Helen und die Häute der Frauen - Erster Teil: SOKO Haut

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Helen und die Häute der Frauen - Erster Teil: SOKO Haut
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MAGDALENA GRÄFENBERG

Helen und die Häute der Frauen

Erster Teil: SOKO Haut

Roman

Erschienen: 2018

Titel der Originalausgabe: H. Helen und die Häute der Frauen

Erster Teil: SOKO Haut.

©2018 durch Aatal Healthcare AG, Obwalden, Schweiz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch öffentlichen Vortrag, Übersetzung, Druck, Umgestaltung als Comic, Übertragung durch Rundfunk, Film, Fernsehen, Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Aatal Healthcare AG, Obwalden, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagmotiv: ©Aatal Healthcare AG

Helen und die Häute der Frauen

Erster Teil: SOKO Haut

Remember everything is right until it’s wrong.

You’ll know when it’s wrong.

Ernest Hemingway

Prolog

15. Juli 2010

Es war inzwischen 23 Uhr. Androsch saß nun schon seit Stunden hinter dem Steuer und kämpfte gegen seine Müdigkeit. Endlos zogen sich beiderseits der Piste die reifen Sonnenblumenfelder hin. Die Blütenkörbe wurden vom Licht der Scheinwerfer gestreift und blitzten gelb auf. Zwischendurch gaben dann wieder die kahlen, grauen Stängelsteppen der schon abgeernteten Mohn- und Rapsfelder dem Auge keinen Halt. Im Radio kamen jetzt Nachrichten. Es hatte einen Anschlag mit vielen Toten im Iran gegeben. Er wurde dem IS zugeschrieben, ein Racheakt und ein Zusammenhang mit dem Drogenhandel wurden vermutet. Er lachte vor sich hin. Er kannte die Wege von Ost nach West und umgekehrt. Er stellte das Radio ab und ließ die CD laufen, die noch im Fach war. Eye of theTiger und andere Songs. Androsch hatte außerdem noch Hunger. Aber zu essen gab es vorläufig nichts mehr. Der Rest in der Tüte war versaut. Immer wieder schaute er nach hinten in den Wagen. Die Decke kam auf dem Plastiksack in den Kurven leicht ins Rutschen. Er drehte sich erneut um, nichts war zu sehen, alles in Ordnung.

Trotz Schengener Abkommens war man bei den österreichischen Grenzern nie sicher, ob sie nicht doch kontrollieren würden. Weit hinter Rosenheim, an den „österreichischen Linien“, wie er die Grenze für sich nannte, hätte er fast die Nerven verloren. Da standen sie doch tatsächlich mit mehreren Grenzern an dem kleinen Übergang. Es sah aus, als ob sie ihn kontrollieren wollten. Er malte sich schon aus, wie sich das Szenario entwickeln und er schnell zu seiner alten Aggressivität zurückfinden würde. Er spielte die Handgriffe durch. Er spürte den pochenden Puls im Kopf und sah das Flimmern vor seinen Augen. Nervös tastete er nach den harten Konturen unter seiner Jacke. Das letzte Intermezzo lag Jahre zurück. Doch in letzter Sekunde wurde er von dem Grenzer durchgewinkt. Anschließend war ihm so schlecht, dass er sich übergeben musste. Er kotzte in die Tüte auf dem Nebensitz, in der noch ein halbes Brötchen mit Schinken und Äpfeln lag. An der ungarischen Grenze, kurz vor Szombately, ließ man ihn anstandslos passieren. Die zwei Männer der Grenzwache waren mit der Kontrolle eines rumänischen Vito beschäftigt. Dann ging es kurz weiter über die ungarische Nationalstraße. Ab da dann nur noch über Nebenstraßen. Ab jetzt würde er noch etwa zwei oder drei Stunden über die Staubstraßen brauchen, dann wäre er an der Hütte, beim Jagdhaus in den Wäldern von Bakony, wo er morgen die restliche Arbeit zu erledigen hatte. Er würde sie wecken und sie würde ihm Gulasch oder Letscho aufwärmen. Danach würde er sich unter ihrer Decke zwischen ihre weichen Schenkel legen. Wenn jetzt noch unerwartet eine Polizeikontrolle käme, würden die Ausweise ausreichen. Er sah ihm zum Verwechseln ähnlich. Der Führerschein war alt, daher war das jugendliche Gesicht sowieso nicht zu beurteilen. Es war alles so plötzlich gegangen. So schnell hatten sie ihm keine neuen Ausweise beschaffen können. Der Chef hatte auf der besonderen Abwicklung bestanden und keinen Widerspruch geduldet. Er musste fahren. Wie immer wollte er das Andenken, wie er es nannte, aufbewahren. Nur in Szeged war es möglich, das Andenken in der entsprechenden Weise zu präparieren und in der gewünschten Form zu würdigen. Androsch fand das etwas zu sentimental, er hätte das Problem anders gelöst. Aber das war nicht seine Aufgabe, sich den Kopf für andere zu zerbrechen. Vorher hatte er daher in der Jagdhütte noch die letzte unangenehme Aufgabe zu erledigen, die ihn etwa eine Stunde oder etwas mehr beanspruchen würde. Der Chef bestand dieses Mal auf einer Präparation des Kopfes. Danach musste er nur noch aufräumen, die Reste fortbringen. Das Übrige würden die Sauen erledigen. Nichts würde weiter übrigbleiben. In Szeged musste er nur das Päckchen weitergeben. Wichtig war nur, es so gut zu verpacken, dass das Salz nicht herausrieseln und auch kein Gestank entstehen konnte. Er wusste nicht genau, wohin es geschickt wurde. Aber er hatte mitbekommen, dass der Chef nach seinen Jagdreisen immer wieder kistenweise Trophäen aus Afrika geliefert bekam. Die waren es gewöhnt, Ungewöhnliches zu präparieren. Dieses Päckchen sollte auch dahin geschickt werden.

Die Staubpiste, über die er fuhr, war breit, aber die Begrenzung jetzt im Dunkeln schwer vom Übergang zu den Feldern rechts und links zu unterscheiden. Die Unterscheidung fiel ihm umso schwerer, je müder er wurde. Jetzt wurde es ein wenig hügeliger und auch kurviger. Die Bodenhaftung hatte auf dem Split des Belages stärker nachgelassen. Der Belag der Staubstraße war grober geworden. Er war jetzt gefordert. Ab und zu trieb der Wagen in den Kurven sehr weit auf die andere Seite. Er brauchte jetzt unbedingt eine kurze Pause und fuhr in einen Feldweg. Er stellte sich hinter den Wagen und pinkelte. Auf der langen Strecke hatte er genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Noch vor einem Jahr war er die ewig weite Strecke nach Oral alle 14 Tage mit Doreen und der einen oder anderen ihrer Freundinnen gefahren. In Oral waren sie bei einem Arzt gewesen, dann war es wieder zurück gegangen. Weiß der Geier, warum sie nicht geflogen waren. Angeblich hatten sie Flugangst. Eines Tages war mit den Fahrten Schluss gewesen. Doreen hatte er nie wieder gesehen. Das war sehr schade, denn sie hatte einen herrlichen Körper. Auf diesen Fahrten hatte sie ihm ab und zu Gelegenheit zu diesen kleinen Freuden gegeben. Er hatte nichts dagegen gehabt, dass sie dann nur den Analverkehr mit ihm zuließ. Kurz vor der Ankunft in Oral und dann wieder in Szeged war sie großzügig gewesen und hatte ihm dann auch mit dem Mund seine Wünsche erfüllt. Diese Fahrten nach Oral machten jetzt andere mit anderen Frauen. Anschließend wurde er dann auf der Strecke von Szeged zur Ostsee eingesetzt. Da transportierten sie dann die Mädchen. Die letzten Wochen waren nicht übertrieben anstrengend gewesen. Er musste nur Frauen, die aus der Ukraine nach Ungarn kamen, in den Fässern über die Grenze an die Ostsee, in dieses einsame Gehöft direkt am Steilufer, schleusen und sie dort einreiten. Das war eine Arbeit, die er gerne machte. Nicht immer war es nötig, dabei Gewalt anzuwenden. Hin und wieder halfen auch die Hunde, die der Chef speziell dafür trainiert hatte. Die meisten Frauen gingen danach ganz freiwillig auf die Knie, wenn er den Gürtel öffnete. Nur wenige mussten sie zu dritt festhalten, bis sie verstanden hatten, was ihre zukünftige Aufgabe war. Wenn er sie erst einmal nach einem Fluchtversuch ausgepeitscht oder die Hunde auf sie freigelassen hatte, waren sie ganz zahm und machten alles freiwillig mit. Bei der letzten Fracht war eine dabei gewesen, in die er sich fast verliebt hatte. Leider war sie sehr schnell weiterverkauft worden, nachdem er sie sich vertraut gemacht hatte.

Danach hatte es Arbeit in diesem Kloster gegeben. Die Arbeit dort hatte ihm viel Spaß gemacht, aber nach diesem Zwischenfall hatten sie ihn jetzt wieder auf die Straße geschickt. Man hatte ihm noch einen Metallkoffer mitgegeben, den er in der Fabrik abgeben sollte. Ihre beiden Koffer waren auch dabei. Er hatte das alles zusammen hinten im Wagen gelagert. Man hatte ihm noch gesagt, wo in diesem Wagen, den er bisher nicht kannte, die Papiere seien, für den Fall einer Kontrolle. Der Beifahrersitz blieb leer. Da lagen seine Jacke und die vollgekotzte Tüte, die er jetzt wegwarf. Als er hinten um den Wagen herumging, tropfte eine schwärzliche Flüssigkeit unter der Hecktür des Geländewagens heraus. Er wusste, wie sie roch. Scheiße, das kam durch die Erschütterungen auf der Piste. Es wurde Zeit anzukommen. Er trank noch aus der Wasserflasche und stieg wieder ein, fuhr auf die Piste zurück und gab Gas. Er fuhr jetzt mit hoher Geschwindigkeit, er wollte es hinter sich bringen. Er fuhr voll aufgeblendet, um alles zu sehen und nicht einzuschlafen. Hinter ihm entwickelte sich eine gewaltige Staubfahne. Das Nachtprogramm machte nicht wirklich wach. Er wurde wieder müde und schaute erneut nach einem Feldweg zum Einbiegen. Er stellte die Musik des Nachtprogrammes ab und ließ die lange Version von In-A-Gadda-Da-Vida der Iron Butterfly, die er im Handschuhfach fand, voll aufgedreht laufen. Das machte ihn wach, baute ihn auf. Er liebte dieses Hämmern der Trommeln. Er kurbelte das Fenster herunter, um Luft zu bekommen. Der Geruch wurde zunehmend unangenehmer. Eine leichte Steigung und eine Rechtskurve. Der Wagen trieb nach links außen in der Kurve. Das grelle Licht aus diesen verdammten vier Scheinwerfern eines Überlandtrucks kam ihm entgegen. Er fluchte über diese Langholzer, die auch nachts noch Bäume transportierten. Er kurbelte nach rechts und versuchte, das Abdriften zu unterbrechen. Er trieb dennoch weiter nach links, das Licht verschwand vor seinen Augen und in seinem Kopf wurde es erst ganz hell und dann ganz dunkel und dann still. Das Bersten der Metallstreben des Geländewagens vernahm er nicht mehr. Er hatte darauf verzichtet, sich wieder anzuschnallen, als er beim Pinkeln gewesen war.

 

Das Glück des Weibes heißt:

Er will.

F.W. Nietzsche

…und vergiss die Peitsche nicht.

Zum Wollen muss das Können kommen.

Dr. Helen Blankenburg

Der neue Fall

Montag, 23. Mai 2011

Das angekündigte Hoch mit Temperaturen über 30 Grad war seit fünf Tagen angekommen. Zuerst war noch rötlicher Saharastaub dabei gewesen und morgens war es noch relativ frisch. Ganz früh am Morgen war durchaus noch etwas Wärmendes angesagt. Ein Pullover zum Beispiel. Gegen elf Uhr wurde es dann aber schon fast unerträglich heiß, zumal noch eine hohe Luftfeuchtigkeit die Hitze begleitete. Es wurde schon vorausgesagt, dass dieses stabile Hochdruckgebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit noch bis Ende Juli bleiben sollte. Man sprach von einem kommenden Jahrhundertsommer wie 2003. Helen hatte sich schon auf dieses Wetter freudig eingerichtet und trug seit Mitte der vergangenen Woche nur noch leichte Fähnchen. Sehr zur Freude der Fortbildungsteilnehmer, die sie im Wechsel oder auch gemeinsam mit BH, ihrem Chef, unterrichtete. Alleine leitete sie die Fortbildung Psychologie. Mit ihren leichten Sommerfähnchen und den farblich abgestimmten High-Heels gab sie den jungen Kollegen eine ziemlich gute Idee ihrer beeindruckenden und dabei sehr sportlichen Figur. Ihre Vorlesungen waren immer sehr gut besucht, da sich keiner ihren witzigen und auch körperbetonten Auftritt entgehen lassen wollte. Sie war der Favorit unter den Lehrern, und schnell hatten die neuen Teilnehmer der Fortbildung ihren schon seit einiger Zeit kursierenden Spitznamen „Schneewittchen“ übernommen. Wie er entstanden war, wusste niemand genau, aber er passte zu ihrer sehr weißen, makellosen Haut und ihren dichten, schwarzen Haaren und dunkelblauen Augen. Der etwas sehr frivole Zusatz wurde hinter vorgehaltener Hand weitergegeben und betraf ihre Figur, die Unruhe

stiftete und für eine heimliche, aber große Anhängerschaft sorgte, welche von ihrer

erotischen Ausstrahlung kräftig genährt wurde. Sie war es gewöhnt, dass man ihr auf die Bluse starrte und gelegentlich hinter ihr her pfiff. Sie war es auch gewöhnt, gelegentlich unanständige Angebote zu bekommen. Einer ihrer Vorgesetzten bei der Ausbildung hatte sie tatsächlich gefragt, ob sie nicht lieber ihr Geld schneller und reichlicher in einem anderen Job verdienen wolle, als hier bei der Polizei zu malochen. Sie habe doch genau die Maße, die dafür geeignet wären. Ihr Körper sei doch ihr Kapital und die wahre Goldgrube habe sie in ihrer Hose, sozusagen zwischen den Beinen. Er hatte dabei andeutende Handbewegungen gemacht. Das war noch bei der Reiterstaffel gewesen, bevor BH sie abgeworben hatte. In ihrer Personalakte stand dann auch, dass sie die Abteilung wegen sexueller Belästigung gewechselt hatte. Später traute sich das keiner mehr, obwohl man sie nur allzu gerne rumgekriegt hätte. Seit dieser Zeit führte sie auch ein elektronisches Tagebuch, in das sie alles akribisch eintrug. Das machte sie mit der gleichen Konsequenz, mit der sie auch ihr Kraft- und Fitnesstraining täglich durchführte.

Nur ungern hatte sie sich heute, an ihrem freien Tag, trotz der Hitze in ihre Reitkluft gequält. Sie hatte sich diesen Tag für einen längeren Ausritt auf ihrem Hannoveraner Hengst reserviert. Im Anschluss an den Ausritt war noch, als einzige Dienstveranstaltung dieses Tages, das obligatorische Schießtraining vorgesehen.

Auf dem Weg zu den Stallungen des Reit - und Fahrvereins war sie noch kurz in ihr Büro gegangen, um etwas Eiliges an ihrem Schreibtisch zu erledigen. Hierzu brauchte sie ihren privaten Rechner, den sie mit sich führte. Sie war früh dran, und es bestand die berechtigte Aussicht, niemanden zu treffen. Zu der unter Verschluss gehaltenen Dokumentation hatte sie noch Anfügungen zu machen, bevor sie in Vergessenheit gerieten. Eine Arbeit, die sie auch Moneypenny nicht überlassen durfte. Aktuell wurde diese Arbeit durch den Nato-Angriff auf Libyen, weil sie eine Sammlung von Informationen enthielt, die den Weg des Frauenhandels durch das Gaddafi-Land beschrieb. Die Verwicklung der Wüstenstämme in den Handel mit minderjährigen schwarzen Mädchen wurde im Rahmen der Aufstände gegen Gaddafi größer. Dieser Handel mit den Mädchen wurde zu einem wachsenden Wirtschaftsfaktor, zumal der Bedarf wuchs und der Nachschub aus der Produktion des Südens vorhanden war. Durch die erfolgreichen Angriffe der Nato auf Gaddafis Regime war der Weg für die Schleuser aus der Gaddafi-Opposition über das Mittelmeer plötzlich freier.

„Leck mich am Arsch, was soll der Scheiß, was soll dieser Aktenberg auf meinem Schreibtisch“, grummelte Helen vor sich hin, als sie an diesem frühen Montagmorgen die Tür zu ihrem Arbeitszimmer aufschloss und den überfüllten Schreibtisch sah. Natürlich war ihr klar, dass sich an ihrem freien Tag oder am Wochenende etwas getan hatte. Es war klar, dass das immer wieder vorkam. Aber heute musste es nun wirklich nicht sein. Sie kramte die Kisten kurz durch und ahnte, dass ihre Pläne für heute pulverisiert waren. Sie nahm den Hörer, rief Jakob Tischer, den Hausmeister, an und raunzte dem Pedell aufgebracht ins Telefon.

„Kobes, was soll der ganze Mist?“

„Frau Doktor, ganz ruhig, das kommt alles vom Chef. Ich hatte nur den Auftrag, alles hinzustellen. Er musste weg. Besprechung. Es ist alles an deinem Urlaubstag, am Freitag, frisch reingekommen, deshalb stehen die Akten seit heute früh auf deinem Tisch.“

„Von frisch kann keine Rede sein. Die Akten müffeln nach Schimmel. Aber das riechst du ja nicht als Kettenraucher.“

„Ehrlich, die stinken?“

„Alles stinkt, Kobes. Und mir stinkt‘s auch.“

„Also, Helen, mehr weiß ich dazu auch nicht. Alles Weitere wird dir Moneypenny erklären, die müsste ja bald kommen.“

„Na prima, das weiß ich selbst.“

Helen knallte den Hörer auf den Kontakt und schaute missmutig auf die grauen Plastikkisten mit den Akten. Das passte ihr heute Morgen überhaupt nicht ins Konzept. Sie hatte sich diesen Tag freigehalten. Und er war komplett verplant mit privaten Terminen, dem Reiten und den turnusmäßigen Schießübungen. Außerdem wollte sie sich noch einen Ventilator und ein paar leichte Sachen kaufen, die dem Dresscode des Hauses entsprachen, aber leicht genug waren, um die Arbeit bei der zu erwartenden Hitze erträglich zu gestalten. Aus diesem Grunde war sie schon vor dem normalen Dienstbeginn und total unüblich im Reitdress erschienen. Etwas, das sie im Allgemeinen möglichst zu vermeiden suchte. Wäre ich bloß weg geblieben, dachte sie. Aber sie hatte ja in der laufenden Dokumentation noch etwas zu erledigen. Sie war sozusagen direkt in die Falle gelaufen.

Sie baute ihren Laptop auf, öffnete das Programm auf ihrem Rechner und übertrug die bewussten Dateien auf ihren Dienstrechner. Sie hörte die Geräusche des beginnenden Arbeitstages. Der Chef war es jedenfalls nicht. Sein Auftritt machte sich anders bemerkbar. Außerdem war er ja außer Haus.

Borhagens Sekretärin, Gerda Schlosser oder „ Miss Moneypenny“, wie sie von Helen und manchen anderen genannt wurde, war gerade gekommen. Das war nicht zu überhören. Ihre Zimmer lagen nebeneinander und hatten eine Verbindungstür. Als Helen das Sekretariat betrat, war Moneypenny gerade dabei, ihre Sommerjacke auf den Bügel in ihrem Schrank zu hängen.

Sie hörte Helen eintreten. Helen war ja auch laut genug mit ihren Stiefeln, und sie ahnte wohl schon, was kommen würde. Sie kam Helens Wutausbruch zuvor und erklärte, noch mit ihrer Jacke beschäftigt, halb im Schrank und über die Schulter in Richtung Helen schauend, was sich am vergangenen Freitag, Helens Urlaubstag, abgespielt hatte.

„Hallo Helen“, sagte sie, „der Chef hat einen Auftrag bekommen, einen alten Fall, der durch neue Erkenntnisse ganz aktuell, na ja, jetzt relativ aktuell geworden ist. Eingeschlossen war brisantes Filmmaterial. Borhagen hat das meiste schon gesichtet, am Wochenende. Er musste heute früh zu einer Sitzung bei der Staatsanwaltschaft und kommt gegen elf Uhr wieder ins Büro. Es kann sich auch verschieben. Du weißt ja, wie das so läuft.“

„Ja, ich weiß, gegen zwölf fangen die meisten an zu verhungern. Also muss vorher Schluss sein. Das heißt, ich kann voller Hoffnung sein, dass ich bis zwölf weiß, was anliegt. Es sei denn, sie gehen noch gemeinsam zum Italiener.“

„Der Chef weiß, dass du eigentlich auch heute noch frei hast, wegen des Schießtrainings und so weiter. Er sagte, falls wir dich sehen, sollen wir dich bitten, gleich an die Arbeit zu gehen. Bis er zurück ist, sollst du dir einen Überblick verschaffen. Er hat gesagt, du sollst das Puzzle erst einmal sortieren, Fakten zuordnen, Zusammenhänge suchen. Es gibt da wohl langatmige Berichte, wie Borhagen sich ausdrückte, ziemlich viel Erotik und auch Pornographie“, sie drehte sich ganz um und lächelte süffisant, „aber diesbezüglich bist du ja hart im Nehmen. Gut siehst du aus, in dieser Kluft, total sexy. Hoffentlich sehen dich jetzt nur wenige, sonst gibt es richtige Unruhe.“

Helen lächelte süffisant zurück.

„Ja, man muss ja was tun, die Konkurrenz schläft schließlich nicht. Aber wer kann, der kann. Ich weiß, ich bin in meinem Fachgebiet eben Spitze.“

„Na ja, wenn dich Deo in dieser Aufmachung sehen würde, würde er wohl noch schärfere Phantasien entwickeln.“

„Bitte, die Chance wird ihm heute geboten. Aber ganz so einfach lasse ich mich dann auch nicht über den Tisch legen.“

„Wie lange ist das her mit deinem Freund, Helen?“

„Lassen wir das, Moneypenny. Ich komme inzwischen gut ohne einen „steady friend“ aus.“

„Also, Borhagen sagte, das ist ein alter Fall mit neuen Vorzeichen. Wir haben den Fall bekommen, weil du schon im Rahmen der Nachfolge SOKO von „Weißes Fleisch“ erfolgreich mitgemacht hast und Erfahrungen in dieser Frage gesammelt hast. Man hat sich an dich erinnert, dass du Frauenhändler aufgedeckt hast.“

„Was soll ich jetzt mit dieser Information?“

„Du kannst dir was drauf einbilden.“

„Pfeifendeckel. Momentan ist es schlecht für mich.“

„Egal, Helen. Jetzt weißt du auch schon, dass das Thema eine gewisse Brisanz hat. Von der Staatsanwaltschaft Hannover, die wohl die deutsche Federführung in diesem internationalen Fall hat, kam das Material zusammen mit dem Auftrag, der schon mit dem Chef am Freitag abgesprochen wurde.“

„Da kam dieser verschimmelte Schrott von Akten aber sehr flott.“

Moneypenny ließ sich nicht erschüttern.

„Da du am Freitag einen Urlaubstag hattest, hat es dir der Chef ohne Vorankündigung heute früh auf den Tisch stellen lassen. Kein weiterer Mitarbeiter soll zunächst davon Kenntnis nehmen. Frag mich bitte nicht, warum. BH hat schon sein ganzes Wochenende zum Sondieren der Akten genutzt. Er hatte Zeit. Seine Frau war bei ihren Enkelkindern. Seit einiger Zeit auffallend oft.“

„Wie soll ich das deuten?“

„Es scheint erheblich zu kriseln“, flüsterte Moneypenny vertraulich. „Er fragte schon am Freitag mehrfach, wann du wieder im Hause bist.“

„Aha“

„Ja, aha. Er scheint dich schnell zu vermissen. Soviel dazu. Einiges aus den gesichteten Akten will er dir nachher noch besonders erklären. Er denkt, dass man eine Sonderkommission bilden muss. Du sollst dann die Koordination übernehmen. Er hat gesagt, du würdest das schon verstehen.“

„Mag sein“, knurrte Helen. „Was ich nicht verstehe, ist, wie ich das alles vor meinem Urlaub in drei Wochen hinkriegen soll. Immerhin bin ich dann vier Wochen weg.“

„Wenn ich es recht verstanden habe, eilt es auch wieder nicht so sehr, dass du hier im Büro übernachten müsstest. Die Opfer sind schon eine Weile tot.“

„Also, Moneypenny, da bin ich doch schlagartig total beruhigt. Das einzig Schöne daran ist, dass ich Deo für heute absagen muss. Oder kannst du das für mich tun?“

„Aber gerne doch. Ich höre schon förmlich die Enttäuschung deines Möchtegern-Liebhabers. Da wird er seine Hoffnung aufs Fummeln an dir etwas verschieben müssen.“

„Nicht verschieben, endlich aufgeben! Danke Moneypenny.“

„Andererseits, Helen, man sagt er sei ziemlich potent.“

„So, sagt man das, Moneypenny.“ Helen hatte wenig Lust auf eine weitere Beschäftigung mit Deos Potenz. Ihr ging dazu einiges durch den Kopf.

Mit dem neuen Fall konnte sie alle Pläne für heute absagen und musste irgendwann mit dem Schießwart einen neuen Termin vereinbaren. Obwohl, wenn sie ganz ehrlich war, so unrecht war es ihr nicht, den Termin zu verschieben. Sie war heute ohnehin nicht in der besten Stimmung, um die permanente Anmache abzubügeln. Der Typ war absolut scharf auf sie und hatte das immer wieder beim Training auf drastische Weise gezeigt. Helen fand ihn umgekehrt jedoch spektakulär abtörnend. Er war größer als der Durchschnitt, angeblich mit dem jährlichen, goldenen Sportabzeichen dekoriert. Er betonte das immer wieder und verstand diese sportliche Fähigkeit überdeutlich auf andere Aktivitäten zu lenken. Helen wollte sich seinen diesbezüglichen Hüftschwung nicht weiter vorstellen. Dabei war er mehr als nur etwas übergewichtig, mit beginnendem Haarverlust, was nicht zu seiner erhofften Attraktivität beitrug. Jedenfalls nicht bei Helen. Dann war er noch übertrieben sorgfältig uniformiert. Seine Uniform war immer frisch gebügelt und die Hemden so gestärkt, dass man sie wahrscheinlich hinstellen konnte, ohne dass sie zusammenfielen. Völlig overdressed. Seine kleine, etwas pummelige Frau, die schon mal bei Familienveranstaltungen zu sehen war, arbeitete in einer Drogeriekette und versorgte ihn mit Düften, Cremes und Rasierwasser. Gelegentlich verteilte er auch Proben an seine Kollegen, was ihm den Spitznamen „Deo“ eingebracht hatte. Zudem war er ein unerträglicher Aufschneider. Ständig betonte er, dass er ein leidenschaftlicher Jäger sei. Da es zum eigenen Revier nicht reichte, erteilte er den Mitgliedern der Jägervereine Schießunterricht, die sich dafür mit Jagdeinladungen revanchierten. Er versäumte es nicht, immer wieder von seinen Erfolgen bei jagdlichen Schießmeisterschaften und von glamourösen Jagdeinladungen zu reden. Er war sehr von sich eingenommen und hielt sich für unwiderstehlich. Beim Schießtraining suchte er den Körperkontakt. Er fand immer einen Grund, Helens Haltung zu verbessern, indem er ihre Schultern drehte und das Kippen der Hüfte beim beidhändigen Feuern manuell korrigierte. Keiner aus der Gruppe wurde so häufig korrigiert wie Helen. Die anderen beobachteten das und grinsten regelmäßig verwundert über Deos unverdrossene Anmache. Als er das mitbekam, gab er Helen immer Termine am Ende des Trainings. Beim Einzeltraining mit ihrer Dienstwaffe und auch mit der MP musste sie dann wieder sehen, wie sie sich ihn vom Leibe halten konnte. Wenn er hinter ihr stand und ihre Arme zum Zielen stabilisierte, drückte er sich unverfroren gegen sie, um ihr zu zeigen, was er noch weiter von ihr wollte. Sie ignorierte diese plumpen Vorstöße. Abwehrversuche wären in diesem Fall schon zu viel der Ehre gewesen. Sie hatte das Gefühl, dass er bei jedem Training mit ihr zunehmend an Distanz verlor. Dauernd hatte er auch neue Zoten parat. Er fand immer eine Gelegenheit, seine Sprüche loszuwerden. Anschließend wollte er Helen, ungeachtet ihrer ständigen Ablehnungen, immer noch auf ein Bier einladen, was Helen jedoch regelmäßig erfolgreich abbiegen konnte.

 

Jetzt standen da für sie zwei der alten, hässlichen, aber stabilen und stapelbaren Kisten bereit, die verwendet wurden, wenn die Aktenlage zu mächtig wurde. Die Post hatte die gleichen grauen Kisten. Oben auf jeder Box lag die Inhaltsliste. Sie stellte die Boxen auf den Boden, setzte sich an ihren Schreibtisch und ließ ihren Ärger über die unerwartete Aktenfülle erstmal abklingen. Sie schaute auf ihr persönliches Arrangement von kleinen Erinnerungen an außerordentlich nette Erlebnisse. Da war eine Eintrittskarte der Tate Gallery neben einer des Grünen Gewölbes in Dresden. Oder eine Karte für eine Kahnfahrt im Spreewald neben einer Konzertkarte der Wagner-Festspiele in Bayreuth und einer Eintrittskarte für das Museu de l`Erotica, Barcelona. Sie ärgerte sich immer ein wenig, wenn sie diese Karte sah, weil sie die Eintrittskarte für das Museum of Sex in New York versehentlich weggeworfen hatte. Links an der Wand hing ein Bild eines modernen Künstlers, das sie eben in diesem Museumsshop in New York gekauft hatte. Alle Kollegen, die ab und zu in ihr Zimmer kamen, wollten wissen, was dort dargestellt sei. Da half nur der Hinweis, dass abstrakte Malerei sich einem selbst erschließen müsse. Miss Moneypenny, die gerne auf Vernissagen ging und einen Freund hatte, der in Leipzig eine Galerie für zeitgenössische Malerei und Skulpturen unterhielt, meinte, eine erotische Szene zu erkennen. Sie wollte unbedingt den Namen des Künstlers erfahren. Helen musste sie enttäuschen. Ihr habe das Bild einfach nur gefallen, sagte sie. Das war ihre Standardversion. Sie selber wusste allerdings genau, was dargestellt war. Spannend war, alle rätseln zu lassen. Daneben hingen im Rahmen unter Glas diverse Fotos ihrer Reiterreisen nach Frankreich und Spanien. Auf dem Fenstersims hatte sie ihre besondere Uhr platziert. Ein schweres, silbernes Gestell englischer Herkunft, Art déco, mit kugelförmigem Perpendikel in der Mitte, das aus einem von vorn nach hinten geschlitzten Bogen heraus unter dem relativ kleinen, runden Zifferblatt zum Betrachter hin pendelte, was ungewöhnlich war. Insgesamt sah das Gestell wie der Abdruck der Innenkonturen weiblicher Oberschenkel aus, des Thigh Gap, durch dessen Schlitz das Pendel unablässig seine Bahn zog. Das Zifferblatt fand seinen Platz just an der Stelle, wo sich die beiden Lippen dieses bogenförmigen Schlitzes trafen. Die Uhr zog viel Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich. Auch hierüber wurde viel gerätselt. Moneypenny hatte sofort erkannt was sie da sah: „Das Pendel schwingt direkt aus dem Schlitz zwischen ihren Schenkeln. Die Uhr sitzt auf der Perle“. Was gab es da noch weiter zu interpretieren?

Auf der rechten Seite der hellgrauen Schreibtischplatte war der Platz für ihren privaten Laptop, mit dem sie für Recherchen ins Internet ging, die nicht unbedingt über den Dienstrechner nachvollzogen werden sollten. Da waren auch alle Recherchen gespeichert, die sie zu diversen Fällen privat unternahm, wenn sie der Meinung war, einiges vorläufig besser für sich zu behalten. Auch die jüngsten Dokumentationen hatten hier ihren Platz. Auch ihre Korrespondenz mit Raul lief über diesen Laptop. Raul hatte ihr ein Sicherheitssystem installiert, das es anderen unmöglich machte, über das WIFI-System des Institutes in ihren Rechner einzudringen.

Dieser Rechner, den sie immer mit sich führte und abends immer mit nach Hause nahm, stand jetzt schon aufgeklappt auf ihrem Schreibtisch.

Helen saß auf ihrem Schreibtischstuhl mit den gepolsterten Armlehnen und dem vollständig flach gepolsterten Sitz. Der Sitz war extrabreit, ein originales, antikes Bauhausmodell, das sie anlässlich der Leipziger Buchmesse bei einem Trödler in Dessau gefunden hatte. Sie hatte vergessen, wer der Erfinder war. Es war ihr privater Stuhl. Sie war der Meinung, dass bei dieser intensiven Tätigkeit einiges Persönliches das Recht hatte, in ihrer Umgebung zu sein. Dafür hatte sie, außer den Bildern der Reiturlaube, keine weitere private Bildergalerie. Es gab auch keinen Grund, etwas aufzustellen. Ihre einzige Verwandte, die noch lebte, ihre pflegebedürftige Tante, lag in einem Pflegeheim ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Die wenigen Bilder, die sie von ihr hatte, zeigten sie als Kleinkind auf dem Schoß ihres Großvaters und in jungen Jahren mit Hund. Das war nicht mehr passend. Die Tante wurde mehrfach pro Woche von ihr besucht. Auch das war im Prinzip unnötig, da sie sich nie daran erinnern konnte und immer nur sagte, dass sie, Helen, ja schon ewig nicht mehr da gewesen sei, und ob sie nicht bald studieren wolle. Aber, wie es eben war, im Lager des Pflegeheimes stand auch die Seemannskiste ihres Urgroßvaters, der als Kapitän eines Kanonenbootes der Deutschen Kaiserlichen Marine in Lüderitz und Swakopmund stationiert gewesen war und auch in Tanga in Ostafrika gelegen hatte. Da, wo die Usambaraveilchen herkamen. Ihre Tante hatte die Kiste immer wie ein heiliges Andenken an ihren Großvater gehütet. Sie hatte die Kiste von ihrer Mutter übernommen. Helen wusste davon, hatte aber nie Zeit gefunden, nach dem Schatz in dieser Vergangenheit zu suchen. Ihre Tante hatte sie nie dazu aktiviert. Sie hatte Helen immer nur am langen Zügel geführt. Sie wusste, irgendwann würde sich Helen auch dieser Vergangenheit nähern. Sie hatte immer gesagt, dass ihr Urgroßvater ein häufiger Gast der Woermanns gewesen sei. Er sei in Süd-West- und Deutsch-Ostafrika viel auf der Jagd gewesen. Er habe mit bekannten Großwildjägern zusammen gejagt, zum Beispiel mit Selous. Sie müsste sich mal darum kümmern.