Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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»Das bedeutet, dass du die schwarze Prinzessin bist, die dem Zauberreich vor mehr als eintausend Jahren angekündigt wurde. Aber das ist nur eine Legende, Jezabel! Weißt du, wir waren einmal ein Reich, in dem alle magischen Wesen friedlich zusammenlebten. Es gab immer mal wieder Konflikte, so wie in der realen Welt auch, aber nichts Bedeutendes.

Aber die Gier nach absoluter Macht hat einige der Hexen vergiftet. Sie begannen, sich an geheimen Orten zu treffen, und schmiedeten Pläne, um den König zu stürzen. Es war damals strengstens verboten, jeglichen Geschöpfen, egal ob sie aus dem Zauberreich oder der realen Welt stammten, durch einen Zauber Schaden zuzufügen. Aber Crysaldis von Festos, eine der schwärzesten Seelen, die es jemals im Zauberreich gab, setzte sich über das Gesetz hinweg und begann gegen den König zu rebellieren. Sie scharte eine Bande heimtückischer Hexen um sich und unterwarf die anderen Wesen, indem sie deren Familien mit unwiderruflichen Flüchen drohte.

Eines Nachts stürmten sie die Burg des Königs, die sich in der Mitte des Zauberreiches befand, und überwältigten ihn im Schlaf. Er und sein Gefolge hatten keine Chance. Crysaldis hatte sich mit den dunkelsten Geschöpfen, den großen Unterirdischen, verbündet und was der Preis ihrer Dienste ist, kannst Du dir sicherlich denken. Sie stürmte also die Burg mit einer Armee hungriger Dämonen und rief die dunkelsten Schatten an ihre Seite. Es muss grausam gewesen sein. Aber Vaun, der weiseste Zauberer aller Zeiten, den konnten sie nicht überwältigen. Als er bemerkte, was sich im Hintergrund tat, floh er in sein Turmzimmer und belegte den Eingang mit einem mächtigen Schutzbann aus reinem Licht. Als Crysaldis nun vor seiner Tür verharrte und alle Zauberformeln ausprobierte, um den Bann zu brechen, holte Vaun seine Kugel der Ewigkeit. Sie war das große Orakel des Zauberreiches. Sie glühte blutrot und wand sich in seinen Händen, sodass seine Haut versengte. Vaun begriff, dass seine Zeit gekommen war, und hielt Crysaldis das Orakel vor die Augen. Dann sprach er mit hallender Stimme, sodass es jedes Wesen im Zauberreich hören konnte:

»Von nun an wird sich das Zauberreich in zwei Phade teilen. Der weise Phad wird die Tradition und Gesetze unserer Ahnen bewahren und in Balance mit der Natur leben. Im Gegensatz dazu wird es den dunklen Phad geben, der sich der dunklen Seite zuwendet, und all jenen Geschöpfen gewidmet ist, die sich dir anschließen und gegen das Gesetz der Balance auflehnen. Dort soll ewige Dämmerung herrschen, die dem Licht erst weichen kann, wenn die schwarze Prinzessin geboren wird. Nur die Macht dieses vollkommenen Geschöpfes kann das Reich wieder vereinen und erst dann ist deine Schuld beglichen!«

Vaun hob die Kugel in die Höhe und sprach einen mächtigen Zauber, den niemand jemals vor ihm genutzt hatte, und Crysaldis konnte nichts dagegen tun. Vaun wusste, dass das Zauberreich in seiner ursprünglichen Form verloren war, und rief in seiner letzten Minute die Dämonen des mächtigsten Elementes, des Wassers, an. Augenblicklich erhoben sich riesige Wellen und ließen sowohl die Burg als auch die Armee der schwarzen Schatten von Crysaldis in den Fluten versinken. Die Rebellen kamen dabei um. Nur die dunklen Schatten und ein paar lausige Dämonen verblieben in dem Wasser. So entstanden der Traubenperlensee und die beiden Phade. Eine Legende wurde erschaffen.

Jeder Phad hat sein eigenes Buch und eine eigene Deutung über die Aufgabe der schwarzen Prinzessin. Jeder Phad erschuf seinen eigenen Mythos. Aber niemand weiß wirklich, was die schwarze Prinzessin letztendlich tut. Bis zu deiner Geburt wusste auch niemand, ob sich das düstere Orakel von Vaun tatsächlich erfüllen würde. Der Legende nach soll die schwarze Prinzessin die Mächtigste aller Hexen sein, da sie das gesamte Wissen des Zauberreiches in sich tragen würde. Das kann hilfreich sein, aber auch sehr zerstörerisch! Seit der Ankündigung deiner Geburt gibt es für Darania nur ein Ziel. Sie will dieses Wissen, da es uneingeschränkte Macht bedeutet. Du bist Daranias größter Feind und ihre größte Sehnsucht zugleich, Jezabel. Seit deiner Geburt stehst du zudem unter dem Schutz des Elonyk. Er ist der Urschatten, der in der dunkelsten Höhle von Xestha haust und sich den Körper einer Hexe bedient, um seinen Platz im Hexenrat einnehmen zu können. Er ist der Vater aller dunklen Schatten, ohne die wir unsere großen Zauber nicht vollenden könnten. Momentan ist es Quwill, die ihm ihren Körper leiht. Da du unter seinem Schutz stehst, kann Darania dich auch nicht einfach vernichten. Aber sie ist heimtückisch und wird nicht aufhören, einen Weg zu finden, um dich auszuschalten.

Ich habe dich damals mit einem mächtigen Schutzschild umschlossen. Aber es hieß: Keine schlechte Energie kann hinein und keine Gute hinaus. Da du auch das Blut des dunklen Phads in dir trägst und dieses nun einmal schwarz und böse ist, konnte sich diese Energie lösen und das Schild durchdringen. So konnten die Skulks dich orten. Du bist mächtiger als ich oder sonst irgendeine Hexe, aber du kannst deine Kräfte noch nicht kontrollieren. Das kann anderen Wesen großen Schaden zufügen, Jezabel. Erinnere dich an die Vorkommnisse mit Britany! Das hätte auch böse enden können! Du hast recht. Die Geschichte ist wesentlich verzwickter, als ich zugeben möchte. Aber es ist wichtig, dass du uns vertraust!«

J.J. starrt fassungslos in die Runde.

»Was für eine abgedrehte Geschichte! Es ist schon schlimm genug, dass ich erfahren musste, die Nachfahrin einer bösen Hexe zu sein. Aber DAS ist Stoff für einen Kinofilm! Einen total abgefahrenen Kinofilm!«

Sie holt tief Luft und versucht sich zu beruhigen.

»Ich will das nicht! Bis heute war das ganz lustig, aber diese Geschichte gefällt mir nicht! Ich bin ein Teenager mit Träumen, wie einen Popstar daten oder ein Musikvideo drehen. Vielleicht werde ich ein gefragtes Model oder eine berühmte Künstlerin. Aber auf diesen okkulten Mist habe ich keine Lust! Und wenn das stimmt, was du mir da erzählst, wird mich eine Horde verrückter Hexen jagen, weil ein alter Zauberer vor eintausend Jahren eine dämliche Legende erschuf. Wie willst du das verhindern? Ich will mein normales Leben wiederhaben!«, brüllt sie verzweifelt und schnaubt.

Oma Vettel schreitet auf J.J. zu, die abwehrend ihre Hände vor den Körper hält und sie verachtend fixiert.

Da mischt sich Broaf in das Gespräch.

»Wir haben immer versucht, dich zu beschützen! Es war auch für uns nicht leicht, eine Lösung für dein Wohl zu finden! Es wurde alles immer komplizierter und du wolltest keine Hexe werden. Also suchten wie nach einem Ausweg. Schließlich hatten wir bereits deine Eltern bei diesem sinnlosen Kampf verloren! Jezabel, niemand kann dich zwingen, eine dunkle Hexe zu werden, aber die Magie wird immer in dir sein. Deshalb holten wir dich zurück. Du musstest erfahren, was du bist, da unkontrollierte Magie großen Schaden anrichten kann. Auf den Weg des weisen Phads kann Vettel dich nicht begleiten, da ihre Familie Xestha unterstellt ist. Es ist ein Segen für uns, dass du wieder hier bist, kleine Prinzessin, da man diesen Vergessenszauber eigentlich nicht wieder rückgängig machen kann. Es ist wirklich erstaunlich, wie stark du bist! Bitte vertrau deiner Großmutter und mir auch!«

J.J. entfährt ein langer, ausgedehnter Seufzer. Sie schüttelt den Kopf und fasst sich an den Hals, der immer noch höllisch wehtut.

Oma Vettel sieht sie besorgt an.

»Komm, lass uns in die Küche gehen. Ich mache dir einen Tee und dann unterhalten wir uns in Ruhe über alles.«

J.J. sieht genervt zu ihrer Großmutter und schlendert schließlich resignierend an den beiden vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie rennt in die Küche und lässt sich auf die Eckbank fallen. Ein paar Erinnerungen blitzen auf und trotzdem kann sie diese Angst, die sie heute Nacht wegen des Feuerdämons hatte, immer noch nicht einordnen.

»War es überhaupt Angst oder nur eine verdrängte Erinnerung? Vielleicht sogar eine alte Sehnsucht? Nach allem, was ich gerade erfahren habe, könnte es alles sein.«

Sie schüttelt den Gedanken sofort wieder ab und dreht sich zu ihrer Großmutter.

»Heißt das etwa, dass ich ein schlechter Mensch bin?«, fragt sie leise.

Ihre Stimme klingt heiser und sie bemerkt, dass sie Temperatur bekommt.

Oma Vettel nimmt ihre Hände und umschlingt sie fest.

»Das hast du vollkommen falsch verstanden, Jezabel. Das heißt nur, dass du die Macht hast, zu entscheiden, wer du sein möchtest und was du tust. Niemand, kein Hexenrat, keine Marla oder ich, kann dich für diese Entscheidung bestrafen. Sieh dich an! Du bist wunderschön. Du hast die Haare einer Elfe und die Augen einer Fee. Du bist bestimmt kein schlechter Mensch, mein Schatz. Es ist nur sehr kompliziert. Darania ist unser gemeinsames Schicksal. Genauso wie wir das ihre sind.«

Oma Vettel nimmt ihre Enkelin fest in den Arm. »Und ich bin auch kein schlechtes Wesen! Ich hoffe, du wirst mir irgendwann vertrauen. Und das mit Darania bekommen wir auch hin!«

J.J. löst sich aus der Umarmung und lehnt sich zurück. Nichts scheint ihr plausibel. Immer wenn sie denkt, dass sie eine Erklärung gefunden hat, tut sich eine neue Frage auf.

»Aber sagtest du nicht, dass sie mich völlig legal in den dunklen Phad einberufen kann?«

Oma Vettel seufzt und knetet nervös ihre Hände.

»Ja. Das kann sie, weil dein Gedankenstein im dunklen Phad gehoben wurde. Du musst dich jedoch freiwillig entscheiden, als Hexe zu leben. Ich habe damals deine Verzweiflung gesehen und dich acht Jahre vor ihr versteckt. Aber ich denke, wir sollten es auf einem anderen Weg versuchen. Du warst damals noch ein kleines Kind, nun bist du ein Teenager. Ich musste erst Sichergehen, das du deine Meinung inzwischen nicht geändert hast und nun doch als Hexe leben möchtest. Selbst wenn Darania dich in den dunklen Phad holt, bist du ihr erst verpflichtet, wenn du deine absolute Entscheidung für die dunkle Magie getroffen hast. Dafür musst du einen Eid ablegen oder einen mächtigen Zauber aus Eigennutz aussprechen. Marla wird dich selbst entscheiden lassen. Sie übt niemals Zwang aus. Das hat sie nicht nötig. Vielleicht war es ein Fehler, dich diesem Vergessenszauber auszusetzen. Aber ich sah damals keinen anderen Weg. Wir werden die beste Lösung für dich finden.«

 

J.J. nickt und fasst sich an den Hals. Die Schmerzen werden schlimmer, sodass sie sich kaum noch konzentrieren kann. Ihre Großmutter steht auf und zupft verschiedene Kräuter aus den Bündeln über dem Ofen.

»Noch ein wenig Spitzwegerich und Sambusterkraut und, ach ja, fünf Fliegenbeine!«

J.J. entfährt ein angewidertes »Bäh!«, worauf die alte Hexe laut loslacht.

»Das war doch nur ein Scherz, meine Liebe! In einen Tee gegen Halsweh kommen keine Fliegenbeine! Nicht in diesen!«, erklärt sie und steckt J.J. mit ihrem Gelächter an, die sich inzwischen wieder entspannt hat. Die Schmerzen vertreiben die Lust, sich weiterhin den Kopf zu zermartern, und so ergibt sie sich erst einmal den Gegebenheiten.

Kapitel 7
Gute Hexe. Böse Hexe

»Also, Großmutter. Ganz auf Anfang! Wie ist das mit diesem Zauberreich?

Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es eine Zauberwelt, in der sich gute und böse Hexen bekämpfen oder besser gesagt, aus dem Weg gehen. Ich stamme aus einer Familie, die sich dem dunklen, bösen Reich verpflichtet hat. Heißt das etwa, dass ich so einen riesigen schwarzen, spitzen Hut nebst Umhang tragen muss und den ganzen Tag mit einem Stock durch die Gegend wedele, um Wasser in Wein oder Gift zu verwandeln?«

Oma Vettel verschluckt sich beinahe an ihrem Tee. Sie steht auf und stellt sich hinter ihren Stuhl. Einen Moment denkt sie über die Worte nach und schüttelt dann energisch den Kopf. Genervt winkt sie ab.

»Ach, so ein Quatsch! Das mit den Hüten und Stöcken, meine ich. Da könnte ich jedes Mal vor Wut platzen! Keine Ahnung, wer sich dieses Märchen ausgedacht hat. Also in unserem Reich tragen wir das, was uns gefällt! Und glaube mir, wir Hexen sind sehr modern. Sieh mich an! Sehe ich etwa aus wie eine Trauer tragende Miesmuschel?«

Mit ausgerecktem Kinn stellt sie sich vor ihre Enkelin und zeigt stolz auf ihren Modemix. Heute hatte Oma Vettel Lust aufs Ganze zu gehen und sich für einen schwarz-weiß karierten Hosenanzug entschieden, auf dem riesige, gelbe Fische gestickt wurden. Die blank polierten, grünen Lackschuhe tragen ihren Teil dazu bei, dass J.J. nun losprusten muss, während sie das exentrische Ensemble ihrer Großmutter mustert. Nur mühsam kann sie sich das Lachen verkneifen.

»Nein, Großmutter. Wie eine Miesmuschel siehst du wahrlich nicht aus!«

Oma Vettel dreht sich daraufhin wie ein Mannequin im Kreis und streckt ihr Kinn dabei extra lang nach vorn.

»Ja, ich hatte schon immer eine Vorliebe für die Mode von Hexe Strada. Sie macht wirklich aus jedem Gewand ein Meisterwerk und die Farben, die sie verwendet, sind einmalig!«

J.J. sieht die alte Dame verlegen an und versucht weiterhin diplomatisch zu antworten.

»Ja, das sind sie wirklich«, sagt sie knapp, ohne weiter darauf einzugehen.

»Und diese Geschichte mit den Zauberstöcken, die unbedingt nötig sein sollen, um Magie anzuwenden. Also, wirklich! Diese Dinger wären doch sehr unpraktisch, meinst du nicht? Wir müssten sie permanent mit uns herumschleppen, weil wir ohne sie nicht zaubern könnten. Unsere Magie, mein Engel, ist in uns. Sie fließt durch unsere Adern und wir allein bestimmen, wann wir sie anwenden. Ich kann zu jeder Zeit und an jedem Ort zaubern und fluchen, wie es mir gefällt! Wenn ich Lust auf große Dramatik habe, benutze ich meine Hände und mache wahnsinnig spektakuläre Gesten! So wie diese Magier im Fernseher.«

Oma Vettel stellt sich in die Mitte der Küche und führt ein theatralisches Händeballett auf. Als J.J. bemerkt, dass ihre Großmutter zu einem Spagat ausholt, kreischt sie auf und beginnt lauthals zu lachen. Die alte Dame zupft ihre Kleidung gerade und setzt sich zurück an den Tisch. Von der Aufführung vollkommen außer Atem, wedelt sie sich Luft zu, während sie nun in ernsterem Ton weiterspricht.

»Für die mächtigen und unwiderruflichen Zauber brauche ich allerdings viel mehr. Es sind die geheimen Zauberformeln unserer Familie und dafür benötige ich die Macht all unserer Vorfahren. Die befindet sich jedoch nicht in einem winzigen Stock, sondern in einem großen Zepter! Jeder Familienclan des Zauberreiches hat sein Eigenes. Wenn eine junge Hexe die Familientradition übernimmt, bekommt sie es vererbt, damit es ihr die Künste der Vorfahren lehren kann. Bei dir stellt sich allerdings die Frage, ob unser Zepter dir überhaupt noch etwas beibringen kann. Aber das soll uns jetzt noch nicht beschäftigen. Du hast unser Familienzepter übrigens schon kennengelernt. Es ist Rosinante!«

J.J. reißt ihre Augen auf und prustet los.

»Der alte Besen, mit dem wir hierher geflogen sind?«, fragt sie ungläubig und schüttelt zweifelnd den Kopf.

Oma Vettel lässt sich davon überhaupt nicht beirren. Sie schlürft noch etwas Tee und sieht verträumt aus dem Fenster.

»Ja, das ist eine der wenigen Legenden, die wirklich stimmen. Wir Hexen fliegen sehr gern auf unseren alten Reisigbesen. Obwohl wir in der Art unserer Fortbewegung schon viel moderner geworden sind!«

J.J. unterbricht sie kurz und beugt sich leicht zu ihr nach vorn. Da sie keinen Ärger haben will, flüster sie:

»Ich dachte immer, Zepter sind prächtige, goldene Artefakte, besetzt mit kostbaren Edelsteinen und so«, haucht sie leise.

Oma Vettel starrt sie verwundert an, da das gerade sehr komisch aussah. Kichernd geht sie zur Speisekammertür.

»Rosinante! Ardogo!«, ruft sie hinein und grinst J.J. überlegen an. Daraufhin kommt der Besen durch die Tür geflogen und stellt sich aufrecht, mit dem Reisig nach oben, neben der alten Hexe auf.

»Stabigo!«

Ein greller Blitz zuckt auf und verwandelt Rosinante in ein elfenbeinfarbiges Zepter. Das erinnert J.J. an ihren sechsten Geburtstag. Nach und nach blitzen kurze Bilder auf, in denen sie Oma Vettel mit dem Zepter in der Hand im Garten stehen sieht.

Sie reibt sich die Schläfen und schluckt.

»Ich erinnere mich, Großmutter. Das letzte Mal, als ich dich mit Rosinante zaubern sah, war an meinem sechsten Geburtstag.«

Sie schreckt kurz zusammen, als ein weiterer Lichtblitz aufzuckt und Rosinante als Reisigbesen auf den Küchenboden fällt. Über Oma Vettels Gesicht huscht für einen kurzen Moment ein dunkler Schatten. Doch sie fasst sich schnell und stellt den Besen an die Wand. Sie holt sich einen frischen Tee und setzt sich zu J.J. Verträumt starrt sie in den Garten.

»Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber das stimmt nicht. In Wahrheit wird man nur älter und vergesslicher. Manche schmerzhaften Erinnerungen verblassen nur, so wie ein Foto, das zu lange in der Sonne gelegen hat. Doch der Schmerz, meine Liebe, der bleibt für immer!«

Ein tiefer Seufzer entfährt der alten Hexe. Sie wischt sich flink eine Träne von der Wange, und versucht zu lächeln. J.J. weiß, wovon sie redet und versucht ihre Großmutter abzulenken.

»Ist der Unterschied zwischen dem weisen und dem dunklen Phad wirklich so groß? Ich meine, wenn ich auf der Straße einer Hexe begegnen würde, könnte ich sofort erkennen, zu welchem Phad sie gehört?«

Oma Vettel nimmt einen Schluck Tee und schmunzelt. Sie setzt ein feierliches Gesicht auf und fasst ihrer Enkelin theatralisch an die Schulter.

»Der Unterschied zwischen den Hexen der beiden Phade ist natürlich offensichtlich! Die vom weisen Phad sind die guten Feen und die vom dunklen Phad die bösen, alten Hexen«, sagt sie mit extra dunkler Stimme.

Dabei fixiert sie J.J. und starrt sie eindringlich an. Die bemerkt natürlich, dass die alte Dame sich das Lachen verkneift, und sieht sie böse an.

Oma Vettel prustet los und kichert wie ein albernes Mädchen.

»Entschuldige bitte! Das war natürlich nicht die Antwort, auf die du gehofft hast! Aber wie erkennst du in der realen Welt, wer gut und wer böse ist? Ich denke, das muss jeder Einzelne für sich selbst entscheiden. Manche Menschen denken, sie wären gut und tun doch täglich Dinge, die anderen großen Schaden zufügen. Unbewusst vielleicht, aber sie tun es! Bei uns im Zauberreich ist das von vornherein klar eingeteilt. Rein äußerlich kannst du die Phadhexen nicht auseinanderhalten. Wir sehen alle völlig normal aus und es gibt in beiden Reichen auch keine dämlichen Kleidervorschriften. Bedenke, dass wir Hexen jederzeit in die reale Welt reisen können! Natürlich leben die Hexen vom weisen Phad eher bescheidener. Sie kommen der Vorstellung der Menschen von elfenhaften Wesen in wallenden Kleidern eher entgegen als wir Hexen vom dunklen Phad. Wir Hexen leben eigentlich nicht sehr viel anders als die Menschen. Wir nutzen nur unsere besonderen Möglichkeiten! Die Menschen erfinden täglich Dinge, die ihnen das Leben erleichtern sollen, und wir haben den Vorteil, dass wir uns diese Dinge einfach zaubern können. Der größte Unterschied zwischen den Phadhexen liegt in ihrem Blut. Die Hexen aus Rosaryon, also dem weisen Phad, haben normales, kirschrotes Blut. So wie die Menschen auch. Wenn sie sich in der realen Welt aufhalten, sind sie genauso verwundbar wie sie. Allerdings haben sie die Gabe, dass sie sich in ihrer Welt selbst heilen können. Wir Hexen aus Xestha, also vom dunklen Phad, haben schwarzes und dickes Blut, da in uns die dunklen Schatten leben. Wir sind hier in der realen Welt beinahe unverwundbar!«

J.J. sieht ihre Großmutter verblüfft an und schüttelt ungläubig den Kopf.

»Du bist also unsterblich?«, fragt sie völlig überfordert von diesen Neuigkeiten.

Oma Vettel stellt lachend ihre Tasse auf den Tisch und reibt sich die Schläfen.

»Natürlich nicht! Das wäre auch ganz furchtbar. Wir Hexen werden zwar viel älter als die Menschen, aber sterben tun wir auch! Wenn wir das Zepter weitervererbt haben, gehen die Schatten durch das Zepter in die Neuhexe über und wir alten Hexen werden schwächer. Irgendwann lösen wir uns dann einfach auf.«

J.J nimmt einen kräftigen Schluck Tee und denkt darüber nach.

»Wieder neue Informationen. Hexen sterben also nicht, sondern lösen sich auf, wie Seifenblasen.«

J.J. knetet nervös ihre Hände.

»Und die guten Hexen, also die aus Rosaryon?«, fragt sie vorsichtig.

Oma Vettel kichert hämisch und winkt ab.

»Das sind doch alles empfindliche Mimosen! Die verlieren bei jedem Zauber so viel Energie, dass sie stundenlang geschwächt sind. Wenn sie zaubern, nutzen sie nur ihre Energie und versuchen keine andere Quelle zu schwächen. Sie leben aber ebenso lange wie wir. Na ja, meistens werden sie sogar viel älter als wir dunkle Hexen! Wahrscheinlich liegt das an ihrer gesunden Lebensweise. Sie ernähren sich ja hauptsächlich von Grünzeug. Kein Wunder, dass die alle so dünn sind!«, erklärt sie kichernd, bevor sie plötzlich ernst wird.

Sie starrt auf den Boden, als würde sie die folgende Geschichte traurig machen.

»Aber Marla, die Kindskönigin und Herrscherin des weisen Phads, die ist unsterblich«, sagt sie leise.

Jezabel zieht ihren Lieblingsflunsch und verdreht die Augen.

»Die hat es gut! Für immer jung und schön«, sprudelt es aus ihr heraus, worauf sich Oma Vettel abrupt erhebt und leicht zornig wirkt.

»Wer sagt das denn? Also, ich möchte nicht mit Marla tauschen! Als sie von der Blüte der Gralotariosblume gekostet hat, war sie gerade mal neun Jahre alt. Weil sich diese Blüte aber nur den auserwählten und reinsten Seelen zeigt, wurde sie noch im selben Jahr inthronisiert! Deshalb nennt man sie auch die Kindskönigin! Und da wären wir wieder bei einer dieser unlogischen Legenden der Menschen. Es heißt UNSTERBLICH und nicht UNALTERND! Marla ist inzwischen über siebzig Jahre alt und hat es nur ihrer gesunden Lebensweise zu verdanken, dass sie höchstens wie fünfundfünfzig aussieht. Sie stirbt zwar nicht, aber altern tut sie genau wie wir auch. Ein grauenvoller Gedanke!«, blafft Vettel los und steigert sich derart in dieses Thema, dass sie Gift und Galle spuckt.

Jezabel sitzt derweil am Tisch und versucht sich vorzustellen, wie sie wohl mit zweihundert Jahren aussieht.

»Gibt es denn keinen Verjüngungszauber?«, fragt sie immer noch in der Vorstellung haftend.

 

Oma Vettel seufzt und stöhnt gleichzeitig.

»Natürlich gibt es die. Aber die weisen Hexen dürfen solche Zauber nicht anwenden. Sie sind der Natur und dem Gleichgewicht verpflichtet. Sie dürfen einen Zauber nicht zum Eigennutz aussprechen! Es sei denn, sie befinden sich in großer Gefahr. Bei uns Hexen vom dunklen Phad ist das anders. Wir leisten uns schon ab und zu eine Kleinigkeit. Deshalb sind wir ja auch die Bösen! Verstehst du? Darania, die Vorsitzende unseres Hexenrates, ist circa neunzig Jahre alt und sieht aus wie eine achtzehnjährige Schönheitskönigin. Straffe Kurven, volles Haar, nicht eine Falte!«

Nun ist J.J. neugierig. Sie räuspert sich und fragt vorsichtig:

»Und du hast so etwas noch nie ausprobiert?«

Oma Vettel sieht sie entrüstet an und ringt nach Luft. Anschließend neigt sie ihren Kopf und zeigt auf die blinkenden Haare.

»Oh doch! Aber diese Zauber sind kompliziert und mächtig. Wenn sie schiefgehen, hat man den Rest seines Lebens mit den Nebenwirkungen zu kämpfen! Ich hatte vor etwa zehn Jahren meine Midlife-Crisis und wollte mich unbedingt verjüngen. Aber irgendetwas hat nicht funktioniert. Vielleicht, weil Rosinante gerade eine Holzwurmkur hinter sich hatte und noch nicht ganz fit war. Auf jeden Fall hat sich lediglich mein Haar verjüngt. Ich hatte plötzlich wieder volles, kräftiges, braunes Haar. Aber die Freude darüber währte nur kurz. Der Zauber war zu schwach und nach drei Tagen kamen meine grauen Haare zurück. Seitdem ändern sie ihre Farbe, wie sie Lust und Laune haben. Mittlerweile finde ich es aber außerordentlich amüsant!«, stammelt sie sichtlich verlegen.

Zur Bestätigung blinken die Haare wie eine Lichterkette, worüber beide herzhaft lachen müssen. J.J. entgeht jedoch nicht, dass ihrer Großmutter dieses Thema sehr peinlich ist.

»Kannst du deine Haare nicht einfach wieder ändern? Färben oder so?«, fragt sie vorsichtig.

Oma Vettel denkt einen Moment nach und sieht sie dann traurig an.

»Nein. Es funktioniert nichts mehr. Es ist doch auch keine Tragödie, das bisschen blinken! Schau dir unsere Halfies an. Das ist doch viel schlimmer! Ich versuche mein Bestes, um die richtigen Zaubersprüche zu finden, damit sie wieder normale Wesen werden. Aber das ist so gut wie unmöglich. Es ist mir erst ein Mal gelungen und seitdem kommen sie in mein Haus, weil sie hoffen, dass ich sie irgendwann erlösen kann.«

Oma Vettel seufzt und springt plötzlich hoch.

»Komm mal mit, Kindchen. Ich möchte dir etwas zeigen. Damit hast du schon als kleines Mädchen gern gespielt!«

J.J. geht neugierig hinter ihrer Großmutter her, die hinauf in ihr Schlafzimmer geht, das sich eigentlich nicht von ihrem unterscheidet. Nur dass Vettels Möbel aus massivem Holz gefertigt wurden und es noch ein extra Zimmer für ihre Hüte gibt. Unter dem Fenster steht eine alte Frisierkommode, an die sich J.J. vage erinnern kann. Sie setzt sich auf den Stuhl, vor dem geschwungenen Spiegel, und betrachtet die Dinge auf dem Schränkchen. Sie berührt sie leicht und erinnert sich, wie sie sich hier als kleines Mädchen geschminkt und gepudert hat.

»Ich habe Schauspielerin gespielt und mich ganz und gar auf die Maske konzentriert.«

J.J. sieht im Spiegel, dass ihre Großmutter sie wehmütig anlächelt, während sie ihr eine silberfarbene Haarbürste reicht. Sie nimmt die sehr wertvoll aussehende Bürste und betrachtet sie.

»Na, kennst du die noch?«, fragt Oma Vettel leise.

J.J. zuckt mit den Schultern.

»Ich kann mich nicht an sie erinnern«, antwortet sie ehrlich.

»Vor etlichen Jahren habe ich sie auf einer Tauschbörse gegen diese hysterische Nagelfeile eingetauscht. Die war immer total zänkisch. Einmal hatte sie derart schlechte Laune, dass sie mir meine Fingernägel so spitz wie Stecknadeln gefeilt hat! Das waren richtige Waffen! Meine Cousine Beatriza hat sie mir mal zu Weihnachten geschenkt. Da wusste ich, dass sie mich nicht leiden kann! Aber diese Bürste hier, die ist etwas Besonderes. Na los, probier sie aus!«

J.J. stutzt und fährt sich langsam durch das Haar. Aber es passiert nichts Ungewöhnliches. Aus reiner Höflichkeit kämmt sie noch ein bisschen weiter und sieht ihre Großmutter fragend an.

»Du musst dir vorstellen, was du für Haare haben möchtest! So funktionieren Zauber, Jezabel! Über gute Imagination!«, raunt ihr Oma Vettel zu.

J.J. überlegt einen Moment und schließt die Augen. Sie denkt an zwei Meter lange, rote Locken, die sanft ihren Kopf umschmeicheln. Sie öffnet die Augen und fährt mit der Bürste durchs Haar. Verblüfft stellt sie fest, dass die Strähnen, die die Bürste berührt, sich verändern. Sie verlängern sich stufenweise und färben sich tiefrot. Nach ein paar Minuten sieht sie verblüfft in den Spiegel und pfeift, da nun eine zwei Meter lange Lockenmähne ihr Haupt krönt.

»Das ist ja total abgefahren! Das ist genau das richtige Geschenk für Zoé! Da könnte sie jeden Tag eine andere Frisur tragen«, jubelt sie los.

Sie fährt sich erneut durchs Haar und probiert verschiedene Looks aus. Schwarzer Afrolook, weiße Haare, blonder Stufenschnitt, brauner Pagenkopf, blauer Pferdeschwanz. Ihre Großmutter steht lachend hinter ihr und beobachtet das Schauspiel fasziniert.

»Kann ich die langen roten Locken behalten?«

Oma Vettel schüttelt den Kopf, während sie immer noch herzhaft lacht.

»Nein! Du bist noch keine von uns. Erst wenn du eine vereidigte Hexe bist, halten die Zauber auch bei dir. Das ist auch gut so! Als Kind hast du dir mal rosa Zuckerwattehaare gezaubert. Wir brauchten einen ganzen Tag, um den Hunderten Fliegen das Leben zu retten, die sich unglücklicherweise darin verfangen hatten!«

J.J. legt die Bürste enttäuscht zurück und schmollt.

»Das sind ja strenge Regeln! Erst entscheiden, ob gut oder böse, dann gibt´s Leckerchen!«

Oma Vettel nimmt dem enttäuschten Teenager die Zauberbürste ab und kichert. Sie beschließt sich etwas umzusehen und schlendert durch die Endlosreihen von Kleiderständern, an denen überwiegend knallbunte Hosenanzüge mit den verrücktesten Mustern hängen.

J.J. ist von der Vielfalt beeindruckt.

»Ich wusste nicht, dass man so viele verschiedene Modelle in solch wunderlichen Farben entwerfen kann«, sagt sie ehrfürchtig.

Hier und da nimmt sie ein besonders exotisches Exemplar heraus, dass sie nach sorgfältiger Begutachtung wieder zurückhängt. Im Hutzimmer stockt ihr der Atem. Nicht nur die Anzahl der Kopfbedeckungen ist erstaunlich. Die Größen dieser wundersamen Kreationen und deren ausgefallene Designs sind teilweise spektakulär.

Sie dreht sich zu ihrer Großmutter und zeigt auf die blinkende Haarsträhne.

»Deshalb trägst du diese auffälligen Hüte, oder? Damit die Menschen deine verzauberten Haare nicht sehen«, fragt sie die alte Dame, die im Türrahmen verweilt und zustimmend nickt.

J.J. nimmt ein besonders exotisches Exemplar von der Hutablage und setzt ihn auf. Es ist ein knallgelber Hut in einer außergewöhnlichen Knautschoptik, so als hätte ihn ein Bus mehrmals überrollt. Rundherum zieren ihn grünviolette Blumenknospen und an der Seite lauert eine überdimensionale Libelle. J.J. wackelt mit dem Kopf, da das Tier so echt anmutet, dass sie befürchtet, es könnte, ebenso wie Igor, jeden Augenblick auf und davon fliegen. Aber nichts der gleichen passiert.

Oma Vettel kommt dazu und erzählt mit stolzgeschwellter Brust:

»Er ist ein Meisterstück, nicht wahr! Catwire aus der linkischen Gasse hat ihn gefertigt. Dieser Hutmacher ist einfach der Größte seiner Zunft. Dieses Material ist unglaublich selten, da es aus den Kokonfäden der Knautschraupen gewonnen wird. Catwire erzählte mir einmal, dass es ein volles Jahr dauern würde, bis er einen der winzigen Kokons abgeerntet hätte. Und dieses Gelb muss man wirklich lange suchen! Die Libelle wurde übrigens von Hand angefertigt. Dieses Tier gilt in Xestha als Sinnbild der absoluten Schönheit.«