Frühstück für Tiffany

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„Nein, nein“, stieß ich angestrengt hervor. „Ich frage mich nur grade, ob Sie eventuell – ich meine nur ganz eventuell – vielleicht möglicherweise den Verstand verloren haben.“

„Schon gut“, erwiderte er knapp, wobei er etwas verkrampft die Mundwinkel zur Seite zog und die aufeinandergepressten Zähne sehen ließ. Schöne Zähne übrigens. Sehr gepflegt.

„Was, schon gut?“

„Ich dachte mir schon, dass Sie sich nicht trauen werden. Ist schon gut. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken!“

Das war wieder dieses herablassende Getue, das mich schlagartig zur Weißglut brachte. Er war ja niedlich, dieser Bursche, immer noch absolut engere Wahl, allerengste sogar. Aber das gab ihm nicht das Recht, mich so begütigend abzukochen. So zu tun, als ob er mir, dem armen dummen Mädelchen, etwas schenken müsste.

„Wer sagt, dass ich mich nicht traue?“, raunzte ich ihn an. Noch während die Worte über meine Lippen strömten, registrierte ich, dass ich wieder mal mit dem Denken nicht ganz so schnell gewesen war. Gar so herausfordernd hatte ich das eigentlich nicht raushauen wollen. Aber nun war es schon passiert.

„Ja, sicher“, sagte er mit dem schlecht verhohlenen Anflug eines spöttischen Grinsens. „Zuhause sind Sie bestimmt das mutigste Mädchen der ganzen Straße.“

Aus seinem Mund klang das, als hielte er mich gerade für mutig genug, auf dem Weg zum nächsten Postkasten ein etwas zu kurzes Kleid zu tragen. Aber auch das nur, wenn im Moment beim besten Willen nichts anderes greifbar war. So ein superblinder Schnösel!

„Sie haben doch gar keine Ahnung von mir! Sowas wie Sie verspeise ich normalerweise zum Frühstück!“

„Ist ja schon gut!“, erwiderte er da abwiegelnd. „Sie müssen mir nichts beweisen. Ich glaube Ihnen auch so!“

„Tun Sie nicht!“, blaffte ich zurück. „Sie glauben bloß, Sie müssen jetzt den edlen Ritter spielen. Aber da haben Sie sich geschnitten! Also los, wie soll das ganze ablaufen?“

Nun kratzte er sich auf einmal nachdenklich am Kopf.

„Ja, wie könnten wir das jetzt machen?“, sagte er unschlüssig. „Ich habe jetzt gar nichts Geeignetes bei mir. Sowas wie ein Seidentuch …“

„Wie wär’s mit Ihrem Schlips?“, warf ich keck ein, weil mir das weinrote Ding just im falschen Moment ins Auge gestochen war.

„Ja, das … nein … naja …“

Er wand sich jetzt wie ein Aal. Schon wieder eine Situation, in der ich ihn nicht vom Haken lassen durfte.

„Also dann her damit!“, forderte ich ihn energisch auf. „Nur keine falsche Scham!“

Bei dem Wort Scham zuckte ich zusammen. Plötzlich überfiel mich eine heftige Hemmung, das, was sich da anbahnte, tatsächlich mit mir machen zu lassen. In aller Öffentlichkeit, vor unzähligen fremden Leuten, die keine Ahnung hatten, dass es nur ein wissenschaftliches Experiment war.

Gerade noch rechtzeitig entschied ich, dass das alles kompletter Blödsinn war und dass ich lieber doch nicht mitspielen wollte.

„Naaaa!“ sagte er grinsend, als ich eben den Mund aufmachte, um ihm cool die unwiderlegbaren Gründe für meinen Rückzug zu erklären. „Jetzt kriegen Sie aber doch noch Manschetten! Das sehe ich Ihnen an!“

„Überhaupt nicht!“, erwiderte meine flinke Zunge blitzschnell. „Ich frage mich bloß, wie lange Sie hier noch herumtrödeln wollen!“

Kaum hatte ich die Worte hinausgestoßen, war ich schon das pure Entsetzen über meine Leichtfertigkeit. Sollte ich nicht lieber doch einlenken und so schnell wie möglich zugeben, dass mir das alles jetzt doch ein ganzes Stück zu gewagt war?

Das hätte geheißen, klein beizugeben. Und vor allem hätte ich damit zugegeben, dass er von Anfang an recht gehabt hatte. Er, nicht ich.

Kam doch gar nicht in Frage!

„Na, nun sagen Sie schon, Sie Held! Wie wollen Sie es denn haben?“

*

Er wollte es so haben, dass ich ihm den Rücken zuwandte und die Arme in den Rücken nahm, damit er mir die Hände über dem Po zusammenbinden konnte. Er hielt korrekt Abstand, als er das tat, aber dennoch schien es mir, als ob uns nur ein plötzlicher Windstoß von einer aufregenden Umarmung trennte. Was natürlich so falsch gar nicht war.

Plötzlich fühlte ich mit verwirrender Klarheit, dass es in diesem Kein-Nilpferd-sondern-Flusspferd-Nashornhaus drückend schwül war. Die stehende Luft war stickig aufgeladen von der Hitze des Sommers und geschwängert vom Dunst des schlierendurchzogenen Wassers, in dem die Hippobullen ihr Revier markierten, indem sie den eigenen Kot möglichst flächendeckend verteilten. Momentan badeten sie fast reglos und schienen nicht einmal Lust zu haben, sich die Zeit mit den spaßigen Spielen ihrer weit aufgeblähten Nüstern zu vertreiben. Es lag etwas Animalisches im Raum, eine aufgeheizte Spannung, der ich mich auf einmal nicht länger zu entziehen vermochte.

Auf meiner Haut fühlte ich hauchzarte Schweißperlen. Schwer zu sagen, ob sie von der schwülen Hitze in dem kleinen Bau herrührten oder von meiner rasch zunehmenden Erregung. Es war ein höchst berückendes Gefühl, dass da ein attraktiver Mann zielstrebig an meinem edlen Körper herummachte, ohne dass ich selbst sehr viel mehr dazu beitragen durfte, als einfach nur fügsam stillzuhalten.

Jäh zuckte ich zusammen, und der Anflug einer Gänsehaut überzog meinen Körper, als er die Krawatte ruckartig um meine über dem Po aufeinandergelegten Handgelenke straffte. So gerade noch konnte ich den kleinen Aufschrei unterdrücken, der mir auf der Zunge lag. Gerade jetzt wollte ich auf keinen Fall verängstigt wirken. Na hoffentlich wusste er wenigstens den Anblick meiner entzückenden Rückenpartie zu schätzen, die er gerade vollkommen ungeniert studieren konnte!

„Keine Angst“, sagte er lächelnd, als ich mich etwas besorgt umwandte, weil ich spürte, dass meine Handgelenke erstaunlich fest aneinandergeknotet waren. „Wir verstecken alles unter Ihrer langen Jacke, und falls wilde Räuber aus dem Gebüsch brechen, werde ich Sie heldenhaft beschützen.“

Unwillkürlich musste ich lachen.

Er lachte mit, wenn auch vielleicht ein wenig unbekümmerter und weniger angespannt als ich.

Dann, als er um mich herumkam und ich seinen offenen Hemdkragen zu Gesicht bekam, sah ich etwas Fragendes in seinem Blick. Und jetzt musste ich grinsen, weil er gar so verunsichert dreinsah. War sich wohl schon gar nicht mehr so sicher, ob er nicht doch zu weit gegangen war.

Ich dagegen war für einen Augenblick richtig angetan, weil ich diese schicke Krawatte straff verknotet an meinen Handgelenken wusste. Das Ding war ruiniert. Unter Garantie!

He, war das vielleicht ausnahmsweise mal ein Mann, der für eine Frau etwas aufzugeben bereit war? Und wenn es nur seine weinrote Mittwochskrawatte mit niedlichen silbergrauen Pünktchen war.

Einige Überwindung kostete es mich trotzdem, mich schließlich mit ihm Richtung Zoorestaurant in Bewegung zu setzen. Die Hände gefesselt zu haben war, naja – schon sehr ungewohnt!

Ich erwartete natürlich, dass er die Situation früher oder später ausnutzen würde. Eine Hand auf den Po, ein verwegener, aber natürlich rein zufälliger Griff an die Brüste – wie hätte ich ihm schon wehren wollen?

Doch keine Spur.

Er schlenderte unbekümmert neben mir her, als hätte die Situation absolut nichts Aufregendes. Ließ mich frei laufen, war heiter, aufgeräumt, witzig. Nur seine prüfenden Blicke tasteten vermutlich jeden Quadratzentimeter meines gut gewachsenen Körpers dreifach ab. Hoffte ich jedenfalls. Schade nur, dass die leichte Jacke jetzt einiges verdeckte, wo ich doch glücklicherweise dieses luftig-leichte Sommerkleid trug, in dem ich ihn mit jeder Bewegung darauf aufmerksam machen konnte, dass er es hier mit einem Spitzenweib zu tun hatte.

Es war mir auf einmal wichtig, dass ihm das klar war. Ich wollte nicht, dass er mich für sonstwas hielt, gerade wo ich innerlich schön langsam gegen eine gewisse Furcht anzukämpfen hatte, die Sache nicht mehr vollständig im Griff zu haben. Es sah vermutlich nicht gerade cool aus, wie ich da recht ziellos und immer wieder unsicher um mich sehend neben ihm hertapste. Fast so wie ein junges Hundchen, das noch nicht so recht weiß, was Herrchen von ihm erwartet. Manchmal, als hätten wir überhaupt nichts miteinander zu tun. Und diese Vorstellung war mir auf einmal gar nicht mehr besonders sympathisch.

Erstens weil sie albern war. Zweitens weil ich mich mit der Zeit schutzbedürftig zu fühlen begann. Und drittens weil der Kerl anfing, mich zu interessieren.

Ernsthaft zu interessieren.

Ich selbst war es schließlich, die Tuchfühlung herstellte. Ich lehnte mich gegen ihn, neigte für einen Moment den Kopf an seine Schulter und animierte ihn, ohne dass er es merken konnte, wenigstens den Arm um mich zu legen. Sobald ich seine Hand auf meiner Hüfte spürte, lauschte ich meinen innersten Empfindungen. Mit befriedigendem Ergebnis. Es war keine Wende zum Schlechteren, eigentlich genau richtig.

Der Kerl konnte zupacken. Absolut!

Und ich war garantiert nicht die erste Frau, die er mit diesem entschlossenen Griff an sich zog. Fast so, als wolle er ganz nebenbei zeigen, dass er sich im Zweifelsfall jederzeit nehmen konnte, worauf er Lust hatte.

Ob er auf mich Lust hatte?

Spontan machte ich ein wenig auf verliebtes Pärchen, rieb meine Stirn kosend an seiner Schulter und war gespannt auf seine Reaktion. Die kam aber nicht, jedenfalls nicht so, wie ich gedacht hätte. Er lachte nur glucksend auf, löste kurz den Griff seiner Rechten und gab mir einen leichten Klaps auf den Po.

Ich juchzte kurz auf, wollte ihn vorwurfsvoll ansehen, doch schon beim Kopfheben merkte ich, dass das gründlich danebenging. Während ich mich noch bemühte, meine schönen Lippen zu einem möglichst überzeugenden Schmollen hochzuziehen, grinste er mich bereits hämisch an, und dann hatte er meine Taille auch schon wieder so sicher im Griff wie zuvor.

 

Mist! Diese Runde ging auch schon wieder an ihn.

Der tadelnde Klaps, den er mir da verabreicht hatte, entfaltete eine nachhaltige Wirkung. Es fühlte sich fast so an, als ob ich mir mit meiner schmusenden Annäherung etwas herausgenommen hätte, was mir nicht oder noch nicht erlaubt war, und das ärgerte mich.

Die kleine Zurückweisung war auch nicht gerade geeignet, mein Selbstbewusstsein zu stützen. Was mir insofern ungelegen kam, als uns auf dem Weg zum Restaurant viele Leute begegneten und ich ständig das Gefühl hatte, sie müssten mir sofort ansehen, was er mit mir angestellt hatte. Tatsächlich aber gab es keinerlei Reaktion, die darauf hingedeutet hätte.

So lehnte ich meinen Kopf irgendwann doch wieder kess gegen ihn, achtete aber extra darauf, nicht wieder zu weit zu gehen. Und tatsächlich fühlte ich mich so an ihn gelehnt, sanft geborgen in seinem Arm, schon bald bemerkenswert sicher. Lustvoll sicher.

*

Angekommen am Zoorestaurant suchte er auf der wunderschönen Terrasse einen Platz mit Blick auf den Pavianfelsen aus und rückte mir einen Stuhl zurecht. Sehr zuvorkommend! Es würde ein Kinderspiel sein, den Burschen dahin zu kriegen, wo ich ihn haben wollte.

Jetzt, zur Mittagszeit, war in dem Lokal ordentlich Betrieb. Und so war ich gespannt, wie er es anstellen wollte, mir unauffällig die gefesselten Hände zu befreien.

Die Antwort war: überhaupt nicht.

„Lassen Sie schon mal die Karte bringen“, sagte er statt dessen fröhlich, während er ohne mich erst zu fragen mein Handy aus der Jackentasche zog und dann sorgfältig die Jacke wieder so richtete, dass sie meine gefesselten Hände gerade noch verdeckte. „Ich sage später, was ich nehme.“

„Das geht doch nicht“, konnte ich ihm noch zuraunen, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. Zu meinem Entsetzen nickte er mir nur kurz vielsagend zu und wandte sich dann mir nichts, dir nichts vom Tisch ab.

Mir blieb noch Zeit, sprachlos den Mund zu öffnen, dann war er auch schon fort. Der hatte ja wohl ’ne Supermeise. Möglicherweise hatte er sich übertrieben viel mit seinen bescheuerten Tieren beschäftigt.

Ich aber war auf mich allein gestellt bei der Beantwortung der Preisfrage des Tages: Wie bestellt man eigentlich in einem fremden Lokal, wenn man nicht mal die Hände frei hat, um mal eben cool in der Karte zu blättern?

*

„Sie haben noch nicht ‚bitte’ gesagt!“, erwiderte er gelassen, als ich ihn nach seiner Rückkehr mit Wut im Bauch angezischt hatte, er solle auf der Stelle meine Hände befreien.

„Werde ich auch nicht!“, gab ich keck zurück. Der sollte nur gleich wissen, dass er so mit mir nicht umspringen konnte.

„Ja, dann!“, entgegnete er achselzuckend und widmete sich mit unglaublich interessiertem Interesse der Speisekarte.

„Machen Sie mich sofort los!“, fuhr ich ihn erbost an. Erschrak aber sofort über meine eigene Lautstärke, während er nur belustigt die Augenbrauen hochzog. „Machen Sie mich sofort los!“, wiederholte ich mit deutlich gedämpfter Stimme. „Oder ich …“

„Oder was?“, gab er belustigt zurück. „Oder Sie rufen die Polizei? Lassen sich von der Bedienung losmachen? Oder gehen in Ihrem entzückenden Kleidchen zu den sechs Jungs in den beflockten T-Shirts, die da drüben etwas umwerfend Wichtiges mit gehaltvollen Mixgetränken begießen?“

Er hatte recht. Das waren alles Möglichkeiten. Die ich alle unmöglich nutzen konnte. Zumindest, wenn ich mich nicht noch viel mehr blamieren wollte, als ich mich sowieso schon blamiert hatte.

„Sie lernen gerade etwas sehr Wichtiges“, sagte er, während er mit einem leichten Schnippen die Bedienung auf sich aufmerksam machte.

„Einen Campari Soda, bitte“, bestellte er gleich darauf ungerührt, „am besten gleich einen doppelten!“

„Und für die Dame?“

„Nichts, danke! Sie war nicht artig und darf leider nur zusehen.“

Die Serviererin sah mich unschlüssig an, fragte sich wohl, ob das ein Scherz sein sollte, schien dann aber an meiner Miene nichts ablesen zu können. Was auch? Ich wusste ja selbst nicht, was ich davon halten sollte. Schließlich nickte sie knapp, brachte ein etwas halbherziges Lächeln zustande und hatte sich abgewandt, ehe ich auch nur ein Wort herausgebracht hatte. Und das wollte etwas heißen.

„Sehen Sie“, sagte er mit genüsslichem Lächeln, „so ist das. Sie würden jetzt gerne etwas tun. Aber Sie sind nicht so frei in Ihrer Entscheidung, wie Sie es gewohnt sind. Das beeinflusst Ihr Verhalten.“

Da hatte er recht. Aber das war nicht alles. Außerdem war ich nämlich auch noch stinksauer. So kaltschnäuzig hatte mich noch kein Kerl gegängelt. Und dann auch noch leer ausgehen lassen. Ein Gläschen egal womit wäre gerade genau das richtige für mein hitziges Gemüt gewesen.

„Nehmen Sie das sofort zurück!“, zischte ich ihn wütend an.

„Wie bitte?“

„Nehmen Sie das sofort zurück!“, zischte ich noch einmal. Eigentlich hatte ich viel lauter zischen wollen als vorher, doch das hatte nicht so recht geklappt. Unwillkürlich hatte ich meine Stimme doch wieder gesenkt, damit die Leute am Nebentisch erst gar nicht auf uns aufmerksam wurden.

„Oh, oh!“, sagte er denn auch tadelnd. „Für den Augenblick sind Sie auf meine Gunst angewiesen. Sie werden mich milde stimmen müssen, ob Sie wollen oder nicht. Sonst kommen Sie keinen Schritt weiter. Was ist das für ein Gefühl?“

Schwer zu sagen.

Vor allem hatte das Gefühl etwas von einem Zahnarztbesuch. So ungefähr die letzten Sekunden vor Beginn einer qualvollen Wurzelbehandlung. Dennoch hatte er recht. Ohne ihn wäre ich schön blöd dagestanden.

Aber er zog einfach noch nicht ganz in die Richtung, in die ich wollte.

Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, denn normalerweise kriegte ich jeden Kerl, der was von mir wollte, mit einem Augenaufschlag in die Spur. Wenn überhaupt mal einer auf dumme Gedanken kam.

Der hier war eine härtere Nuss, wie es schien.

Und ausgerechnet jetzt waren mir buchstäblich die Hände gebunden.

Trotzdem: So leicht sollte der mich nicht kleinkriegen.

„Das Gefühl ist gar nicht so aufregend“, sagte ich so lässig wie möglich. Blöd nur, dass mich gerade, als mir die selbstbewusste Erwiderung über die Lippen kam, eine erschreckende Erkenntnis befiel: Das Gefühl war in Wirklichkeit unglaublich aufregend!

„Hmmm“, schwärmte er indessen und überflog schon einmal die Karte, in die ich noch keinen Blick hatte werfen können. „Das Umherstreifen unter freiem Himmel macht hungrig, nicht wahr?“

Statt einer Antwort warf ich ihm nur einen bitterbösen Blick zu. Ich hatte gewaltigen Hunger. Bärenhunger, Löwenhunger, Spitzmaulnashornhunger, Piranhahunger – ganz egal. Ich brauchte nur endlich was zu futtern!

„Gar kein Hunger?“, hakte er mit leichtem Stirnrunzeln nach. „Versteh ich nicht!“

„Natürlich hab’ ich Hunger!“, zischte ich ihn wieder unterdrückt an.

„Ach! Und warum haben Sie dann nichts ausgewählt?“

„Ich kann doch nicht mal die Karte aufschlagen. Als ob Sie das nicht wüssten.“

„Stimmt auch wieder. Aber Sie waren auch ziemlich aufsässig. Eigentlich geschieht Ihnen das ganz recht.“

Gerade machte ich den Mund auf, um ihm ordentlich rauszugeben, da trug die Bedienung zwei herrliche Teller mit etwas verführerisch Duftendem vorbei. Ein flaues Gefühl im Bauch erfasste mich.

Oh, gratinierte Kalbsmedaillons mit Thymian! Ich sterbe für Kalbsmedaillons, wenn sie hauchzart zubereitet sind! Sofern ich nicht blöderweise vorher verhungere.

Hmmm! Gratiniert! Mit frischem Thymian!

„Tut mir leid!“, hatte mein vorlauter Mund schon unbekümmert losgeplappert, ehe mein Gehirn auch nur eine Chance gehabt hatte, Einspruch zu erheben.

„Was sagen Sie?“

„Grrrr!“, machte ich drohend, doch falls ihn das sehr einschüchterte, ließ er sich davon nichts anmerken.

„Ich verstehe nicht …“, sagte er mit dreist geheuchelter Unschuld.

„Tut mir leid, wenn ich ein bisschen eklig zu Ihnen war!“, stieß ich ebenso kleinlaut wie erbost hervor: Im selben Moment fühlte ich ein eigentümliches Prickeln in meinem Schoß, das mich kurzzeitig sehr irritierte.

Vermutlich hätte ich diesem sehr aufregenden Prickeln wesentlich mehr als nur flüchtige Beachtung schenken sollen. Nicht nur, weil es meinen Herzschlag von einer Sekunde zur nächsten schätzungsweise verdoppelte.

In meinem Zustand hungertraumabedingter Unzurechnungsfähigkeit jedoch hatte ich plötzlich nur noch eines im Sinn: Futter!

Er hingegen war die Gelassenheit selbst. Falls das mit dem Hunger unter freiem Himmel nicht bloß so dahingesagt gewesen war, hatte er die Folgen der Hungersnot im Gegensatz zu mir bestens im Griff.

„Ah so!“, sagte er mit gespieltem Erstaunen, indem er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und lässig ein Bein über das andere schlug. „Also müssen Sie jetzt nur noch sagen: ‚Bitte küssen Sie mich, Herr Kreutzer!’ Dann bekommen Sie von mir, was Sie wollen. À la carte!“

Ich sah ihn nur entgeistert an. Das war doch wirklich zu billig!

„Keine Angst“, fügte er im Flüsterton hinzu. „Ich werde Ihre Bitte ausschlagen. Aber ich möchte diese verlockenden Worte zu gerne aus Ihrem entzückenden Mund hören!“

„Das werde ich bestimmt nicht sagen“, erwiderte ich widerspenstig. „Sowas habe ich noch nie zu einem Mann gesagt.“

„Sie waren ja auch noch nie einem Mann so ausgeliefert. Oder etwa doch?“

„Natürlich nicht! Wofür halten Sie mich denn?“

Er lächelte süffisant.

„Heute werden Sie müssen. Oder Sie handeln sich eine Menge Unannehmlichkeiten ein.“

„Unannehmlichkeiten?“

„Sicher. Sie müssen mich doch unbedingt bei Laune halten, damit ich Sie wieder befreie.“

„Eher kratze ich Ihnen die Augen aus!“

„Mit gefesselten Händen?“

Ein Punkt für ihn. Sogar wenn man davon absieht, dass ich gar nicht vorhatte, diesen wundervoll sanften tiefbraunen Augen etwas anzutun, war meine Drohung schlichtweg albern. Gefesselt zu sein, war wirklich ein sehr realer Nachteil.

„Sie haben da ein hübsches Mäntlein um“, sagte er herausfordernd. „Ist Ihnen damit nicht zu warm hier in der prallen Sonne? Ich könnte es Ihnen von den Schultern ziehen, wenn Sie möchten.“

Was mich auf der Stelle mit den gefesselten Händen bloßgestellt hätte. Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu und sann auf blutige Rache, ehe mir noch eine Strategie für meine Verteidigung eingefallen war.

Unwirsch zerrte ich an den Handfesseln, weil sie mir auf einmal ein ganzes Stück enger vorkamen, doch der Versuch brachte mich kein Stückchen weiter. Der Kerl hatte wirklich alle Trümpfe in der Hand.

Für einen Moment senkte ich unwillkürlich den Blick, doch der fiel dadurch voll auf meine herrlich nach vorne ragenden Brüste. Die Haltung war ganz und gar nicht ideal für die Situation. Ich spürte, dass ich eine Winzigkeit weicher wurde.

„Sie sehen hinreißend aus“, sagte er seelenruhig. „Ich glaube nicht, dass sich die Jungs da hinten lange bitten lassen, wenn ich Sie ihnen anbiete.“

„Sie? Mich? Denen?“

Mit einem Schlag war ich atemlos. Mir war, als wäre ich kurz davor, meine vorlaute Zunge zu verschlucken.

Bei den neuerlich angesprochenen Jungs handelte es sich um eine Gruppe von vielleicht sechs oder sieben jungen Burschen, die ein paar Tische weiter grölend, lachen, saufend und schweinische Lieder absingend irgend etwas Bedeutendes zu feiern hatten. Etwas, das zweifellos in die Annalen der abendländischen Kultur eingehen würde.

Sie mochten zu einer Handballmannschaft oder etwas ähnlichem gehören und trugen allesamt grellrote T-Shirts, die in schwarzer Schrift mit einem nicht besonders gut lesbaren Schriftzug beflockt waren. „Ruhm und Ehre“ konnte ich mit Mühe entziffern, dann noch etwas von einer „brasilianischen Flotte“. Wie südamerikanische Seebären sahen die acht oder neun überhaupt nicht aus, dafür um so mehr wie die typische Horde junger Kerls, der es unter dem Einfluss jenes unheilvollen Gemischs von Alkohol und Testosteron nicht das Geringste ausmachte, sich zwölf oder fünfzehn Mann hoch schön in der Reihe anzustellen, während vorne der Mannschaftskapitän dem armen flachgelegten Mädchen schon mal das schützende Höschen von den entblößt strampelnden Schenkeln zog.

Eine grauenhafte, frauenverachtende, panikerregende Vorstellung!

„Möchten Sie mich küssen, Herr Kreutzer?“, hörte ich mich plötzlich heiser hervorstoßen, und das war noch das Harmloseste. Viel beunruhigender war, dass ich das auf einmal tatsächlich wollte.

 

Nicht zu fassen!

Er aber schüttelte den Kopf:

„Nein, nein, meine Liebe! So kann ich das nicht gelten lassen! Sie müssen mich schon richtig bitten.“

Das war ja wohl die Höhe!

Was sollte das überhaupt heißen, nein? So eine Frechheit hatte sich noch kein Mann herausgenommen, dem ich großherzig ein Stückchen des Weges ins Paradies freigegeben hatte.

„Bitte, Herr Kreutzer, küssen Sie mich doch! Nur damit ich endlich diese dämliche Krawatte loswerde. Ich verspreche, ich werde es Ihnen auch ganz besonders schön machen.“

Wenn ich angesichts seines vorher so ritterlichen Verhaltens erwartet hatte, dass er mich jetzt wenigstens billig davonkommen lassen würde, so sah ich mich rasch eines viel Schlechteren belehrt. Er genoss meine Kapitulation. Er genoss seinen Triumph. Und er ließ mich meine Niederlage mit einer Häme auskosten, die ich ihm niemals zugetraut hätte.

Mehrmals schlug ich vor ihm die Augen nieder, sah wieder zu ihm auf, zerrte unwirsch an dieser doofen Handfessel und ärgerte mich bei jeder Bewegung, dass meine Brüste in meiner erzwungen aufreizenden Haltung ebenso schamlos wie effektvoll um ein bisschen Beachtung bettelten.

„Und“, fragte er dann spöttisch grinsend mit einer weit ausholenden rechthaberischen Geste, „geben Sie jetzt zu, dass der Verlust der Freiheit direkten Einfluss auf Ihr Verhalten hat? Oder wollen Sie mir etwa erzählen, dass es ganz normal für Sie ist, dass Sie sich fremden Männern so schamlos an den Hals werfen wie mir gerade?“

*

Ich werde nie vergessen, wie gierig ich seinen Duft einatmete, als er sich danach über mich beugte, um mich endlich wieder von diesem widerlichen kleinen Stück Stoff zu befreien, das mich in eine so unangenehme Situation gebracht hatte.

Wären wir nicht an einem denkbar öffentlichen Ort gewesen, ich glaube, ich wäre ihm spontan an die Wäsche gegangen. Es war ein so unglaublich gutes Gefühl, endlich wieder freizukommen, dass eine Woge des Glücks durch meine Adern brandete. Meine Wut auf ihn, all die guten bösen Vorsätze, ihm alles auf der Stelle heimzuzahlen, waren wie weggeblasen.

Ich war schlagartig nur noch ein Weibchen, das die Nähe eines Männchens wittert. Und wären nicht gar so viele Leute um uns herum gewesen, von denen sowieso schon einige neugierig guckten – ich weiß nicht, ob ich mich nicht wirklich vergessen hätte.

Aber nach allem, was er sich da gerade herausgenommen hatte, hätte ich das natürlich niemals zugegeben. Vor dem Hintergrund einer so beschämenden Niederlage auf ganzer Linie würde es schwer werden, ihm gegenüber wieder Land zu gewinnen. Weil mir aber nicht schnell genug etwas Besseres einfiel, setzte ich fürs erste bloß meine finsterste Miene auf und zischte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor:

„Sie … Sie … Sie mieser kleiner Erpresser…!“

Der miese kleine Erpresser aber löste mit beängstigender Nonchalance diese doofe Krawatte vollends von meinen Handgelenken, wo sie nie hingehört hatte, und ging, ohne meinen finsteren Blicken Beachtung zu schenken, zurück an seinen Platz.

„Arnold“, sagte er mit triumphierendem Lächeln, sobald er sich in aufreizender Gelassenheit wieder gesetzt hatte. „Bitte nennen Sie mich doch einfach Arnold!“