandal um eine französische Firma. Der Name fiel ihr spontan nicht ein, kann man ja googeln, dachte sie. Diese Prothese sah nach einem Spezialmodell aus. Aber da war noch eine Besonderheit, neben der Größe von 380 ml. Sah aus wie eine Schraube oder ein Ventil. Auf der Unterseite war noch ein Metallplättchen, wie ein Chip oder eine sehr dicke SIM-Karte. Das sah ganz wie ein Mini-Sender aus. Es war ein Sender! Borhagen hatte einen Zettel angeklebt, mit Ausrufezeichen und der Frage: Wozu ein Sender im Implantat?

 

Zeugenaussage Schleusenwärter:

Schleusenwärter bei Kölked südlich von Mohacs an einem Regulierungskanal neben der Donau.

Mohacs, resümierte Helen, der Name kam ihr bekannt vor. War das nicht eine wichtige Schlacht im Krieg gegen die Türken? Hatten sie das nicht in der Schule gehabt?

Am Morgen des 15.08.2008, einem Freitag, hatte sich nach einer regenreichen Woche, im sehr braunen Hochwasser, das schon leicht an einigen Stellen die Wiesen überflutete, vor dem Schleusenfanggitter ein Baum und Gesträuch verfangen. Mit dem Traktor wurde das Hindernis aus dem Fanggitter gezogen. In den Ästen, die nach dem Herausziehen frei wurden, hatte sich auch eine menschliche Gestalt verfangen mit bizarr verrenkten Gliedern. Eine komplett gehäutete, menschliche Leiche ohne Kopf, Hände und Füße, vom Hals bis zum Becken aufgeschnitten und ohne innere Organe, wie ein Schlachttier. Auch das Genitale nicht erkennbar, vermutlich herausgeschnitten. Es war ein grauenvoller Anblick, sagte der Schleusenwärter. Allerdings lagen über dem Brustkorb beidseits Reste von Fettpolstern, was möglicherweise auf weibliche Brüste Rückschlüsse zuließ. Auch die Form des Beckens sprach für ein weibliches Opfer.

Aus dem Bericht ging hervor, dass das Gelände von der lokalen Polizei weiträumig abgesperrt worden war. Aus Budapest waren die Gerichtsmediziner gekommen, hatten Proben genommen und die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut der Semmelweiß Universität überführt. Die DNA-Analyse hatte eine Übereinstimmung mit den Spuren vom Tatort im Wald bei Vesprem ergeben. Die Gerichtsmediziner hatten über die DNA-Datenbank den Zusammenhang hergestellt.

Helen schaute sich die Gegend über Google Maps auch über Satellit an. Vesprem und Stuhlweißenburg bzw. Szekesfehervar lagen weit weg vom Fundort der Leiche, das heißt, nördlich des Balaton. Sie bekam einen Eindruck von den Entfernungen und der Landschaft und wunderte sich, wie die Leiche den weiten Weg genommen hatte. Dann hatte sie eine Idee. Die Donau hatte die Leiche in Richtung Balkan, Kroatien und Serbien treiben sollen. Dann war das Hochwasser gekommen und eine zufällige Strömung hatte sie in einen Nebenarm und in die Schleuse gespült. Vielleicht. Helen fasste zusammen:

Eine Frau wird auf grauenvolle Weise hingerichtet, vermutlich an Fleischerhaken aufgehängt und bei lebendigem Leib ausgeweidet und gehäutet. Vorher wird sie von den ebenfalls ermordeten Jägern vergewaltigt. Das Vorkommen einer beachtlichen Menge weiterer unterschiedlicher Spermien in ihren Körperöffnungen könnte auf eine Nähe zum Rotlichtmilieu hinweisen. Auch der Nachweis von caniden Spermien weist in diese Richtung.

Die Frau selber war lange vorher chirurgischen Eingriffen ausgesetzt gewesen und mit sehr speziellen Mamma-Implantaten aus besonderem Silikon und einem Sender versehen, mit einem Darm-Vagina-Reservoir versorgt, in dem man neben menschlichem Sperma auch Sperma von Hunden fand. Diese Sperma-Kombination fand man auch in dem der Frau zugeordneten Enddarmabschnitt und in der Speiseröhre.

Schon vor langer Zeit war ihr ein Chip an Nervenenden im kleinen Becken implantiert worden. Zu welchem Zweck war unbekannt.

Und die linke Niere war ebenfalls schon vor Jahren entfernt worden. Man fand Reste der mit Clip versorgten Nierenblutgefäße in der ausgeweideten Leiche. Die gehäutete Leiche war abtransportiert und ohne Kopf, ohne Hände und Füße in die Donau geworfen worden. Per Zufall hatte sie sich in einem Schleusengitter in einem Nebenarm der Donau bzw. einem Kanal verfangen. Das war wohl auf Grund veränderter Strömungsverhältnisse bei dem herrschenden Hochwasser geschehen.

Die ermordeten Jäger waren ebenfalls ihrer Organe beraubt, in den Jeep gelegt und angezündet worden.

Vorher hatte eventuell noch ein Kampf stattgefunden, wie das Blut einer weiteren männlichen Person nahelegte, deren DNA auch auf den Schrotpatronen war, mit denen die Jäger vermutlich erschossen worden waren.

Warum die Frauenleiche auf anderem Wege entsorgt worden waren, blieb zunächst rätselhaft.

Die eine Silikonprothese war nicht vernichtet, war wohl übersehen worden.

Eine Identifizierung hatte wohl verhindert werden sollen. Deshalb fehlten wohl auch Kopf, Hände und Füße. Oder sollten sie etwa gesondert konserviert werden?

Helen schüttelte sich und musste sich Mühe geben, den Fall weiter zu bearbeiten. Sie holt sich erst einmal einen Kaffee und gönnte sich eine Denkpause.

Jetzt kommt das Neue am alten Fall, sagte sich Helen und las das „neue“ Aktenbündel beim Sortieren ebenfalls schnell quer.

Polizeiakten zu 2010:

Unfallbericht Piste bei Papa vom 16.7.10. mit den Leichen eines Dr. Maric Hödeny und einer Mandy.

Kopien der Fotos vom Unfallort, der Leiche des vermutlichen Fahrers. Ein Kopf ohne Gesicht. Nur ein halbes Ohr.

Der hat nicht mehr viel gespürt und zum Identifizieren kann man kaum biometrische Daten erheben, dachte Helen.

Spurensicherung Szeged, den Unfall auf der Piste betreffend vom 16.7.10,

Bericht des Fahrers des Langholzers, unter dem der Geländewagen zerschellte.

Kopie des Ausweises des Fahrers - ein ungarischer Pass - der demnach 46 Jahre alt war,

Kopie des Schweizer Passes, Typ 85, einer Mandy, die demnach zum Zeitpunkt des Unfalles 29 Jahre alt war.

Ihr stockte fast das Blut, als sie die weiteren Bilder sah. Fotos aus einer Schneiderei mit weiblichen Kleiderpuppen aus gegerbter, menschlicher Haut und dicken Piercingringen durch die Brustwarzen. Sie las weiter. Hier stand, dass Mandy schon lange vor dem Unfall tot gewesen und ihre Leiche aller Organe beraubt worden war. Sie war ähnlich wie die Leiche im Schleusengitter ausgenommen, aber nicht gehäutet worden, und wohl auf dem Wege nach Szeged gewesen, wo die gehäuteten Frauen in der Schneiderei ihren Platz gefunden hatten. Auch Mandy trug die gleichen Ringe durch Brustwarzen und Klitoris. Ihre Leiche war vom Kinn bis zum Schambein geöffnet. Herz, Lungen, Leber und Nieren fehlten ebenso wie alle Eingeweide, Teile des Uterus und Eierstöcke.

Fotos der von schwarzem Blut besudelten Leiche von Mandy im blauen Plastiksack und dann wohl gewaschen auf dem Seziertisch der Pathologen:

Offener Torso und Bauch bis zum Schambein, komplett ohne innere Organe. Große verchromte Ringe in den Mamillen, Bauchnabel und der Klitoris, am Steißbein und Hinterkopf. Bildhübsches, sehr junges Gesicht, entspannter Gesichtsausdruck. Weißblonde Haare, die zum Zopf geflochten und mit einer Binde wie zu einem Griff gewickelt waren. Eine Aufnahme zeigte ihr offen gehaltenes Auge, das dunkelblau war.

Helen dachte: Diese junge Frau sieht mir total ähnlich und war sicher erst knapp über zwanzig. Unglaublich schöne Brüste, Größe D, vielleicht auch mehr. Da steckte sicher Silikon dahinter.

Sieht auch auf dem Passbild eigentlich deutlich jünger aus, fast kindlich, dachte Helen weiter. Wenn denn die Angaben alle stimmten. Das wusste man selbst bei einem Schweizer Ausweis nicht, vor allem nicht bei dem Typ 85.

Liste, der im Unfallwagen gefundenen Gegenstände und Papiere mit

Garderobe und Akten der Mandy.

Überlassungsdokumente des Wagens an Dr. v. Eynim, ausgestellt von Uschi Steinmeier, als Besitzerin des Wagens.